John Flack

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4. Kapitel

Der Polizist, der an der Bennet Street Ecke Hyde Lane stand, hatte sein Reich für sich allein. Es war gegen drei Uhr an einem trüben Frühlingsmorgen; kein Lüftchen wehte, und es war unangenehm schwül. Irgendwo im Süden Londons entlud sich ein Gewitter; man hörte den Donner in unregelmäßigen Zwischenräumen grollen. Gute und Böse in Mayfair schliefen – mit Ausnahme von Mr. I. G. Reeder, dem Hüter des Gesetzes und dem Schrecken der Verbrecher. Der Schutzmann Dyer sah das gelbe Licht hinter dem Schiebefenster und lächelte wohlwollend.

Die Nacht war so still, daß er bei dem Geräusch eines Schlüssels in einem Türschloß über seine Schulter blickte, weil er glaubte, es käme von dem Hause direkt hinter ihm. Aber diese Tür blieb verschlossen. Dagegen sah er aber eine Frauengestalt auf der obersten Stufe des Treppenabsatzes fünf Häuser weiter weg erscheinen. Sie war spärlich bekleidet.

»Schutzmann!«

Die Stimme klang leise, gebildet und sehr dringlich. Er ging schneller auf sie zu, als man dies im allgemeinen von Polizisten gewöhnt ist.

»Irgend etwas nicht in Ordnung, Miß?«

Ihr Gesicht, er war erfahren genug in diesen Dingen, war »zurechtgemacht«; die Wangen waren stark geschminkt und die Lippen für jemand, der sich fürchtete, – überraschend rot. Er nahm an, daß sie unter normalen Verhältnissen hübsch war, konnte sich aber über ihr Alter kein Urteil bilden. Sie trug einen langen, schwarzen Schlafrock, der bis zum Kinn hinauf geschlossen war. Außerdem bemerkte er, daß die Hand, die sich am Treppengeländer festhielt, im Lichte der Straßenlampen funkelte.

»Ich weiß nicht... genau. Ich bin allein im Haus, und mir war, als... hätte ich etwas gehört.«

Drei Worte in einem Atem. Augenscheinlich war sie in großer Angst.

»Haben Sie keine Dienstboten im Hause?«

Der Schutzmann war überrascht und ein wenig unruhig.

»Nein. Ich bin erst gegen Mitternacht von Paris zurückgekommen – wir haben das Haus möbliert gemietet – und ich befürchte, die Dienstboten haben sich im Datum meiner Rückkehr geirrt. Ich bin Mrs. Granville Fornese.«

Er entsann sich dunkel dieses Namens, er mußte ihn irgendwann schon mal gehört haben – er klang vornehm, wie der Name einer hochstehenden Persönlichkeit. Und Bennet Street war eine Gegend wo »solche« Leute wohnten.

Der Polizist starrte forschend in den dunklen Vorraum.

»Wenn Sie Licht machen wollten, Madam, will ich mal nachsehen.«

Sie schüttelte den Kopf; er fühlte beinahe, wie sie zitterte.

»Das Licht ist nicht in Ordnung... und das hat mich ja so entsetzt. Als ich um ein Uhr zu Bett ging, funktionierte die Beleuchtung noch. Irgend etwas weckte mich auf... ich weiß nicht, was es war... ich schalte die Lampe auf meinem Nachttisch ein... und sie brennt nicht. Ich hatte in meiner Handtasche eine kleine Taschenlampe... die fand ich glücklicherweise und machte Licht.«

Sie hielt inne und zeigte ihre Zähne in einem gezwungenen Lächeln. Dyer sah, wie ihre dunklen Augen ins Leere starrten.

»Ich sah... ich weiß nicht, was es war... einen schwarzen Schatten, wie wenn jemand an der Wand entlang kroch. Auf einmal war er verschwunden... Und die Tür von meinem Zimmer stand weit offen... Und ich hatte sie doch zugemacht und abgeschlossen, als ich zu Bett ging.«

Der Schutzmann öffnete die Tür ganz weit und ließ den Schein seiner Lampe in den Gang fallen. An der Wand stand ein kleines Tischchen und auf diesem ein Tischtelephon. Er trat in die Halle und nahm den Hörer auf. Der Apparat funktionierte nicht.

»Ist das...«

Er hielt plötzlich inne und lauschte.

