Edgar Wallace - Gesammelte Werke

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Am nächsten Morgen wachte sie wieder mit dem Gedanken an Monk's Chase und den kleinen Bücherschrank auf. Am Nachmittag faßte sie einen Entschluß. In ihrem Besitz befand sich auch der Schlüssel der hinteren Tür ...

4

Nachdem Hausmeister Stimmings das große Tor von Monk's Chase für die Nacht mit Riegeln und Ketten geschlossen hatte, berichtete er seinem Herrn, daß der Himmel seine Schleusen geöffnet habe. Doch der zeigte wenig Interesse für diese Mitteilung. Den ganzen Nachmittag hatte es schon geregnet, und beim Abendessen war das Unwetter heftig geworden. Es goß in Strömen. Unterhalb Lower Oaks hatte sich in der Talsenkung ein Teich gebildet. Nur die Mitte der Fahrstraße ragte daraus hervor. In den Gräben zu beiden Seiten flossen Gießbäche, die von den Hügeln von Black Wood kamen und sich vor dem Pförtnerhaus zu einem kleinen See ansammelten.

Die Nacht war pechschwarz, und man hörte nichts als das Pladdern des niederfallenden Wassers.

Der Postomnibus von Worplethorpe fuhr langsam durch den plätschernden Regen. Das Keuchen seines alten Motors gab eine melancholische Begleitung zu dem Quietschen der Reifen auf der nassen Straße.

Unter einem Baum zog der Chauffeur die Bremsen an. Die Tür des alten Wagens klappte auf, und eine schlanke Gestalt stieg heraus.

Es war ein Mädchen, das von Kopf bis Fuß in einen glatten, schwarzen Regenmantel eingehüllt war. Sie hatte die Kapuze bis zu den Augen heruntergezogen, so daß man in dem Scheinwerferlicht nur wenig von ihrem Gesicht sehen konnte.

»Ich danke Ihnen, das genügt«, sagte sie. »Vielleicht können Sie mich auf Ihrer Rückfahrt wieder mitnehmen. Ich werde auf jeden Fall hier warten.« Der Chauffeur neigte sich vor.

»Wollten Sie nicht nach Monk's Chase – Miss? Ich kann Sie doch bequem bis vor die Haustür fahren. Wenn Sie gehen, werden Sie durch und durch naß werden.«

»Nein, ich danke Ihnen«, sagte sie hastig. »Ich möchte nicht das ganze Haus aufwecken.«

Sie schritt schnell aus, und der Fahrer zuckte die Achseln, als sie an ihm vorbeiging.

Das Pförtnerhaus war leer und verlassen. Die eisernen Türen waren leicht angelehnt. Sie konnte sich erinnern, daß früher hier der alte Gärtner gewohnt hatte, aber er war gestorben, als sie noch zur Schule ging. Sie mußte bis zu den Knöcheln durch das Wässer waten und war froh, daß sie ihre hohen Gummischuhe angezogen hatte. Das war wenigstens ein guter Gedanke bei all den Plänen gewesen, die sie sich heute nachmittag überlegt hatte. Jetzt war die Mitte der Fahrstraße erreicht, die zum Haus führte. Sie empfand es sehr unangenehm, durch den strömenden Regen zu wandern. Die hohen Pappeln, die den Weg zu beiden Seiten einsäumten, boten ihr gar keinen Schutz.

Die Nacht war sehr dunkel. Als sie näher kam, hob sich vor ihren Augen die große Masse des Gebäudes undeutlich von den Hügeln des Hintergrundes ab. Das Haus selbst schien wie ausgestorben, nirgends war ein Licht zu sehen. Soviel sie wußte, zog sich Mr. Hallett abends frühzeitig zurück. Ihr Herz schlug wild, als sie den ovalen Rasenplatz überquerte und um den Ostflügel herum nach hinten ging.

Sie war nicht bei Verstand – das sagte sie sich alle paar Sekunden. Es war doch sinnlos, weiterzugehen. Diesen ganzen abenteuerlichen Plan auszudenken war Wahnsinn, und noch verrückter war es, ihn auszuführen. Sie stand jetzt vor der kleinen Hintertür und hielt den Schlüssel in ihrer zitternden Hand. Unheimlich erhoben sich vor ihr die grauen, mit Efeu bewachsenen Wände.

