Die blaue Hand

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5

Jim sprang auf und starrte verwundert auf diese unerwartete Erscheinung. Einen Augenblick lang standen sie sich schweigend gegenüber, Eunice war starr vor Schrecken und Überraschung.

»Jim – Mr. Steele!« sagte sie atemlos.

Im nächsten Augenblick legte er den Arm um ihre Schultern.

»Was ist geschehen?« fragte er schnell. Seine Stimme klang heiser.

Sie zitterte und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« flüsterte sie.

»Darf ich fragen, was das alles zu bedeuten hat?« fragte jemand leise. Eunice drehte sich um.

Ein Mann stand in der offenen Tür. Im ersten Augenblick erkannte sie ihn nicht. Selbst Jim, der doch Digby Groat schon oft aus der Nähe gesehen hatte, wußte nicht, wer es war, denn er war in einen langen, weißen Mantel gehüllt, der bis auf die Füße reichte. Eine weiße Kappe war so eng über seinen Kopf gezogen, daß die Haare vollständig bedeckt waren, Weiße Gummibänder hielten seine Ärmel nach oben, und seine Hände steckten in braunen Gummihandschuhen.

»Darf ich Sie fragen, Miss Weldon, warum Sie mitten in der Nacht vor meiner Haustür stehen, in so leichten Kleidern, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet sind? Kommen Sie herein und erklären Sie mir alles«, sagte er, als er zurückging. »Grosvenor Square ist nicht an solche nächtlichen Vorführungen gewöhnt.«

Sie klammerte sich an Jims Arm und ging mit ihm in die Halle zurück. Digby schloß die Haustür.

»Mr. Steele, Sie machen Ihren Besuch zu sehr früher Morgenstunde!«

Jim erwiderte nichts. Er achtete nur auf Eunice, die von Kopf bis Fuß zitterte. Er führte sie zu einem Stuhl.

»Sicher sind hier nähere Erklärungen notwendig«, sagte er dann kühl, »aber meiner Meinung nach von Ihrer Seite, Mr. Groat.«

»Von meiner Seite?« Auf diese Aufforderung war Digby offenbar nicht vorbereitet.

»Meine Anwesenheit hier ist schnell erklärt«, sagte Jim. Ich stand eben vor dem Haus, als die Tür aufging und Miss Weldon erschrocken herauseilte. Vielleicht sagen Sie mir, Mr. Groat, wie es kommt, daß diese Dame so außer sich ist?« Eine eisige Drohung lag in seinem Ton, »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Ich arbeitete die letzte halbe Stunde in meinem Laboratorium. Erst als die Haustür geöffnet, wurde, kam mir zum Bewusstsein, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein müßte.«

Eunice war wieder zu sich gekommen, und die Farbe kehrte allmählich in ihr Gesicht zurück. Aber ihre Stimme zitterte noch, als sie erzählte, was ihr zugestoßen war. Die beiden hörten ihr aufmerksam zu.

Jim beobachtete die Haltung Digbys und war beruhigt, als er sah, daß Digby sich ebensowenig wie er selbst die rätselhafte Erscheinung erklären konnte. Als Eunice zu Ende war, nickte Groat.

»Der fürchterliche Schrei, den Sie in meinem Laboratorium hörten«, sagte er lächelnd, »ist bald erklärt. Niemand wurde verletzt, oder wenn er verletzt wurde, war es zu seinem eigenen Vorteil. Mein kleiner Hund hatte sich einen Glassplitter in die Pfote getreten, und ich war gerade dabei, ihn herauszuziehen.«

Sie seufzte erleichtert auf.

»Es tut mir leid, daß ich soviel Unruhe gemacht habe«, sagte sie bedauernd, »aber ich – ich fürchtete mich zu sehr.«

»Sind Sie sicher, daß jemand in Ihrem Raum war?« fragte Digby.

»Ganz sicher.«

Aus einem ungewissen Gefühl heraus sagte sie ihm aber nichts von der Karte mit der blauen Hand.