Irgendwo über sich hörte er ein schwaches aber anhaltendes Geräusch – das Knacken einer lockeren Diele. Mrs. Fornese stand immer noch in der offenen Tür, und er ging zu ihr zurück.

»Haben Sie einen Schlüssel für die Haustür?« fragte er, aber sie schüttelte ihren Kopf.

Er fühlte an der Innenseite des Schlosses, fand die Riegelsicherung und schob diese hoch.

»Ich muß von irgendwo anders telephonieren. Es ist besser, Sie ...«

Was war das Beste für sie? ... Er war ein einfacher Schutzmann und stand einer heiklen Situation gegenüber.

»Können Sie nicht einstweilen woanders hingehen ... zu Bekannten?«

»Nein,« sagte sie entschieden und fügte dann hinzu: »Wohnt denn nicht Mr. Reeder gegenüber? Irgendwer hat mir erzählt ...«

Im Hause auf der anderen Seite der Straße brannte Licht. Mr. Dyer sah unsicher nach dem erleuchteten Fenster. Es war allgemein bekannt, daß dort die elegante Wohnung eines Mannes war, der im Rang über dem Polizeioberst stand. Bennet Street Nr. 7 war vor kurzem in einzelne Wohnungen aufgeteilt worden, und in eine von ihnen war Mr. Reeder aus seiner Wohnung in der Vorstadt gezogen. Warum er gerade in dieser vornehmen und eleganten Gegend gemietet hatte, wußte kein Mensch. Die Verbrecherwelt hielt ihn für fabelhaft reich; zweifellos lebte er in guten Verhältnissen.

Der Schutzmann zögerte, suchte dann in seinen Taschen das kleinste Geldstück des Königreiches, ging über die Straße und warf den halben Penny gegen das Fenster – die Dame war in der Türschwelle stehen geblieben. Eine Sekunde später öffnete sich das Fenster.

»Entschuldigen Sie, Mr. Reeder, könnte ich Sie mal einen Augenblick sprechen?«

Der Kopf und die Schultern des Mannes verschwanden, und in sehr kurzer Zeit erschien Mr. Reeder in der Tür. Er war so vollständig angezogen, daß man glauben konnte, er hätte diese Aufforderung erwartet. Der Gehrock war fest zugeknöpft, der Hut saß auf seinem Hinterkopf und auf seiner Nase balancierte der Kneifer, durch den er niemals blickte.

»Irgend etwas nicht in Ordnung, Schutzmann?« fragte er freundlich.

»Könnte ich mal Ihr Telephon benutzen?... Da drüben wohnt eine Dame – Mrs. Fornese... sie ist ganz allein... hat jemand im Hause gehört... ich auch...«

Er hörte einen kurzen Schrei... einen Krach und fuhr herum. Die Tür von Nr. 4 war geschlossen und Mrs. Fornese verschwunden.

In sechs Sprüngen war Mr. Reeder über die Straße und an der Tür. Er bückte sich, drückte die Klappe des Briefkastens zurück und lauschte. Kein Geräusch als das Ticken einer Uhr... ein schwacher, seufzender Ton.

»Hm!« Mr. Reeder kratzte nachdenklich seine lange Nase. »Hm... wollen Sie mir, bitte, diese ganzen... hm... Vorgänge noch einmal erzählen?«

Der Beamte wiederholte die Geschichte mehr zusammenhängend.

»Sie sperrten das Schloß, damit es nicht zuschnappen konnte? Sehr vernünftig!« Mr. Reeder runzelte die Stirn. Ohne ein weiteres Wort ging er über die Straße und verschwand in seiner Wohnung. An der Rückwand seines Schreibtisches war ein kleines Fach, das er aufschloß. Er nahm einen ledernen Werkzeugbehälter heraus, rollte ihn auf, suchte drei kleine merkwürdige Stahlinstrumente, die beinahe wie kleine Haken aussahen, heraus, setzte einen in den hölzernen Griff und ging zu dem Schutzmann zurück.

»Ich fürchte, das ist... ich will nicht sagen ›gesetzwidrig‹, denn ein Mann in meiner Stellung ist nicht imstande, eine gesetzwidrige Handlung zu begehen... wollen wir sagen ›ungebräuchlich‹?«

Während der ganzen Zeit, in der er in leiser und wie um Verzeihung heischender Weise sprach, arbeitete er an dem Schloß herum, indem er das Instrument bald in dieser, bald in jener Richtung drehte. Endlich faßte der Haken, mit einem kleinen »Schnapp« drehte sich das Schloß, und Mr. Reeder stieß die Tür auf.