Aber wenn ihr die Kinderfrau die Wahrheit gesagt hatte und hinter der kleinen Tür in der Wand die Lösung aller Rätsel lag, war sie berechtigt, so zu handeln.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Nur schwer öffnete sich die Tür unter ihrem Druck. Sie zog eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit den schmalen, fliesenbelegten Gang ab, bevor sie die Tür schloß und sich geräuschlos in ihren Gummischuhen vorwärts bewegte. Sie stieg drei Steinstufen zu einer zweiten Tür hinauf. Auch diese ließ sich mit demselben Schlüssel öffnen. Jetzt kam sie in einen langen, breiten Korridor, der mit dicken Teppichen belegt war. In regelmäßigen Zwischenräumen standen hier kleine Statuen, alte Armsessel und Stühle – die übliche Ausstattung, die sie genau kannte.

Es hatte sich nichts geändert, seitdem sie das letztemal hier gewesen war. Alles war ihr vertraut, die verblichenen Porträts in den schweren Goldrahmen, die Gobelins, die einen Teil der Wand bedeckten, die langen, dunkelroten Übergardinen, die das Fenster am Ende des Ganges schmückten.

Nur gedämpft vernahm man hier das Tropfen des herabströmenden Regens. Sie konnte das schwere Ticken der altertümlichen Standuhr in der großen Halle hören. Irgendwo im Haus klapperte ein loser Fensterflügel im Sturm. Sie atmete tief auf, als sie schnell die lange Galerie entlangging. Dann wandte sie sich nach rechts und trat in die Halle. Wieder machte sie halt und lauschte. Sie schaute umher und versuchte, mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen. Gespenstisches Licht drang durch die langen, mit Eisengittern versehenen Fenster, die zu beiden Seiten des Haupteinganges lagen. Die große, gewundene Haupttreppe, die vom Erdgeschoß nach oben führte, konnte sie mehr ahnen als sehen. Sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um die Halle zu durchschreiten. Dann stand sie vor der Tür zur Bibliothek und drückte leise die Türklinke herunter.

Im Kamin brannte Feuer. Ein großer Armsessel verdeckte ihn, aber sie sah den roten Widerschein des Feuers an den Wänden und auf den Möbeln. Offenbar war der Raum leer. Sie erkannte den Stuhl und nickte unwillkürlich. Dort hatte sie als Schulmädchen immer zusammengekauert gesessen und romantische Geschichten verschlungen. Ihre Blicke streiften durch den Raum und blieben an dem kleinen Bücherschrank hängen. Sie biß die Zähne zusammen und ging schnell über den weichen Teppich. Zitternd nahm sie den kleinen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete ...

Leer! Mit offenem Mund starrte sie hinein.

Sie schrak auf und wäre fast umgesunken. Aus dem Stuhl stieg eine dünne Wolke bläulichen Rauchs auf.

»Wollen Sie nicht bitte die Tür schließen? Es zieht.«

Die Stimme klang sanft und gedämpft. Sie blickte starr zum Kamin hin und zog dann verzweifelt einen kleinen Browning aus ihrer Tasche.

»Rühren Sie sich nicht«, sagte sie. »Ich – ich habe eine Waffe.«

Aus dem Stuhl erhob sich ein schlanker, grauhaariger Herr. Ein Paar große, dunkle Brillengläser verdeckten sein schönes Gesicht. Zwischen den Zähnen hielt er eine große Pfeife. Er war im Abendanzug, jedoch war sein Rock aus schwarzem Samt.

»Kommen Sie und setzen Sie sich – kommen Sie ans Feuer«, sagte er. »Sie müssen naß sein.«

Sie zögerte und ging dann langsam näher, die zitternde Hand um die Pistole gekrampft.

»Rühren Sie sich nicht!« Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Dann hörte sie ein tiefes Lachen.

»Ich vermute, Sie haben einen Revolver oder etwas ähnlich Dramatisches in der Hand? Wie können Sie nur! Aber wollen Sie nicht wirklich die Tür schließen? Ich bin gegen Kälte sehr empfindlich.«

Sie ging zur Tür. Hier war eine Gelegenheit – sollte sie fliehen? In wenigen Sekunden konnte sie aus dem Haus sein. Aber er hatte sie gesehen, und es wäre ihrer unwürdig gewesen, diesen Weg zu gehen. Seltsam, daß die Frage der Würde in einem solchen Augenblick überhaupt in Betracht kommen konnte.

Die Tür schloß sich, und sie ging zu dem Kamin zurück. Er hatte sich wieder gesetzt, die Pfeife zwischen den Zähnen, das Gesicht der Glut zugewandt.

»Sie kamen durch die Hintertür? Ich hätte das Schloß ändern lassen sollen. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Sie zögerte.