»Und Sie glauben, daß die Person vom Balkon aus in Ihr Zimmer gekommen ist?«

Sie nickte.

»Kann ich Ihr Zimmer einmal ansehen?«

Sie zögerte einen Augenblick.

»Ich möchte erst gehen und ein wenig aufräumen«, sagte sie, denn sie erinnerte sich daran, daß sie die graue Karte auf ihrem Bett hatte liegenlassen. Und sie wollte unter keinen Umständen, daß Mr. Groat sie lesen sollte.

Ohne weitere Aufforderung folgte Jim Steele Digby nach oben und ging mit ihm zusammen in den prachtvoll ausgestatteten Raum. Auch er war über die ungewöhnlich schöne Einrichtung erstaunt. Aber der Eindruck, den sie auf ihn machte, sprach nicht zugunsten Digby Groats.

»Es stimmt, das Fenster ist nur angelehnt. Sie hatten es vorher bestimmt geschlossen?«

Das Mädchen nickte. »Ja, ich besinne mich genau, daß ich das große untere Fenster zugemacht habe. Ich öffnete die beiden Oberfenster, um in der Nacht frische Luft im Zimmer zu haben.«

»Aber wenn diese Person vom Balkon hereinkam«, meinte Digby, »wie ist sie denn dorthin gekommen?«

Er öffnete das bis zum Fußboden reichende Fenster, trat hinaus und ging den schmalen Balkon entlang bis zu dem viereckigen Balkon über dem Hauptportal. Hier befand sich eine andere große Fenstertür, die auf das Hauptpodest der großen Treppe führte. Er versuchte, sie zu öffnen, aber sie war fest geschlossen. Er ging durch das Zimmer des Mädchens zurück. »Merkwürdig«, sagte er vor sich hin.

Erst hatte er angenommen, daß seine Mutter vielleicht das Schlafzimmer des jungen Mädchens nach irgendwelchen glitzernden Schmuckstücken abgesucht hätte. Aber die alte Frau war nicht gewandt und beweglich genug, um den Balkon zu erklettern, auch hatte sie nicht den Mut, mitten in der Nacht einen solchen Raubzug zu unternehmen.

»Ich habe den Eindruck, daß Sie geträumt haben müssen, Miss Weldon«, sagte er lächelnd. »Und nun gebe ich Ihnen den guten Rat, sich zu Bett zu legen und zu schlafen. Es tut mir leid, daß Ihr Aufenthalt in meinem Hause mit einem so unangenehmen Vorfall beginnt.«.

Er hatte bis jetzt das zufällige Erscheinen Jim Steeles nicht erwähnt und sprach auch nicht darüber, bis sie sich von Eunice verabschiedet hatten und wieder unten in der Halle standen.

»Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Sie gerade vor der Tür waren. Was machten Sie dort? Haben Sie etwa Daktyloskopie dort studieren wollen?«

»Ja, so etwas Ähnliches.«

Mr. Groat zündete sich eine Zigarette an.

»Ich dachte, Sie seien tagsüber so beschäftigt, daß Ihnen keine Zeit übrigbliebe, sich nachts auf dem Grosvenor Square herumzutreiben.«

»So, meinen Sie?«

Digby lachte plötzlich.

»Sie sind ein merkwürdiger Mensch«, sagte er. »Kommen Sie einmal mit, ich will Ihnen mein Laboratorium zeigen.«

Auch Jim hatte den Wunsch, es zu sehen, und die Einladung ersparte ihm die Frage, woher der schreckliche Schmerzenslaut gekommen war, den Eunice gehört hatte.

Sie gingen durch den langen Gang und traten durch die weiße, rohrgeflochtene Tür in einen großen Anbau. Die Wände waren fensterlos und mit weißen Kacheln bedeckt. Der Raum wurde tagsüber durch ein großes Oberlicht erleuchtet, das nachts von blauen Gardinen verhüllt war. Der Raum wurde durch zwei starke Lampen erhellt, die von der Decke herabhingen.