Er nahm die elektrische Taschenlampe ans der Hand des Polizisten und ließ einen weiten Lichtkreis durch die Vorhalle schweifen. Nichts rührte sich. Er leuchtete nach der Treppe und lauschte, mit gesenktem Haupte. Er vernahm keinen Laut und ging geräuschlos weiter in die Halle hinein.

Der Gang führte an dem Fuß der Treppe vorbei und endigte an einer Tür, die wahrscheinlich zu den Dienstbotenräumen im Hause führte. Zum Erstaunen des Schutzmanns war es diese Tür, die Mr. Reeder zuerst untersuchte. Er drehte den Türknopf, aber die Tür öffnete sich nicht; dann beugte er sich nieder und schielte durch das Schlüsselloch.

»Es war jemand... oben,« begann der Schutzmann mit achtungsvollem Zögern.

»Es war jemand oben,« wiederholte Mr. Reeder abwesend. »Sie hörten eine Diele knacken, glaube ich.«

Er ging langsam nach dem Fuß der Treppe zurück und blickte hinauf. Dann leuchtete er mit seiner Lampe auf den Fußboden der Vorhalle.

»Keine Sägespäne,« sagte er zu sich selbst, »das kann es also nicht sein.«

»Soll ich nach oben gehen, Sir?« fragte Dyer und hatte seinen Fuß schon auf der untersten Treppenstufe, als Mr. Reeder ihn mit einer Kraft, die man in einem so müde aussehenden Manne nicht vermutete, zurückriß.

»Lieber nicht, mein Freund,« sagte er fest. »Wenn die Dame oben ist, muß sie unsere Stimmen gehört haben. Sie ist aber nicht oben.«

»Denken Sie, daß sie vielleicht in der Küche ist?« fragte der verdutzte Polizist.

Mr. Reeder schüttelte traurig den Kopf.

»Leider versäumen unsere modernen Frauen ihre Zeit nicht in der Küche!« sagte er, und stieß einen ungeduldigen, glucksenden Laut aus, ob als Protest gegen das Seltenwerden der häuslichen Tugenden der heutigen Frauen, oder ob das ›tschk'd‹ einen anderen Grund hatte, war schwer zu sagen. Er war von seinen Gedanken völlig in Anspruch genommen.

Er leuchtete wieder nach der Tür.

»Das dachte ich,« sagte er, und seine Stimme klang erleichtert. »Da stehen zwei Spazierstöcke in dem Garderobenständer. Wollen Sie mir mal einen geben, Schutzmann?«

Der Beamte gehorchte verwundert und brachte Mr. Reeder einen langen Stock aus Kirschbaumholz mit gebogener Krücke, den er im Lichte der Lampe untersuchte.

 

»Verstaubt und von dem früheren Bewohner zurückgelassen. Die Spitze anstelle einer Zwinge beweist, daß er in der Schweiz gekauft wurde. Wahrscheinlich haben Sie kein Interesse für Detektivgeschichten und haben niemals von dem Manne gelesen, dessen Methode ich hier nachmache?«

»Nein, Sir,« erwiderte Dyer, der nichts von alledem begriff.

Mr. Reeder untersuchte den Stock noch einmal.

»Es ist jammerschade, daß es keine Angelrute ist,« sagte er. »Bleiben Sie hier stehen und rühren Sie sich nicht.«

Dann kroch er langsam auf den Knien die Treppe hinauf und fuchtelte dabei mit seinem Stock in der lächerlichsten Art und Weise hin und her. Er hielt ihn mit ausgestrecktem Arm in die Höhe und schlug beim Hinaufkriechen gegen unsichtbare Hindernisse. Er kroch höher und höher, und sein Schattenbild zeichnete sich scharf gegen den Schein der Lampe in seinen Händen ab. Der Schutzmann Dyer sah ihm mit offenem Munde zu.

»Könnte ich denn nicht ...«

Weiter kam er nicht. Eine ohrenbetäubende Explosion erfolgte. Die Luft war plötzlich mit Rauch- und Staubwolken angefüllt; er hörte das Krachen von Holz, und der beißende Geruch von etwas Brennendem kam zu ihm. Verwirrt und unfähig, sich zu bewegen, starrte er Mr. Reeder an, der auf einer Stufe saß und kleine Holzsplitter von seinem Rock absuchte.