»Ach, ich weiß, daß Sie eine Frau sind«, fuhr er mit seiner weichen Stimme fort. »Ich hörte das Rauschen Ihres Kleides, obwohl es natürlich ein Regenmantel sein wird. Was wünschen Sie?«

Sie feuchtete die Lippen an, ihre Kehle war ausgetrocknet. Zweimal setzte sie an, bevor sie sprechen konnte.

»Ich wollte etwas holen – das ich in diesem Zimmer vermutete. Nichts – Wertvolles ... für irgend jemand außer mir. Können Sie denn nicht sehen ... und erraten?«

Er lächelte leise.

»Ich kann wohl raten, aber nicht sehen. Ich bin blind.«

Er sagte das in so ruhigem, sachlichem Ton, daß sie eine Zeitlang diese Tatsache gar nicht begriff.

»Blind?« sagte sie dann leise. »Oh, ich bin ... Das tut mir sehr leid.«

Und doch war sie erleichtert. Er konnte sie nicht sehen – und würde sie also niemals wiedererkennen, wenn sie ihm noch einmal begegnete.

»Ich wollte Sie wirklich nicht berauben«, sagte sie. »Nur – ich – meine Verwandten verließen dieses Haus letzten Sommer und – ich ließ hier etwas zurück, von dem niemand außer mir etwas wissen sollte.«

Sie fühlte sich sicherer. Sie wußte, daß in den Sommermonaten Monk's Chase einer reichen amerikanischen Familie überlassen worden war.

»Ah, Sie gehören zur Familie Osborn, nicht wahr? Nun gut, gnädige Frau, nehmen Sie bitte das, was Sie suchen. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Sie sah noch einmal zu dem offenen Bücherschrank hinüber.

»Es ist schon fortgenommen worden«, sagte sie. »Und nun will ich wieder gehen, ja?«

Er erhob sich und schritt mit ihr quer durch den Raum. Seine Finger berührten die Möbel, an denen er vorbeiging. Sie wandten sich nach rechts, gingen durch die Halle und kamen zu dem kleinen Seitengang. Einen Augenblick stand er mit ihr außerhalb der Hintertür, und der Regen tropfte auf beide nieder.

»Gute Nacht«, sagte er. »Hoffentlich werden Sie nicht zu naß.«

Er wartete, bis er ihre eiligen Schritte nicht mehr hörte, dann wandte er sich um, verschloß und verriegelte die Hintertür und kehrte in die Bibliothek zurück.

 

Als er eintrat, machte er alle Lichter an und ging zum Kamin. Fünf Minuten lang saß er bewegungslos, seine Stirn lag in tiefen Falten. Dann stopfte er langsam seine Pfeife, entzündete sie, setzte die dunkle Brille ab, nahm eine Zeitung vom Stuhl auf und fuhr in seiner Lektüre fort, die durch das Knarren der Hintertür unterbrochen worden war. Und er las ohne Hilfe eines Glases die kleinsten Buchstaben.

»Arme Hope Joyner!« murmelte er zwischen den Rauchwolken. »Arme Hope Joyner!«

5

»Ich möchte dir die Wahrheit mitteilen«, sagte Hope verzweifelt. Dick Hallowell lachte.

»Ein löblicher Vorsatz«, meinte er. »Aber ich denke, ich kann es auch so aushalten. Was quält dich, Liebling?«

Er nahm ihre Hände in die seinen, und sie ließ sie ihm eine Sekunde lang.

»Du wirst nichts mehr von mir wissen wollen – wenn du alles erfahren hast«, sagte sie krampfhaft. »Erinnerst du dich an das, was Diana Martyn über mich gesagt hat?«

»Diana spricht so vieles über alle Leute, daß ich es nicht behalten kann«, sagte Dick lächelnd.

»Natürlich erinnerst du dich! Sie sagte, ich sei ein ›Niemand‹.«

»Das ist absurd«, sagte Dick. »Du bist doch da, bist ein reizendes, entzückendes Mädchen, das mich in seinem wunderschönen Salon zum Tee einlädt. Du bist genauso vorhanden wie das Hotel Ritz, das ich durch dein Fenster sehen kann.«

»Rede keinen Unsinn. Sie meinte, ich hätte keine Abstammung, keine Eltern ... Es bestände die Möglichkeit, daß ich ... ach, irgend etwas Schreckliches sein könnte, das du dir selber ausdenken magst. Du verstehst doch etwas von Heraldik und weißt, was schwarze Felder im Stammbaum bedeuten?«

»Also, das ist deine ganze Sorge?« fragte Dick. »Kommt es denn darauf überhaupt an? Schwarze Felder kommen in allen, selbst den besten Stammbäumen vor. Ich weiß nicht, ob in meinem nicht auch welche vorhanden sind.«

Daß er so ohne weiteres über diesen Punkt hinwegging, nahm ihr den Atem. Für einen Augenblick war sie erleichtert, im nächsten aber wieder voller Sorge.