In der Mitte stand ein kleiner, eiserner Tisch, dessen Füße mit Hartgummirollen versehen waren. Die Platte war weiß emailliert, und merkwürdige Schrauben waren in Zwischenräumen auf der Oberfläche angebracht.

Jim interessierte sich weniger für den Tisch als für das Tier, das darauf geschnallt war. Sein Körper wurde durch zwei eiserne Federn darauf festgehalten, von denen sich eine, über den Hals und die andere über das Rückgrat spannte. Die vier Pfoten waren durch dünne Schnürbänder befestigt. Der rauhaarige Terrier sah Jim mit einem flehenden Blick an, der fast menschlich war. Jim hatte sofort Mitgefühl mit dem armen Tier.

»Ist das Ihr Hund?«

Digby sah ihn von der Seite an.

»Ja, er gehört mir. Warum fragen Sie?«

»Sind Sie denn mit Ihrer Operation fertig, und haben Sie ihm den Glassplitter aus der Pfote gezogen?«

»Nein, ich bin noch nicht ganz fertig«, sagte Digby kühl.

»Sie halten Ihren Hund aber nicht sehr sauber, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.«

Digby wandte sich um.

»Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?«

Jim ließ sich nicht beirren. Er sah Digby fest an:

»Ich habe den Eindruck, daß das nicht Ihr Hund ist, sondern ein armer Terrier, der sich verlaufen hat. Sie haben ihn vor einer halben Stunde auf der Straße gefunden und ihn in das Haus gelockt.«

»Nun – und?«

»Ich will Ihnen alle weitere Mühe ersparen und Ihnen sagen, daß ich Sie dabei beobachtet habe.«

Digbys Augen wurden klein.

»Ach, sehen Sie einmal an«, sagte er höflich. »Dann sind Sie also hinter mir hergewesen und haben mich beobachtet?«

»Das gerade nicht«, erwiderte Jim ruhig. »Ich habe nur meine Neugierde etwas befriedigt.«

Bei diesen Worten legte er seine Hand auf den Hund und streichelte seine Ohren freundlich.

Digby lachte.

»Nun, wenn Sie das alles wissen, dann kann ich Ihnen auch sagen, daß ich im Begriff bin, eine interessante Operation an dem Tier vorzunehmen. Ich will einen Teil seines Gehirns entfernen, um zu sehen –«

Jim schaute sich um.

»Wo haben Sie denn Ihre Betäubungsmittel?« fragte er freundlich. Es war ein böses Anzeichen, wenn er so leise und liebenswürdig sprach.

»Betäubungsmittel? Großer Gott, Sie werden doch nicht glauben, daß ich mein Geld verschwende, um einen Hund zu chloroformieren?«

Digbys Hand lag dicht vor dem Kopf des Hundes, und das unvernünftige Tier neigte sich vor und leckte ihm die Hand.

»Du verdammtes, schmutziges Vieh!« rief er und wischte seine Hand mit einem Tuch ab. Er nahm eine dichte Gummikappe und streifte sie über Mund und Nase des Tieres.

»Nun versuche noch einmal zu lecken«, sagte er lachend. »Nun kann das Vieh auch keinen Spektakel mehr machen. Sie sind ein wenig zu weichherzig, Mr. Steele. Sie wissen doch, daß die medizinische Wissenschaft ihre großen Fortschritte den Tierversuchen verdankt.«

 

»Ich kenne wohl den Wert der Vivisektion, aber sie muß unter gewissen Vorsichtsmaßregeln vorgenommen werden. Alle anständig denkenden Ärzte, die mit lebenden Tieren experimentieren, betäuben sie, bevor sie das Messer gebrauchen. Und alle Ärzte müssen ein Zeugnis und einen Erlaubnisschein von der Ärzteschaft haben, bevor sie solche Experimente machen dürfen. Wollen Sie so liebenswürdig sein, mir diesen Schein zu zeigen?«

Digbys Züge verdüsterten sich.

