Keine besonderen Vorkommnisse

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Frank Müller

Keine besonderen Vorkommnisse

Autobiografischer Roman (eines fast normalen Lebens)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

WIE DEUTSCHLAND ZUM ERSTENMAL FUSSBALLWELTMEISTER WURDE

FREUNDE

LUSTIGE VERWANDTSCHAFT

FREUNDE (2)

EHE UND CHAOS

„DE LÄHRA KOMMT“

SCHREIBEN

LÜNEBURG UND TRENNUNG

Impressum neobooks

WIE DEUTSCHLAND ZUM ERSTENMAL FUSSBALLWELTMEISTER WURDE

(Mit einer kleinen Vorbemerkung des Verfassers)

Bevor Sie dies alles ohne nähere Kenntnis des Erzählers zu lesen anfangen, hier in Kürze:

Ich mache mich an diese Aufzeichnungen zu einem Zeitpunkt, als ich soeben meine vierzigjährige Berufstätigkeit beendete (Näheres dazu wird folgen) und mich mit dem Blick auf das näherrückende Ende für den bisherigen Verlauf meines Lebens zu interessieren beginne. Nicht dass mich der Verlauf meines Lebens bis hierher nicht interessierte, nur folgt ja gewöhnlich im Alltag auf eine Handlung fast zwangsläufig die nächste und wieder die nächste, bis ganze Lebenskapitel geschrieben sind, ohne dass man sich diese zur verstehenden Lektüre noch einmal vornähme. Es geht mir gut. Einigermaßen. Schwiege ich jetzt, würde ich einfach nur auf das Ende zutreiben und irgendwann im Meer der Vergessenheit verschwinden. -

Ich habe keine sonderlich aufregenden Zeiten durchlebt, keine Kriege, keine schlimmen Katastrophen. Schule, Ausbildung, Beruf; ein überwiegend angenehmes Familienleben. Was kann ich bieten im Rückblick auf mein Leben? Meine Erfahrungen sollten auf andere übertragbar sein, sollten dem Leser, der schweigt, beim Verstehen seines eigenen Wegs helfen können. So soll es sein.

Worum, in Stichworten, wird es nun gehen?-

Um Kindheit, die die Weichen stellt für eine Lebensfahrt. Um Jugend, Prägung, Aufkeimen meiner Eigenarten. Um das Wechselspiel von Disziplin und Chaos, von Krankheit und Gesundheit. Um Liebe, gewonnene und verlorene, auch nie zu gewinnende. Um Erfolg und Scheitern, Angst vor dem Ende und unsere Art, mit dieser Angst zu ringen. So sei es.-

Machen wir uns auf den Weg. Schreiben gewinnt Erkenntnis.-

Aus, aus, aus, aus,- aus, das Spiel ist aus. -

Die meisten Deutschen kennen den begeisterten Siegesschrei des Rundfunkreporters, ausgestoßen, als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 in Bern Weltmeister geworden war. Mein Vater wird wohl mitgejubelt haben am Ende der Radiosendung, welcher er in der gelben Laube auf dem gepachteten Grundstück der Kleingartenkolonie lauschte. Er wird vor lauter Begeisterung vergessen haben, dass neben ihm in der Wiege ein männliches Baby lag (seit einem Vierteljahr auf der Welt), das die Jubelrufe missverstand als Aufforderung zu eigenem Mittun, obwohl (wie meine Mutter in ihren Erzählungen immer wieder betonte) dieses Baby (das sehr unruhig gewesen sein soll) „endlich einmal“ gerade eingeschlafen war. Es mag sein, dass mein Interesse am Fußballsport damals auf diese Weise entstand. Viel wahrscheinlicher jedoch erscheint es mir, dass ich die familiäre Unruhe, die auf mein erneutes Greinen hin entstand, aufnahm, bewahrte und später, als all dies schon lange vergessen war, nach Erwachsenenart transformierte. So mögen Zahnweh, Herzrhythmusstörungen und Panikattacken entstehen, aber genau weiß ich das eben nicht.