»Ich weiß nicht, ob es auch bei mir zutrifft«, sagte sie. »Es ist schrecklich von dir, Dick, daß du so etwas glaubst.«

»Ich glaube nichts anderes von dir, als daß du das liebste Mädchen auf der ganzen Welt bist. Ich werde dich heiraten, meinen Militärdienst quittieren und sehr glücklich mit dir werden!«

»Sei doch bitte vernünftig, Dick. Siehst du denn nicht, in welch ungewisser Lage ich bin? Ich weiß nicht, woher ich mein Geld bekomme, ich weiß nicht, wer meine Eltern sind. Ich bin direkt ein – Niemand! Ich muß darauf zurückkommen. Früher machte mir das nichts aus, und ich kümmerte mich nicht darum, bis – nun, bis du in mein Leben kamst.«

Sie dachte ein wenig nach, ihre Brauen zogen sich zusammen, dann fuhr sie fort. »Ich will dir etwas erzählen.« Ohne ihr Vorgehen zu entschuldigen oder zu beschönigen, berichtete sie ihm von ihrem Besuch in Monk's Chase.

Dick hörte gespannt zu.

»Du bist doch ein unvorsichtiger Naseweis, daß du dich ohne Grund solchen Gefahren aussetzt«, sagte er. »Wer ist eigentlich Hallett?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nichts von ihm, nur daß er sehr reich und teilnahmslos ist, wenigstens soweit ich in Frage komme. Er besitzt einen großen Landsitz in Kent. Den größten Teil meiner Kindheit brachte ich dort zu.«

»Hast du ihn niemals gesehen?«

»Nie, er war immer auf Reisen, wenn ich in Monk's Chase war. Ich habe seine Rechtsanwälte gefragt, ob er irgendwie mit mir verwandt sei, aber sie haben mir nie etwas darüber mitgeteilt.«

»Er ist also nicht mit dir verwandt?« fragte Dick.

»Kaum. Er kannte meine Mutter – ich habe die Vermutung, daß eine romantische Geschichte hereinspielt, aber ich konnte ja nie mit Mr. Hallett darüber sprechen. Er ist einer der Zeugen unter dem Testament meines Vaters – wenigstens vermute ich das!«

»Hast du jemals das Testament gesehen?«

»Nein, Dick, ich habe überhaupt nichts gesehen. Ich weiß nur, daß ich ein sehr großes Einkommen beziehe, und wenn ich mit zweifelhaften oder schlechten Leuten zusammenkomme, erhalte ich von meinen Rechtsanwälten eine scharfe Warnung, in der mir mitgeteilt wird, daß ich eine unerwünschte Bekanntschaft gemacht habe. Sie schicken mir auch immer Carlows Liste zu.«

»Und hast du keine anderen Verwandten?«

»Keine«, antwortete sie ein wenig verstört. Aber dann lachte sie wieder. »Du siehst, daß ich ein Niemand bin.«

»Ich vermute, du wirst von deinen Rechtsanwälten meinetwegen auch einen Brief bekommen«, bemerkte er. »Wenn ich auch selbst keinen Anlaß gebe, so habe ich doch sehr unerwünschte Verwandte!«

Er dachte noch über diesen letzten Punkt nach, als er Piccadilly hinunterging, und es war kein Zufall, wie es zuerst schien, daß er seinem Bruder begegnete, als er den Platz betrat. Graham Hallowell sah nicht mehr wie ein heruntergekommener Umhertreiber mit abgetretenen Absätzen aus. Er war tadellos nach der neuesten Mode gekleidet und von den Spitzen seiner Lackschuhe hin bis zum grauen Zylinder ein Bild äußerster Vornehmheit. Einen Augenblick war Dick sprachlos, dann aber mußte er lächeln und wollte vorbeigehen. Doch Graham hielt ihn an.

»Wenn es dir nicht zu unangenehm ist, dich mit einem früheren Sträfling sehen zu lassen, möchte ich ein paar Worte mit dir sprechen, Dick«, sagte er kühl.

»Das können wir gleich hier erledigen«, antwortete sein Bruder. »Aber wenn es sich um Geld handelt –«

Graham lächelte spöttisch. »Denkst du immer nur an Geld?« fragte er. »Nein, ich möchte mit dir über Diana reden.«

Das Lächeln verschwand von Dick Hallowells Zügen.