»Belästigen Sie mich hier nicht«, sagt er unwirsch. »Ich brachte Sie hierher, um Ihnen mein Laboratorium –«

»Und wenn Sie mich nicht mitgenommen hätten«, unterbrach ihn Jim, »dann wäre ich doch hereingegangen, denn ich hätte mich unter keinen Umständen mit Ihrer Erklärung zufriedengegeben. Ich weiß schon, daß Sie mir sagen wollen, daß der Hund sich nur fürchtete und nur so furchtbar heulte und winselte, als Sie ihm dieses schreckliche Eisenband um den Hals legten. Ich gebe Ihnen drei Minuten Zeit, Mr. Groat, den Hund von seinen Fesseln zu befreien.«

Digby war furchtbar wütend.

»Und wenn ich es nicht tue?« fragte er, schwer atmend.

»Dann werde ich mit Ihnen dasselbe machen, was Sie mit dem Hund gemacht haben. Glauben Sie nicht, daß ich dazu, imstande wäre?«

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

»Nehmen Sie jetzt die Klammern von dem Hund!«

Ihre Blicke maßen sich. Böser Haß glühte in Digbys Augen, aber dann fügte er sich, und in einer Minute war das Tier frei. Jim nahm den kleinen, zitternden Hund in seine Arme und streichelte ihn. Digby beobachtete die Szene düster, seine Zähne knirschten vor Wut.

»Ich werde Ihnen das nicht vergessen, und es soll Ihnen noch leid tun, daß Sie mich bei meiner Arbeit gestört haben!«

Jim sah ihn fest an.

»Ich habe mich noch niemals im Leben vor einer Drohung gefürchtet«, erwiderte er ruhig, »ich tue es auch jetzt nicht. Ich gebe gern zu, daß die Wissenschaft die Vivisektion braucht, aber nur unter gewissen Voraussetzungen. Leute Ihrer Art, die nur darauf bedacht sind, harmlose Tiere zu quälen, um ihre grausamen, wollüstigen Begierden zu befriedigen, bringen selbst die vornehmste Wissenschaft in Misskredit. Mr. Groat, ich habe Sie durchschaut, Sie haben nicht die leiseste Absicht, der Wissenschaft zu dienen oder der leidenden Menschheit zu helfen. Als ich in dieses Laboratorium trat«, sagte er, als er schon auf der Türschwelle stand, »habe ich zwei Tiere gesehen – das größere von beiden lasse ich zurück.«

Er schlug die Tür zu und trat in den Gang hinaus. Digbys Eitelkeit war maßlos gekränkt.

Plötzlich kam Jim wieder zurück zu ihm.

»Haben Sie die Tür nach der Straße geschlossen, als Sie nach oben gingen?«

Digby runzelte die Stirn und vergaß im Augenblick die Beleidigung, die Jim ihm zugefügt hatte.

»Ja – warum fragen Sie?«

»Sie steht weit offen. Vermutlich hat der mitternächtliche Besucher Ihr Haus verlassen.«

6

Im hellen Sonnenschein des Morgens vergaß Eunice ihre Furcht und schämte sich wegen ihres Betragens in der Nacht. Aber die graue Karte war eine Tatsache. Sie zog sie unter ihrem Kissen hervor und grübelte darüber nach. Es mußte jemand in ihrem Zimmer gewesen sein. Und der Betreffende war nicht ihr Feind. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr Herzklopfen verursachte. Konnte Jim –? Aber sie schüttelte den Kopf. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es Jim nicht gewesen war. Unmöglich konnte es seine Hand gewesen sein, die sie berührt hatte, denn sie kannte deren Form ganz genau und erinnerte sich zu gut an seinen warmen und starken Händedruck.

Sie ging zum Frühstück ins Speisezimmer und fand dort Mr. Groat, einen tadellos gekleideten Weltmann. Er war froh und guter Laune, und man konnte ihm nicht das geringste Zeichen von Ermüdung anmerken, obgleich er sich erst um vier Uhr zur Ruhe gelegt hatte.

Er begrüßte sie höflich.