»Ich glaube, Sie können jetzt ohne jede Gefahr heraufkommen,« sagte Mr. Reeder sehr ruhig.

»Was ... was war das?« stotterte der Schutzmann.

Der geschworene Feind aller Verbrecher staubte zärtlich seinen Hut ab, was aber Dyer nicht sehen konnte.

»Sie können heraufkommen.«

Mr. Dyer lief die Treppe hinauf und folgte dem anderen über den breiten Treppenflur, bis dieser stehenblieb und im Scheine der Lampe einen merkwürdig aussehenden und allem Anschein nach selbstangefertigten Selbstschuß betrachtete, dessen Mündung so durch das Treppengeländer gerichtet war, daß sie die Treppe deckte, die er heraufgekommen war.

»Quer über die Stufen,« erklärte Mr. Reeder eingehend, »war ein schwarzer Faden gespannt, so daß jeder, der an den Faden rührte oder ihn zerriß, den Selbstschuß zum Entladen bringen mußte.«

»Aber ... aber ... die Dame ...?«

Mr. Reeder hüstelte.

»Ich glaube nicht, daß sie noch im Hause ist,« sagte er in immer gleichem, freundlichem Ton. »Ich nehme vielmehr an, daß sie durch die Hintertür entwischte. Da ist doch ein Wirtschaftseingang, nicht wahr? Sie tut mir eigentlich leid – dieser kleine Zwischenfall ereignete sich zu spät für die Morgenausgaben, und sie wird leider bis zu den ersten Sportberichten warten müssen, bevor sie erfährt, daß ich noch am Leben bin.«

Der Schutzmann atmete tief auf.

»Ich glaube, ich muß das erst mal zu Rapport bringen, Sir.«

»Das glaube ich auch,« seufzte Mr. Reeder. »Und rufen Sie, bitte, Inspektor Simpson an und sagen Sie ihm, er soll hierherkommen, ich möchte ihn gern sprechen.«

Der Beamte zauderte wiederum.

»Halten Sie es nicht für besser, daß wir erst das Haus durchsuchen? ... Vielleicht haben sie die Frau aus dem Wege geschafft.«

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

»Da ist nicht eine einzige Frau aus dem Wege geräumt worden,« sagte er entschieden. »Das Einzige, was wirklich beseitigt worden ist, ist eine der Lieblingstheorien Mr. Simpsons.«

»Aber, Mr. Reeder, warum ist denn diese Dame an die Tür gekommen ...?«

Mr. Reeder tätschelte ihn wohlwollend auf den Arm – wie eine Mutter ihr Kind tätschelt, das eine närrische Frage stellt.

»Die ... hm ... Dame hat eine halbe Stunde an der Tür gestanden,« antwortete er sanft, »eine geschlagene halbe Stunde, mein lieber Freund, und hoffte – wider alle Hoffnung, wie man sich vorstellen kann – daß sie meine Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Ich habe sie nämlich von einem Zimmer aus beobachtet, das ... hm ... nicht erleuchtet war. Ich habe mich nicht sehen lassen, weil ich den .. hm ... lebhaften Wunsch habe, noch eine Zeitlang am Leben zu bleiben.«

Mit diesen dunklen Worten verschwand Mr. Reeder in seinem Hause.

5. Kapitel

Mr. Reeder hatte es sich bequem gemacht, trug ein Paar merkwürdig bemalte Sammetpantoffeln, eine Zigarette hing zwischen seinen Lippen, und er setzte dem Detektiv-Inspektor, der ihn in aller Frühe aufgesucht hatte, seine Gründe für gewisse Schlußfolgerungen auseinander.

»Ich nehme auch nicht einen einzigen Augenblick an, daß mein Freund Ravini die Hand dabei im Spiele hat. Er arbeitet nicht so ... hm ... fein, außerdem hat er wenig oder gar keine Intelligenz. Sie werden finden, daß dieser Schlag schon seit Monaten geplant ist, obwohl er erst heute ausgeführt wurde. Bennet Street Nr. 307 gehört einem alten Herrn, der hauptsächlich in Italien lebt. Er hat das Haus schon seit Jahren möbliert vermietet; erst seit einem Monat sieht es leer.«

»Sie nehmen also an, daß die Leute, wer sie auch immer sein mögen, das Haus gemietet ...«

Mr. Reeder schüttelte den Kopf.