»Das ist ebenso zwecklos –«

»Sie möchte gern mit dir in gutem Einvernehmen stehen. Das ist alles«, sagte Graham. »Es hat keinen Zweck, dauernd auf dem Kriegsfuß miteinander zu leben. Kannst du denn nicht vergessen, daß sie jemand andern dir vorgezogen hat?«

»Wenn ich alles überdenke«, sagte Dick schnell, »so erinnere ich mich daran nur dankbar – es ist das einzige, wofür ich ihr zu danken habe.«

Er sah auf seine Uhr.

»Es tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr, Graham. In fünf Minuten muß ich einen Freund treffen. Aber du kannst Diana von mir bestellen, daß ich ihr nichts nachtrage. Deine Rederei vom Kriegsfuß ist sehr überflüssig. Ich wünsche aber nicht, sie zu treffen, nicht weil ich ihretwegen unglücklich bin, sondern weil sie für Dinge eintritt, die ich verabscheue – und weil sie falsch ist. Verglichen damit ist es ja kaum der Rede wert, noch die Untreue zu erwähnen.«

Mit einem Kopfnicken ging er weiter. Graham blieb auf dem Bürgersteig stehen und sah ihm nach, wie er die Straße überquerte und in der Menge verschwand.

Diana erwartete Graham Hallowell in ihrem Empfangszimmer. Mit feinem weiblichen Instinkt fand sie bald heraus, daß die beiden Brüder sich getroffen hatten.

»Er war wie gewöhnlich unfehlbar wie Gott selbst«, sagte Graham aufgebracht, als er sich in einem Sessel niederließ und in seiner Tasche nach der Zigarettendose suchte. »Er hat dir vergeben, aber er wünscht, nicht mehr mit dir in Berührung zu kommen.«

»Was hattest du denn erwartet?«

»Ich dachte, es würde leichter sein, wenn wir wieder zusammenkämen, aber der Mensch ist hart wie Stein.«

Sie wippte unruhig mit einem Fuß hin und her und beobachtete ihn scharf.

»Du bist ein Mann«, sagte sie. »Hast du denn mit ihm über eine Unterstützung gesprochen?«

Graham Hallowell lachte rauh.

»Unterstützung? Was glaubst du wohl, was Dick dazu gesagt hätte! Diese Frage hat er gleich von vornherein abgeschnitten. Aber abgesehen davon werde ich viel Geld verdienen, ohne irgendwie Gefahr zu laufen, wenn Trayne mich wirklich für eine Sache braucht.«

Diana biß sich nachdenklich auf ihre Lippen.

»Was ist das für eine Sache?« fragte sie.

»Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« Er war aufgeregt. »Trayne sagt dir doch nicht durchs Telefon, was er von dir will. Ich habe noch nie mit ihm in Verbindung gestanden. Du vielleicht schon, Diana?«

Sie ging der Frage aus dem Weg.

»Er ist sehr freigebig«, gab sie zu, »und sehr gefährlich.«

»Warum gefährlich?« fragte er schnell.

»Ich glaube bestimmt, daß Leute wie er gefährlich sind«, sagte sie noch in Gedanken. »Die Arbeit, die ich einmal für ihn leisten sollte, war nicht sehr schwer, aber ich übersehe nun, daß sie für seine Pläne notwendig war. Es ist jetzt zwei Jahre her, da ersuchte er mich, Lord Firlingham zu einem seiner Spielklubs am Portland Place mitzunehmen. Ich hatte nur zu erwähnen, daß mir dort einige Leute bekannt seien. Wir sprachen auf dem Rückweg von der Oper dort vor. Firlingham verlor vierzigtausend Pfund beim Bakkarat in jener Nacht. Ich erfuhr es erst einige Tage später, dann als ich ihn verließ, gewann er dauernd. Die Vermutung, daß sie ihm Geld abgenommen hatten, kam mir erst, als ich zweitausend Pfund in Banknoten erhielt.«

»Zweitausend Pfund?« Er begann leise zu pfeifen. »Der Mann bezahlt wirklich gut.«

»Zuerst gefiel mir die Sache nicht«, sagte sie vergnügt, »aber Firlingham ist ein schrecklicher Kerl, einer der unangenehmsten Menschen, die ich je kennenlernte.«

Sie schaute auf die kleine Uhr, die auf dem Kamin stand.

»Wir müssen gehen.«

Graham schaute sie überrascht an. »Willst du auch zu Tiger?«

Sie nickte.

»Ich bin von dritter Seite aufgefordert worden, dich zu begleiten – es soll nicht mein Nachteil sein«, sagte sie trocken.