»Guten Morgen, Miss Weldon, ich hoffe, Sie haben sich von Ihrem nächtlichen Schrecken erholt?«

»Es tut mir so leid, daß ich Ihnen Umstände und Mühe gemacht habe«, sagte sie bedauernd und lächelte ihn an.

»Ach, das ist nicht der Rede wert«, entgegnete er herzlich. »Ich war nur froh, daß unser Freund Steele zugegen war, der Sie beruhigen konnte. – Miss Weldon, ich muß mich noch bei Ihnen entschuldigen ich habe Ihnen gestern Abend eine kleine Lüge gesagt.«

Sie sah ihm voll ins Gesicht.

»So? Es wird nicht so schlimm gewesen sein«, meinte sie lachend.

»Ich erzählte Ihnen doch, daß ich meinem kleinen Hund einen Glassplitter aus der Pfote gezogen hätte. Es war aber in Wirklichkeit gar nicht mein Hund, ich hatte ihn auf der Straße aufgelesen und wollte ein kleines Experiment mit ihm machen. Sie wissen, daß ich Arzt bin?«

Sie zitterte.

»Also daher kamen die entsetzlichen Laute?« fragte sie etwas erschreckt.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, der Hund fürchtete sich nur. Ich hatte ihn überhaupt noch nicht verwundet und wollte es auch gar nicht tun. Ihr Freund hat mich dann aber überredet, den armen Kerl laufen zu lassen.«

Sie atmete erleichtert auf.

»Darüber freue ich mich sehr. Es wäre mir schrecklich gewesen, wenn Sie es getan hätten.«

Er lachte leise, als er seinen Platz bei Tisch einnahm.

»Steele dachte zuerst, daß ich meine Tierversuche mache, ohne die Tiere zu chloroformieren, aber das ist natürlich absurd. Es ist sehr schwer, Leuten, die nicht vom Fach sind, zu erklären, welche Fortschritte die medizinische Wissenschaft durch die Tierversuche gemacht hat. Natürlich werden alle diese Experimente durchgeführt, ohne daß die Tiere auch nur den geringsten Schmerz spüren«, sagte er leichthin. »Ich würde ebensowenig daran denken, einen kleinen Hund zu verletzen, als Sie mit dem Messer zu schneiden.«

»Davon bin ich auch überzeugt«, sagte sie dankbar.

Digby Groat war ein schlauer Mann. Er wußte genau, daß Jim wieder mit Eunice zusammentreffen und ihr von seinem Erlebnis im Laboratorium auf seine Art erzählen würde. Es war daher notwendig, daß er ihr die Geschichte zuerst mitteilte, denn er wollte sie nicht irgendwie verletzen, sondern in möglichst gute Beziehungen zu ihr kommen. Er hatte sie zu seinem eigenen Vorteil und zu seinem Amüsement in das Haus gebracht, und er erkannte jetzt, daß sie noch viel schöner und begehrenswerter war, als er sich jemals vorgestellt hatte.

Digby war ein Kenner weiblicher Schönheit und war eigentlich vor dem Frühstück etwas bange gewesen, denn das schöne Aussehen der Frauen verträgt selten helles Tageslicht. Er war noch niemals wirklich verliebt gewesen, obgleich er schon viele Frauen kennengelernt und wieder verabschiedet hatte. Aber Miss Weldon hatte von allen bis jetzt den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht. Sicher würde sie ihm einige Wochen die Langeweile verkürzen und ihn den grauen Alltag vergessen lassen, bis wieder eine neue Sensation kam.

Die Probe fiel glänzend für sie aus. Ihre zarte Haut, durch kein Verschönerungsmittel berührt, war fleckenlos rein, ihre glänzenden Augen strahlten, und ihr ganzes Aussehen sprach von Gesundheit und Natürlichkeit. Ihre Hände waren vollkommen.

Eunice selbst fühlte sich weder von ihm angezogen noch durch ihn abgestoßen. Digby Groat war für sie einer der vielen, denen man im Leben begegnet, die man sieht oder nicht sieht, die interessant oder unangenehm wirken können. Mit einigen wird man vorübergehend bekannt, spricht mit ihnen, einige sieht man nur im Vorübergehen, und sie verschwinden aus dem Gesichtskreis, um nie wieder aufzutauchen.