»Sogar das bezweifle ich. Höchstwahrscheinlich haben sie eine Erlaubnis, das Haus zu besichtigen, und sind auf irgendeine Weise den Verwalter losgeworden. Sie wußten, daß ich heute Nacht zu Haus sein würde, weil ich immer zu Haus bin ... hm ... wenigstens meistens, seit ...« Mr. Reeder hustete verlegen. »Eine gute Bekannte von mir hat kürzlich London verlassen, und ich gehe nicht gern allein aus.«

Und zu Simpsons Schauder flog ein rosiger Schein über Mr. Reeders nüchternes Gesicht.

»Vor einigen Wochen,« fuhr er fort mit einem kläglichen Versuche, unbefangen zu erscheinen, »aß ich gewöhnlich auswärts, ging in ein Konzert, oder sah mir eines jener wundervollen Melodramen an, für die ich eine besondere Vorliebe habe.«

»Wen haben Sie in Verdacht?« unterbrach Simpson, der nicht mitten in der Nacht aus dem Bett gerufen worden war, um die Vorzüge von Melodramen zu erörtern. »Die Gregorys oder die Donovans?« Er nannte zwei Banden, die ausgezeichnete Gründe hatten, mit Mr. Reeder und seinen Methoden unzufrieden zu sein.

Mr. Reeder schüttelte seinen Kopf.

»Keine von beiden. Ich glaube, oder vielmehr: ich bin ganz sicher, daß wir für diese Sache hier auf alte Geschichten zurückkommen müssen.«

Simpson riß die Augen auf.

»Sie meinen doch nicht Flack?« fragte er ungläubig. »Der hält sich versteckt ... So bald fängt der nicht wieder an.«

Mr. Reeder nickte.

»John Flack. Wer denn sonst könnte ein solches Unternehmen geplant haben? ... Diese künstlerische Vollendung! Und dann, Mr. Simpson« – er beugte sich zu ihm und tippte ihm auf die Brust – »seit Flack nach Broadmoor geschickt wurde, ist kein größerer Einbruch mehr in London vorgekommen. In einer Woche werden Sie den größten von allen erleben. Die Quintessenz aller Einbrüche. Sein wahnwitziges Hirn bereitet ihn jetzt vor.«

»Er ist erledigt,« sagte Simpson stirnrunzelnd.

Mr. Reeder lächelte schwach.

»Wir wollen abwarten. Die kleine Affäre von heute Nacht ist ein Probeschuß – ein reines Nichts. Aber ich bin ganz froh, daß ich in diesen Tagen nicht ... hm ... auswärts esse. Andrerseits ist aber unser guter Freund Georgio Ravini dafür bekannt, nur auswärts zu speisen – würde es Ihnen etwas ausmachen, das Polizeibureau in der Vine Street anzurufen, ob dort Rapporte über einige Unglücksfälle eingelaufen sind?«

Vine Street, wo man über die Lebensweise von so manchen Leuten genau unterrichtet war, teilte sofort mit, daß Mr. Georgio Ravini die Stadt verlassen hätte; man nahm an, er wäre in Paris.

»Du lieber Himmel,« sagte Mr. Reeder in seiner nachlässigen, gleichgültigen Weise. »Das ist aber vernünftig von Georgio, und es wäre noch viel vernünftiger, wenn er ganz dort bleiben würde.«

Mr. Simpson stand auf und schüttelte sich. Er war ein starker, beherzter Mann, der diese Angewohnheit hatte.

»Ich will nach dem Präsidium gehen und Rapport erstatten,« sagte er. »Vielleicht ist es doch nicht Flack gewesen. Er ist der Anführer von einer Bande und kann ohne seine Leute nichts machen. Und die sind ja in alle Welt zerstreut, die meisten von ihnen in Argentinien ...«

»Ha, Ha!« lachte Mr. Reeder, aber ohne jedes Anzeichen von Belustigung.

»Worüber lachen Sie denn, zum Teufel?«

Der andere entschuldigte sich sofort.