Nicht weit entfernt vom Soho Square liegen die schönen Gebäude des Mousetrap-Klubs (Mausefallen-Klubs), eines Vereins, dessen Mitgliederliste einige der berühmtesten Namen des Landes aufweist. Der Luxus dieser Räumlichkeiten und andererseits die wenig vornehme Lage deuteten auf etwas Außergewöhnliches. Man flüsterte allgemein davon, daß hier sehr hoch gespielt wurde; aber der Klub war besonders wegen seiner guten Küche und der äußerst niedrigen Preise bekannt.

Obgleich man wußte, daß hier gespielt wurde, hatte der Klub doch nie die Aufmerksamkeit der Polizei erregt. Ein- oder zweimal mischten sich hohe Beamte von Scotland Yard unter die Gäste, aber sie konnten nichts Auffälliges bemerken, höchstens, daß man Bridge zu fünfzig Pfund für hundert Punkte spielte. Und da die Frage, zu welchem Satz Bridge gespielt wird, eine rein interne Angelegenheit ist und höchstens das Klubkomitee etwas angeht, schritt man nicht ein. Wenn Bakkarat gespielt wurde, geschah es ohne offizielles Wissen der Klubleitung. Kein Fremder wurde zu diesen Sitzungen zugelassen, es sei denn, daß man seiner ganz sicher war. Niemals tauchte die Vermutung auf, daß das Spiel nicht einwandfrei sei, und doch gewann Mr. Trayne, der sowohl hoch setzte als auch manchmal die Bank hielt, unweigerlich.

Die Tischzeit war schon vorüber, als Diana mit Graham in das vornehme, ruhige Vestibül trat.

»Mr. Trayne befindet sich im Sekretariat«, flüsterte der grauhaarige Portier, und die Besucher folgten ihm über einen mit dicken Teppichen belegten Korridor nach der Rückseite der Gebäude. Der alte Mann machte vor einer Tür aus Rosenholz halt und klopfte.

Eine Stimme rief: »Herein!« Der Portier öffnete, trat zur Seite und ließ sie in das Zimmer eintreten. Dann schloß er die Tür wieder hinter ihnen.

Im Raum befand sich nur ein älterer Herr, der näher an Sechzig als an Fünfzig sein mochte. Gelassen beobachtete er die Besucher mit seinen klugen blauen Augen. Sein kurzgeschnittenes Haar war grau. Das glattrasierte, ausdrucksvolle Gesicht hatte keine Falten: Selbst wenn er saß, fiel seine Größe auf. Seine stattliche, kräftige Gestalt mit den breiten Schultern machte einen imponierenden Eindruck. Zwischen seinen blendend weißen Zähnen hielt er das Ende einer Zigarre. Fast wäre man versucht gewesen, diese Zähne für künstlich zu halten, aber dazu waren sie nicht regelmäßig genug. Das war Tiger Trayne, im Charakter mehr ein Löwe als eine Katze und weit menschlicher, wenn man ihm gegenüberstand, als Diana erwartet hatte.

Er erhob sich langsam, nahm die Zigarre aus dem Mund und legte sie in die Aschenschale.

»Willkommen in unserem Lager«, sagte er mit einem humorvollen Lächeln. »Sie sind Diana Martyn?«

Er sprach mit einer tiefen, wohltönenden Stimme. Die Worte kamen bedachtsam aus seinem Mund. Diana war noch nie mit jemand zusammengekommen, der sie so angenehm enttäuschte. Sie ahnte jetzt dunkel, wie dieser Herrenmensch trotz seiner vielen verbrecherischen Unternehmungen es immer vermeiden konnte, in einem Prozeß vor den Gerichtsschranken zu erscheinen. Sie erinnerte sich an alles, was Colley ihr von ihm erzählt hatte, an die Fallen, die man ihm stellte, an das klug ausgearbeitete System, das man erdachte, um ihn zu fangen. Die Detektive zweier Weltteile hatten sich bemüht, diesen Tiger zu fangen, aber er hatte sie alle zum besten gehabt.

 

»Sie müßten sich doch noch auf mich besinnen können, Mr. Trayne«, sagte Diana. Man konnte seine Zähne sehen, als er lächelte.

»Es gehört zu meiner Politik, mich auf niemand zu besinnen und selbst meine besten Freunde als Fremde zu behandeln, die mir jedesmal neu vorgestellt werden müssen. Das ist ein sehr vernünftiges Prinzip – Sie sollten es sich auch zu eigen machen.«

Er sprach zu ihr, aber auf Graham ruhten seine Blicke.