»Meine Mutter kommt niemals zum Frühstück herunter«, erwähnte Digby im Laufe der Unterhaltung. »Glauben Sie, daß Ihre Beschäftigung Sie befriedigen wird?«

»Ich weiß noch nicht, worum es sich handelt.«

»Meine Mutter ist ein wenig sonderbar, ich möchte fast sagen, exzentrisch. Aber ich glaube, Sie sind verständig genug, um mit ihr fertig zu werden. Die Arbeit wird in der ersten Zeit gerade nicht sehr schwer sein. Ich hoffe, daß Sie später vielleicht fähig sein werden, mir bei meinen anthropologischen Studien zu helfen.«

»Das klingt schrecklich wichtig. Was bedeutet das?«

»Ich studiere Gesichter und Köpfe«, sagte er leichthin, »und habe zu diesem Zweck viele Fotografien aus allen Teilen der Welt gesammelt. Mit der Zeit will ich eine Sammlung von über einer Million Bildern zusammenbringen. Diese Wissenschaft ist in unserem Lande bis jetzt sehr vernachlässigt worden. Die Italiener haben viel darin geleistet. Wahrscheinlich haben Sie schon von Mantegazza und Lombroso gehört?«

Sie nickte.

»Das sind die großen Kriminalisten, nicht wahr?« sagte sie zu seinem Erstaunen.

»Ach, Sie haben sich schon etwas damit beschäftigt?«

»Das ist sehr verlockend für mich!« Sie sah ihn begeistert an.

»Ich würde Ihnen sehr gern bei dieser Arbeit helfen, wenn Ihre Mutter nicht zu viel Arbeit für mich hat.«

»Die wird Ihnen schon freigeben können.«

Ihre Hand lag auf dem Tisch ganz nahe bei der seinen, und er war in Versuchung, sie zu streicheln. Aber er beherrschte sich und berührte sie nicht. Er wußte menschliche Charaktere gut und schnell zu beurteilen. Wenn es eine andere Frau gewesen wäre, hätte er seine Hand liebenswürdig auf die ihre gelegt; sie hätte verwirrt gelacht, die Augen niedergeschlagen, und das übrige hätte sich dann schon gefunden. Aber bei Eunice durfte er nicht so vorgehen, sonst würde sie wahrscheinlich heute Abend nicht mehr im Hause sein. Aber er konnte ja warten, und sie war es auch wert, daß man auf sie wartete, denn sie war wirklich entzückend. Die halbe Freude des Lebens liegt in der Jagd nach Vergnügen, und die Jagd danach ist nur eine Form heftigen Vorgenusses. Manche Menschen finden die größte Befriedigung darin, sich in ihrer Phantasie Freuden auszumalen, die früher oder später in Erfüllung gehen müssen, und Digby Groat gehörte zu diesen.

Als sie aufschaute, begegnete sie einem seiner brennenden Blicke und errötete. Mit Überwindung sah sie ihn noch einmal an; aber nun war nichts Ungewöhnliches mehr an ihm zu sehen.

7

Die ersten Tage in ihrer neuen Stellung waren eine harte Probe für Eunice Weldon.

Sie beklagte sich am dritten Tag während des Frühstücks bei Digby, daß Mrs. Groat ihr überhaupt nichts zu tun gebe.

»Ich fürchte, daß ich hier überflüssig bin«, sagte sie. »Es ist nicht recht, daß ich unter diesen Umständen Gehalt von Ihnen annehme.«

»Warum denn?« fragte er schnell.