»Das war mehr ein ... hm ... wenn ich so sagen darf ... ein ... hm ... skeptisches Lachen. Argentinien! Gehen denn Verbrecher wirklich nach Argentinien ... ausgenommen natürlich in den wunderbaren Romanen, die man in der Eisenbahn liest? Eine Überlieferung, mein lieber Mr. Simpson, die bis zu jenen alten Zeiten zurückgeht, wo zwischen den beiden Ländern keine Auslieferungsverträge bestanden. In alle Welt zerstreut! ... Möglich ... Ich warte auf den Tag, wo ich sie alle unter einem Dach zusammen habe. Das wird ein sehr angenehmer Morgen für mich sein, Mr. Simpson, wenn ich durch die Galerie laufen und durch die kleinen Judasse Beobachtungsklappe in den Zellentüren der Gefängnisse. blicken kann und sehe, wie sie Postsäcke nähen – es gibt keine beruhigendere Beschäftigung als Näharbeit! – In der Zwischenzeit passen Sie aber ja auf Ihre Banken auf – der alte John Flack ist siebzig Jahre alt und hat keine Zeit mehr zu verlieren. Die nächste Zeit, bevor viele Tage vergangen sind, wird es erleben, wie in der City von London Geschichte gemacht wird. Ich möchte wissen, wo ich Mr. Ravini finden kann?«

***

Georgio Ravini gehörte nicht zu denen, deren Glückseligkeit von der guten Meinung abhing, die andere von ihm hatten.

Sonst würde er wohl sein ganzes Leben in jämmerlicher Trübsal verbracht haben. Und in bezug auf Mr. Reeder – er erörterte das Thema dieses interessanten Polizeibeamten bei einem Glas Wein und einer guten Zigarre in seiner Wohnung in der Half Moon Street. Es war ein in die Augen fallender, sogar etwas protzenhafter, kleiner Haushalt. Mr. Ravinis Motto war: Das Beste vom Besten – und davon so viel, wie irgendmöglich; sein Salon erinnerte an eine jener übermäßig verzierten französischen Standuhren – alles Gold und Emaille, wenn es nicht Seide oder Damast sein konnte. Er setzte Lew Steyne – eine Art »Leutnant« von ihm – seine Meinung über die Lage der Dinge auseinander.

»Wenn dieser alte Dingsda wirklich nur die Hälfte von dem wüßte, was er zu wissen vorgibt, würde ich den ersten Zug nach Bordighera nehmen,« sagte er. »Aber Mr. Reeder blufft. In gewisser Beziehung ist er sehr gerieben, aber das kann man beinahe von jedem Schnüffler sagen, dem man in den Weg läuft.«

»Du kannst ihn sicherlich was lehren,« erwiderte Lew schmeichlerisch, und Mr. Ravini lächelte selbstgefällig und strich seinen kecken Schnurrbart.

»Ich würde mich gar nicht wundern, wenn der alte Geck nach dem Mädel verrückt ist. Mai und Dezember – kannst du dir so was denken?!«

»Wie sieht sie eigentlich aus?« fragte Lew. »Ich habe sie niemals richtig gesehen.«

Mr. Ravini küßte verzückt seine Fingerspitzen.

»Mich kann er auf jeden Fall nicht ins Bockshorn jagen, Lew – du weißt, wie ich bin. Wenn ich was haben will, dann bin ich hinterher und bin so lange hinterher, bis ich es habe. Ich habe niemals ein Mädel gesehen wie sie. Ganz und gar Dame und so weiter, und was sie an solch altem Knacker finden kann ist mir 'n böhmisches Dorf.«

»Weiber sind komisch,« sagte Lew nachdenklich, »man sollte nicht glauben, daß 'n Schreibmaschinenmächen dir den Laufpaß gibt.«

»Laufpaß geben ist Quatsch,« sagte Mr. Ravini kurz, »ich bin ihr ganz einfach nicht vorgestellt worden, das ist die Geschichte. Aber das kommt noch. Wo ist das Haus?«

»In Siltbury,« sagte Lew.

Er holte ein Stück Papier aus der Westentasche, faltete es auseinander und las die mit Bleistift geschriebenen Worte. »Larmes Keep, Siltbury – an der Südbahn. Ich folgte ihr, als sie mit ihren Koffern von London abreiste. Der alte Reeder brachte sie nach der Bahn und sah so vergnügt aus wie eine gebadete Katze.«

»Eine Pension?« sagte Ravini überlegend, »komische Art von Stellung.«

»Sie ist Sekretärin,« berichtete Lew. (Er hatte das mindestens schon viermal erzählt, aber Mr. Ravini gehörte zu jenen neugierigen Menschen, die alles nicht oft genug hören können.)

»Das Haus ist allerhand,« sagte Lew. Nicht eine der gewöhnlichen Pensionen – nur für seine Leute. Zwanzig Guineen die Woche pro Zimmer, und du kannst froh sein, wenn du überhaupt reinkommst.«

Ravini kratzte sein Kinn und dachte darüber nach.