»Und Sie sind Mr. Hallowell? Bitte, nehmen Sie Platz. Wünschen Sie Kaffee?«

Er drückte auf einen Knopf, und einen Augenblick später gab er den Auftrag, obgleich weder ein Dienstbote noch ein Telefon zu sehen war. Von der Wand antwortete eine tiefe Stimme: »Ja, Sir.« »Ich habe dort einen kleinen Lautsprecher anbringen lassen, er ist in der Holztäfelung. Sie können ihn nicht sehen.«

»Fürchten Sie denn nicht, daß man Sie belauschen könnte?« fragte Diana interessiert. Aber er lachte.

»Ich kann nur belauscht werden; wenn ich es wünsche. Sie waren auf dem Land?«

Er sprach zu Graham, der genügend mit dem Jargon seiner früheren Kameraden vertraut war, um die feine Anspielung auf seine Gefängniszeit richtig zu verstehen.

»Ja«, sagte er kurz.

»Das ist traurig – sehr traurig.« Tiger Traynes Stimme klang mitfühlend. »Sie hätten nicht aufs Land zu gehen brauchen, wenn jemand für Sie gedacht hätte. Generale sind arme Schlucker, wenn sie selbst mit dem Bajonett kämpfen wollen. Und die klügsten und tapfersten Soldaten würden wiederum als Generale wenig taugen.«

Er reichte Graham eine Kiste Zigarren.

»Niemand kann erfolgreich Verbrechen begehen, wenn er sich nicht auf den Standpunkt der Polizei stellt. Er muß wie ein Detektiv denken und Pläne machen lernen. Ein gewöhnlicher Einbrecher, der einen Coup plant, sieht nur seine Beute und ist blind gegen die Gefahren der Entdeckung. Wenn er mit seiner Überlegung fertig ist, geht er so an die Arbeit, daß er sich überall verdächtig macht, so daß ihn selbst ein kurzsichtiger Amateur fangen kann. Moderne Schlachten werden durch Scheinangriffe gegen markierte Stellungen gewonnen.«

Sie unterbrachen ihn nicht, denn sie verstanden sofort – wenigstens Diana –, daß hier nicht ein geschwätziger Mann sprach, um sich selbst reden zu hören oder um seine Kenntnisse und Weisheiten bewundern zu lassen, sondern daß jedes Wort seine besondere Bedeutung hatte.

»Wenn ich im Begriff wäre, einen großen Diebstahl zu begehen oder auszudenken ... Jetzt kommt der Kaffee.«

Der verborgene Lift arbeitete geräuschlos, so daß die Besucher nichts hörten; als Tiger jedoch zur Wand ging und das Paneel zur Seite schob, stand ein Silbertablett mit dampfenden Tassen da. Er nahm es weg, setzte es auf den Tisch und schloß das Paneel durch Berühren eines Knopfes. Einen Augenblick hielt er den Kopf lauschend geneigt. Anscheinend war er befriedigt. Er nahm sich eine große Portion Sahne in seine eigene Tasse, rührte sie um und trank sie mit einem Zug aus.

»Wenn ich also einen großen Coup plante, der den Männern und Frauen, die daran mitarbeiten, sagen wir« – er machte eine Pause – »fünfzigtausend Pfund einbrächte, würde ich die Sache sehr sorgsam in allen Einzelheiten einstudieren. Ich würde den Mann sich darin üben lassen, leichte Leitern in die Höhe zu klettern, von einer bedeutenden Höhe herunterzuspringen und dabei wieder auf die Füße zu kommen. Ich würde ihn Exerziervorschriften lernen lassen für den Fall, daß er es mit Soldaten zu tun hätte, auch müßte er die speziellen Vorschriften und Gegebenheiten des Platzes kennen, den er aufsuchen soll. Über Flut und Ebbe müßte er genau Bescheid wissen ...«

»Was soll denn unternommen werden?« fragte Graham ungeduldig.

Ein kalter, ruhiger Blick Traynes traf ihn.

»Habe ich denn überhaupt von einem Unternehmen gesprochen?« fragte er höflich, aber vorwurfsvoll. »Ich streife nur einige Gesichtspunkte.«

Ein warnender Blick Dianas brachte Graham zum Schweigen.