»Ihre Mutter zieht es vor, ihre Briefe allein zu schreiben. Außerdem scheint ihre Korrespondenz wenig umfangreich zu sein!«

»Ach was, Unsinn!« erwiderte er scharf. Als er aber sah, daß er sie durch seinen Ton beleidigte, sprach er liebenswürdig weiter. »Meine Mutter ist nicht daran gewöhnt, daß man ihr hilft, sie ist eine der Frauen, die alles allein tun wollen. Deshalb sieht sie ja auch so angegriffen und alt aus, weil sie sich so sehr abgearbeitet hat. Es gibt hundert Aufgaben, die sie Ihnen übertragen könnte. Aber Sie müssen es der alten Frau zugute halten, Miss Weldon. Es dauert lange Zeit, bevor sie Zutrauen zu fremden Menschen faßt.«

»Das kann ich verstehen«, erwiderte sie und nickte.

»Meine arme Mutter ist ganz auf sich beschränkt«, meinte er lächelnd, »aber ich bin sicher, daß sie Ihnen noch genügend zu tun gibt, wenn sie Sie erst kennenlernen wird.«

Nach dem Frühstück ging er gleich in das kleine Wohnzimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht dort, sondern in ihrem Ankleidezimmer, wo sie dicht am Kamin neben einem offenen Feuer saß. Er schloß die Tür sorgfältig und ging zu ihr hinüber. Sie schaute ihn furchtsam an.

»Warum gibst du dem Mädchen nichts zu tun?« fragte er. scharf.

»Ich habe doch nicht so viel zu tun«, entgegnete sie weinerlich. »Hör, Digby, das ist eine ganz überflüssige Ausgabe, ich kann sie gar nicht leiden.«

»Du wirst ihr von heute ab Arbeit geben – ich möchte dir das nicht noch einmal sagen müssen!«

»Sie wird mich nur ausspionieren. Du weißt doch, daß ich seit Jahren keine Briefe mehr geschrieben habe, mit Ausnahme des Briefes an den Rechtsanwalt, den ich auf deine Veranlassung hin schrieb.«

»Also du wirst ihr Arbeit geben«, wiederholte Digby Groat. »Hast du mich verstanden? Lasse sie doch alle die Rechnungen durchsehen, die du in den letzten Jahren bekommen hast. Sie soll sie sortieren und alle Ausgaben sorgfältig in ein Buch eintragen. Auch deine Bankabrechnungen kannst du ihr geben. Sie soll die Schecks damit vergleichen. Verdammt noch einmal – wenn du nur wolltest, hättest du wirklich genug für sie zu tun! Das kannst du doch wahrhaftig veranlassen; es ist schauderhaft, daß ich dich immer beaufsichtigen muß!«

 

»Ich will es tun, Digby«, erwiderte sie schnell. »Du bist wieder recht hart und böse zu mir. Ich hasse dies ganze Haus!«, rief sie plötzlich heftig. »Ich hasse die Leute hier im Hause. Heute morgen habe ich in ihr Zimmer gesehen, das sieht ja aus wie ein Palast. Es muß ja Tausende von Pfund gekostet haben, nur diesen Räum einzurichten. Das ist doch einfach eine Sünde, so viel für ein einfaches Mädchen auszugeben!«

»Das geht dich gar nichts an! Du sollst ihr für die nächsten vierzehn Tage Arbeit geben!«

Eunice war überrascht, als Mrs. Groat sie rufen ließ.

»Ich habe etwas für Sie zu tun, Miss – ich kann mir Ihren Namen nicht merken.«

»Eunice«, sagte das junge Mädchen lächelnd.

»Ich kann den Namen Eunice nicht leiden«, murmelte die alte Frau vor sich hin. »Die letzte hieß Lola, eine Ausländerin – ich war froh, als sie ging. – Haben Sie denn keinen anderen Namen?«

»Weldon ist mein Familienname. Sie können mich ›Weldon‹ oder ›Eunice‹ nennen, oder wie es Ihnen beliebt, Mrs. Groat.«

Die alte Frau räusperte sich.

Vor ihr stand eine große Schublade mit Schecks, die von der Bank zurückgekommen waren.