 

»Das ist hier ein freies Land,« sagte er, »wer kann mich hindern in – na, wie heißt das Ding – zu wohnen? Larmes Keep? In meinem ganzen Leben habe ich mich noch niemals mit ›Nein‹ von 'ner Frau zufrieden gegeben. Meistens meinen sie's ja überhaupt nicht so. Auf jeden Fall muß sie mir ein Zimmer geben, wenn ich genug Geld habe, um zu zahlen.«

»Und wenn sie an Reeder schreibt?« warf Lew ein.

»Laß sie schreiben!« Ravinis Ton klang herausfordernd, wie auch seine Meinung immer sein mochte. »Was kann er mir anhaben? Es ist doch kein Verbrechen, seine Miete in einer Pension zu bezahlen?«

»Versuchs doch mal bei ihr mit einem von deinen Glücksringen,« grinste Lew.

Ravini betrachtete sie mit Bewunderung.

»Ich kann sie nicht herunterkriegen,« sagte er, »und ich denke gar nicht daran, mich deswegen von meinem Glück zu trennen. Sie wird schon anbeißen, wenn sie mich erst näher kennt – mach dir man keine Sorge deswegen.«

Ein merkwürdiger Zufall wollte es, daß er am nächsten Morgen, als er aus der Half Moon Street kam, gerade den einzigen Mann in der ganzen Welt, den er nicht sehen wollte, treffen mußte. Glücklicherweise hatte Lew seinen Handkoffer nach der Bahn gebracht, und so verriet nichts in Ravinis Erscheinung, daß er sich auf die Reise nach einem galanten Abenteuer machte.

Mr. Reeders Blicke fielen auf die Brillantringe, die im Tageslicht funkelten. Sie schienen eine ganz besondere Anziehungskraft auf den Detektiv auszuüben.

»Hält das Glück noch immer an, Georgio?« fragte er, und Georgio lächelte selbstgefällig. »Und wohin führen Sie Ihre Schritte an diesem wunderbaren Septembermorgen? der Bank, um Ihre ruchlosen Gewinne in Sicherheit zu bringen? Oder um sich schnell ein Visum für Ihren Paß zu besorgen?«

»Ein bißchen spazierengehen,« sagte Ravini leichthin, »der Verdauung halber.« Und dann mit einer kleinen Dosis Bosheit: »Was ist denn eigentlich mit dem Spitzel passiert, den Sie mir hinterhergeschickt haben? Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.«

Mr. Reeder sah an ihm vorbei anscheinend in weite Fernen.

»Er ist niemals weit weg von Ihnen gewesen, Georgio,« sagte er freundlich. »Letzte Nacht ist er Ihnen von Flotsam bis zu der merkwürdigen, kleinen Gesellschaft, an der Sie in Maida Vale teilnahmen, gefolgt, und von da bis nach Haus, um zwei Uhr fünfzehn.«

Georgio verlor ein wenig die Fassung.

»Sie wollen doch nicht sagen, daß er –« Er blickte um sich herum. Mit Ausnahme eines wohlwollend aussehenden Mannes, den man nach seinem Gehrock und Zylinder für einen Arzt halten konnte, war niemand zu sehen.

»Det is er doch nich?« sagte Ravini stirnrunzelnd.

»Das ist er doch nicht,« verbesserte Mr. Reeder. »Ihr Englisch ist noch nicht ganz perfekt.«

Ravini verließ London nicht unmittelbar darauf. Es war zwei Uhr, bis er seinen Verfolger abgeschüttelt hatte und fünf Minuten später saß er schon in dem Südexpreß. Derselbe alte Droschkenkutscher, der Margaret Belman nach Larmes Keep gebracht hatte, fuhr ihn den langen, gewundenen Hügelweg entlang, durch die breiten Tore bis zu dem Haupteingang des Hauses und setzte ihn dort ab. Ein älterer Portier in eleganter, gutsitzender Uniform kam heraus, um ihn in Empfang zu nehmen.