»Ich saß heute morgen hier in meinem Büro«, fuhr Trayne fort, »und träumte. Ich weiß nicht warum. Es muß wohl daher gekommen sein, daß ich den Bericht über einen Kriminalfall in Old Bailey gelesen habe, der gestern verhandelt wurde. Man muß sich immer wieder über den geringen Verstand der Verbrecher wundern. Es handelte sich um einen Mann, der wegen eines unbeholfenen Einbruchs ins Zuchthaus kam. Die Sache brachte ihm noch nicht einmal hundert Pfund ein. Wie unlogisch, dachte ich. Mit kleinerem Risiko und derselben Energie hätte er fünfzigtausend Pfund machen können, ohne daß man ihn faßte. Fünfzigtausend Pfund«, sagte er nachdrücklich. »Das ist eine Menge Geld.«

Er machte wieder eine Pause, als ob er eine Bemerkung darüber erwarte. Aber Graham Hallowell war durch Diana gewarnt und schwieg.

»Bei einem gewöhnlichen Einbruch ist kein Ruhm zu ernten«, sagte Trayne, indem er wie abwesend durch das Fenster auf den Soho Square schaute. »Wäre ich ein Einbrecher, dann würde ich Wert darauf legen, den Bericht über meine Taten mit großen Buchstaben an erster Stelle in den Zeitungen veröffentlicht zu sehen. Ich würde etwas so Außerordentliches tun, daß die ganze Welt über mich spräche.«

Wieder hielt er inne und sah zuerst Diana, dann Graham durchdringend an.

»Es sind jetzt dreihundert Jahre her, daß einmal ein Stümper einen der bedeutendsten Diebstähle aller Zeiten versuchte. Er war ein Trinker und Renommist, dieser dumme Kerl, und hätte doch beinahe Erfolg gehabt, ohne Flugzeuge oder Motorboote und alle die anderen Hilfsmittel, die die moderne Technik heute einem Mann an die Hand gibt. Dieser Oberst Blood –«

Obwohl sich Diana vorgenommen hatte, vollständig ruhig zu bleiben, konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken. Auf Graham machte die Erwähnung dieses Namens anscheinend keinen Eindruck.

»Dieser Oberst Blood hatte einen ganz elenden Mißerfolg und hat ihn auch verdient. Ob er gehenkt wurde, weiß ich nicht, ich habe es vergessen. Wird einer gehenkt, weil er die Kronjuwelen stiehlt, so ...«

Graham Hallowell sprang auf. Schrecken und Erstaunen zeigten sich in seinen Gesichtszügen.

»Die – die Kronjuwelen?« stieß er erregt hervor.

»Ihr Wert beträgt – wollen wir sagen, ungefähr eine Million Pfund Sterling.« Tiger Trayne überhörte die Unterbrechung. »Der ideelle Wert ist unendlich viel höher. Eine verrückte Idee, werden Sie sagen? Dasselbe dachte ich auch, als ich mir die Frage zum erstenmal vorlegte. Welche Befriedigung könnte ein Mann haben – es sei denn, daß er sich die Krone von England selbst auf seinen häßlichen Kopf setzen wollte –, nicht um sich von seinen armseligen Untertanen bewundern zu lassen, sondern heimlich in einem dunklen, heißen Zimmer in Kishlastan, zu dem nicht einmal die Frauen seines Harems Zutritt haben –«

Auch Diana fiel wieder aus der Rolle.

»Meinen Sie den Fürsten von Kish –«

Eine Handbewegung ließ sie verstummen.

»Ich kenne keine Fürsten. Indien ist ein Land, um das ich mich nicht kümmere. Ich kleide nur einige Bruchstücke meiner Träume in Worte. Ideen eines Verrückten ..., aber Irre sind manchmal dem Genie nahe verwandt, und zuweilen werden ausgezeichnete Pläne in ihren sonst unbrauchbaren Hirnen geboren, besonders wenn sie von einer Leidenschaft besessen sind. Diese nehmen besondere Formen an. Manche Leute träumen nur von Weibern, manche nur von Macht. Ich kenne einen Mann, der Tag und Nacht auf nichts anderes als auf ein bestimmtes Kartenspiel versessen war. Ein anderer sammelte Porzellan und brach in Tränen aus, wenn ein Teller zerbrach. Andere wieder sind verrückt nach Juwelen und kostbaren Steinen –« Er seufzte. »Die menschlichen Begierden können nicht verallgemeinert werden, es gibt zu viele Möglichkeiten.« Nach einer Pause sagte er wieder: »Fünfzigtausend Pfund sind ein schönes Stück Geld, und das alles nur für einige Wochen Übung, sorgsame Befolgung von Instruktionen ... Praktisch kein Risiko ... Ein oder zwei eingeschlagene Schädel – natürlich Ihrer nicht ausgeschlossen –«, fügte er entschuldigend hinzu, »wenn sich das Merkwürdige ereignen sollte, daß Sie sich an einem solchen Abenteuer beteiligen würden.«

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»