»Sehen Sie diese Papiere durch«, sagte sie, »und machen Sie irgend etwas damit. Ich weiß nicht, was.«

»Soll ich sie vielleicht an die Rechnungen heften, zu denen sie gehören?«

»Ja, das meine ich. Sie wollen es doch nicht hier machen? Aber es ist doch besser, daß Sie nicht damit aus meinem Zimmer gehen; ich wünsche nicht, daß die Dienstboten in meinen Abrechnungen herumschnüffeln.«

Eunice stellte die Schublade auf den Tisch, nahm die Rechnungen und die Abschnitte des Scheckbuches, holte sich eine kleine Flasche Leim und machte sich an die Arbeit. Ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk ihres verstorbenen Vaters, legte sie auf den Tisch, weil sie sie bei der Arbeit störte. Mrs. Groats habgierige Blicke waren sofort darauf gerichtet, und mit einem Male rückte sie näher.

Die Arbeit schien sehr umfangreich zu sein, aber Eunice ging methodisch vor, und als der Gong zu Tisch rief, war sie schon fertig.

»Bitte, Mrs. Groat«, sagte sie lächelnd, »ich habe alle Schecks aufgearbeitet.«

Sie stellte die Schublade beiseite und wollte ihre Armbanduhr wieder anlegen, aber sie war verschwunden. In diesem Augenblick öffnete sich die große Tür, und Digby Groat trat herein.

»Hallo, Miss Weldon«, sagte er zuvorkommend, »es ist Zeit zum Lunch. Hast du nicht den Gong gehört, Mutter? Du mußt Miss Weldon jetzt gehen lassen.«

Eunice schaute sich überall um.

»Haben Sie irgend etwas verloren?« fragte Digby schnell.

»Ich kann meine Armbanduhr nicht finden; ich habe sie vor einiger Zeit hier auf den Tisch gelegt, und sie ist jetzt nicht mehr da.«

»Vielleicht ist sie in der Schublade«, stammelte die alte Frau und vermied es, ihren Sohn anzusehen.

Digby schaute sie einen Augenblick an und wandte sich dann an Eunice.

»Würden Sie so liebenswürdig sein und Jackson den Auftrag geben, meinen Wagen um drei Uhr bereitzuhalten?« sagte er freundlich.

Er wartete, bis das Mädchen die Tür geschlossen hatte.

»Wo ist die Uhr?« fragte er rau.

»Die Uhr, Digby?«

»Willst du die Uhr hergeben?« schrie er, und sein Gesicht wurde dunkel vor Wut.

Sie steckte die Hand zögernd in die Tasche und holte die Uhr hervor. »Sie sieht doch so schön aus«, stotterte sie.

Digby riß sie ihr aus der Hand.

Gleich darauf kam Eunice wieder zurück.

»Wir haben sie gefunden«, sagte Digby lächelnd. »Sie war unter den Tisch gefallen.«

»Ich dachte, da hätte ich auch nachgesehen. Sie ist nicht sehr wertvoll, aber sie dient einem doppelten Zweck.« Sie legte die Uhr um ihr Handgelenk.

»Welchen anderen Zweck hat sie denn noch, als die Zeit anzugeben?« fragte Digby.

»Ich verdecke damit eine häßliche Narbe«, sagte sie und zeigte ihr Handgelenk. Er sah einen runden, roten Fleck, etwa so groß wie ein Halbschillingstück, der wie eine alte Brandnarbe aussah.

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Digby, als er darauf schaute. Plötzlich hörte er einen unterdrückten Aufschrei seiner Mutter. Sofort wandte er sich nach ihr um und blickte in ihr verzerrtes Gesicht. Ihre Augen starrten auf Eunice.

»Digby, Digby!« schrie sie mit gebrochener Stimme. »O mein Gott!«

Sie fiel über den Tisch, und bevor er sie erreichen konnte, war sie auf den Boden gesunken.

Er beugte sich über seine Mutter und wandte sich dann langsam zu dem erschrockenen Mädchen.

»Sie hat sich so über die kleine Narbe auf Ihrer Hand aufgeregt«, sagte er langsam. »Was bedeutet das?«

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