»Mr. –?«

»Ravini,« sagte er, »ich habe kein Zimmer bestellt.«

Der Portier schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, das wird nicht gehen,« sagte er. »Mr. Daver macht es sich zum Prinzip, keine Gäste aufzunehmen, die nicht ihre Zimmer im voraus bestellt haben. Ich werde mit der Sekretärin sprechen.«

Ravini folgte ihm in die geräumige Vorhalle und ließ sich auf einem der wundervollen Stühle nieder. Das hier war, er sah das sofort, ein Haus, das ganz und gar aus dem Nahmen der gewöhnlichen Pensionen herausfiel. Sogar für ein Hotel war es äußerst luxuriös eingerichtet. Andere Gäste waren nicht zu sehen. Endlich hörte er Tritte auf dem Steinfußboden und erhob sich, um den Augen Margaret Belmans zu begegnen. Wenn sie ihn auch unfreundlich anblickte, verriet sie doch durch kein Zeichen, daß sie ihn wiedererkannte. Er hätte der fremdeste Fremde sein können.

»Der Besitzer nimmt prinzipiell Gäste ohne vorhergegangene Korrespondenz nicht an,« sagte sie. »Unter diesen Umständen können wir Sie leider nicht aufnehmen.«

»Ich habe bereits an den Besitzer geschrieben,« sagte Ravini, der niemals um eine glatte Lüge verlegen war. »Lassen Sie sich zureden, junges Fräulein, seien Sie kein Spielverderber und sehen Sie mal zu, was Sie für mich machen können.«

Margaret zögerte. Am liebsten hätte sie dem Portier den Auftrag gegeben, den Handkoffer wieder in die wartende Droschke zu bringen, aber sie war ein Rad in dem Getriebe des Hauses und durfte ihren Vorurteilen nicht gestatten, ihre Pflichten zu beeinflussen.

»Wollen Sie, bitte, warten?« sagte sie und ging, um Mr. Daver zu suchen.

Dieser große Kriminalogist war in ein dickes Buch vertieft und blickte sie über seine Hornbrille hinweg fragend an.

»Ravini? Ein Ausländer? ... Natürlich ist das ein Ausländer. Ein Fremder in unseren Mauern, möchte man sagen. Es ist ganz ungewöhnlich, aber unter diesen Umständen – ja, ich denke, wir können es machen.«

»Er gehört nicht zu den Leuten, die Sie hier haben sollten, Mr. Daver,« sagte sie fest. »Ein Bekannter, der diese Klasse Leute kennt, hat mir erzählt, daß er zu einer Verbrechergesellschaft gehört.«

»Verbrechergesellschaft! Was für eine wunderbare Gelegenheit, diese aus allernächster Nähe kennenzulernen!« – Seine spaßhaften Augenbrauen sträubten sich – »Sie geben mir doch recht? ... Ich wußte ja, daß Sie mir recht geben! ... Lassen Sie ihn ruhig bleiben ... Wenn er mich langweilt, setze ich ihn vor die Tür.«

Margaret ging zurück, etwas enttäuscht, und kam sich, um die Wahrheit zu sagen, ein wenig dumm vor. Sie fand Ravini in der Halle; er fingerte an seinem Schnurrbart herum und schien etwas weniger selbstbewußt, als wie sie ihn verlassen hatte.

»Mr. Daver läßt sagen, Sie können hierbleiben. Ich werde Ihnen sofort die Haushälterin schicken,« sagte sie und machte sich auf die Suche nach Mrs. Burton, um diesem kummervollen Wesen die notwendigen Anweisungen zu geben.

Sie ärgerte sich über sich selber, daß sie Mr. Daver gegenüber nicht deutlicher gesprochen hatte. Sie hätte ihm sagen können, daß sie das Haus verlassen würde, wenn Ravini bleiben sollte. Sie hätte ihm sogar den Grund sagen können, warum sie nicht wünschte, daß der Italiener im Hause bliebe. Allerdings befand sie sich in der glücklichen Lage, daß sie nichts mit den Gästen zu tun hatte, falls diese nicht den Wunsch hatten, sie zu sprechen, und Ravini war zu schlau, um seinen augenblicklichen Vorteil auszunutzen.

An diesem Abend, als sie auf ihr Zimmer kam, setzte sie sich hin und schrieb einen langen Brief an Mr. Reeder, überlegte es sich aber besser und zerriß ihn wieder. Sie konnte sich doch nicht jedesmal, wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, an Mr. Reeder wenden. Er hatte genug mit seinen eigenen Sorgen zu tun, wie sie einsah, und damit hatte sie recht. In dem gleichen Augenblick, als sie an ihn schrieb, untersuchte Mr. Reeder mit großem Interesse den Selbstschuß, der ihm Verderben hätte bringen sollen.

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