Meine Eltern hatten mit ihrem ersten Kind (meiner neun Jahre älteren Schwester) in der Nachkriegszeit auf dem Laubengrundstück gleich am Nordberliner Heiligensee gewohnt. Es war, wie ich aus der Familienüberlieferung weiß, ein äußerst einfaches Leben gewesen: mit Plumpsklo, Sickergrube, einer Holzlaube, deren Räume aus heutiger Sicht wie Spielzeug anmuten würden. Aber das sei, und auch dies pflegte meine Mutter späterhin stets hervorzuheben, „die schönste Zeit“ gewesen. Man habe mit Nachbarn und Freunden zusammengehalten angesichts der gerade überstandenen Not, man habe zu feiern gewusst, über sich hinauszuwachsen („wenn die Getränke ausgingen, hat der erste Mann Deiner Tante die Kellerdielen aufgerissen, um zu sehen, ob es dort noch etwas zu trinken gab“), auch in „einfachsten Verhältnissen“. Auch oder gerade? -

Ich selbst muss freilich auf Überlieferungen zurückgreifen, um an jene Vergangenheit zu gelangen. Die eigene Vorgeschichte und die ersten Kindertage sind der Erinnerung nicht zugänglich. Vielleicht existieren Fotos, die ältere Familienmitglieder gelegentlich kommentierten, so bilden sich Erinnerungen aus zweiter Hand, Gemisch aus Erzählung und Übernahme von Erzählung, die eine Art von Wirklichkeit bilden, die wir im weiteren Leben mit uns herumtragen. Innerhalb dieser Wirklichkeit gaben meine Eltern ihr karges Leben in Heiligensee auf, als sich das zweite Kind ankündigte. Es schien der richtige Zeitpunkt zu sein, um die für damalige Familien typische Zweieinhalbzimmerwohnung zu mieten: auch im Bezirk Reinickendorf, aber nicht am nördlichen Stadtrand, sondern im Bezirkszentrum (ein Zentrum, in dem es zum Einkaufen noch den Kaufmann an der Ecke gab – Supermärkte zeigten sich erst später). Diese Wohnung, in der ich meine gesamte Jugendzeit bis zum Auszug nach eigener Eheschließung verbrachte, stand aber wohl erst ab Sommer 54 (nach der Fußball-WM) zur Verfügung, sodass ich den Torschuss von Helmut Rahn noch in jenem alten, einfachen Quartier „erlebte“. „Dein Vater hat wie ein Verrückter geschrien“, so meine Mutter später, „und Du warst natürlich wieder wach.“ -

Meine Zeit als Kleinkind (nun in bürgerlicher Wohnstraße) kenne ich eben nur aus Bildkommentierungen. Meine direkte Erinnerung reicht nicht sehr weit zurück (setzt eigentlich erst in der Schulzeit ein, obgleich manches Andere sicher halbbewusst gespeichert wurde). Es gibt ein schönes Foto von mir, zweijährig, das mich zeigt, wie ich mich in den Winkel der schweren Eingangstür zu unserem Hausflur schmiege (die wohl sommerlich warme Wand scheint Sicherheit zu geben). Ich trage kurze Kleinkindhosen an Trägern, habe einen Schnuller an einem Band umgehängt, wirke mit offenem, freundlichen Gesicht und mit wallendem, blonden (hat sich später gegeben), lockigen Haar nicht unzufrieden. Ich blicke mit wohlwollendem Interesse (aber behütet von der wärmenden Wand) in die Welt hinaus. Ich habe eine Erinnerung aus gewiss späterer Zeit manchmal mit diesem Bild verschnitten und die damit verbundenen (unangenehmen) Gefühle zu Unrecht auf das Foto projiziert: Ein wohl gutmeinender Bekannter meiner Eltern wollte mir unbedingt etwas Gutes tun und bot mir im Gehen noch schnell ein Geschenk an (das er nicht dabeihatte). Ich solle nur sagen, ob ich ein Schwimmtier oder einen Fußball bevorzugte. Obgleich jede spätere Lebenserfahrung für den Fußball gesprochen hätte, vermochte ich die dringlich gestellte Frage nicht zu beantworten. Ich trat ein paar Schritte zurück, lehnte mich gegen die Zimmertür und – schwieg. Trotz immer deutlicher werdender Aufforderungen meiner Eltern konnte ich nicht sprechen – und dieses beklemmende Gefühl habe ich mitunter auf das eigentlich unschuldige Foto des Jüngeren übertragen.-

Ein weiteres Foto zeigt mich als etwa Dreijährigen gemeinsam mit meinem ersten Spielkameraden G. (aus der frühen Begegnung ist eine schon sechzig Jahre währende Freundschaft geworden): Wir sind auf Holzdreirädern unterwegs, im Hintergrund sind die Eingangstüren zu unseren Hausfluren (Die Nummern 15 und 14) noch erkennbar, Ausgangspunkte unserer kindlichen Exkursionen, Zufluchtsorte auch. Ich glaube mich vage an die vorherrschenden Gerüche in beiden Hausfluren zu erinnern: So war das Haus, in welchem G. wohnte, von einer lebhaften Familie mit sieben Söhnen bevölkert, welche dort andere Düfte hinterließen, als man sie in meinem Nachbarhaus wahrnehmen konnte. Ich meine, ich hätte als Kleinkind die fünf Wohneingänge der Straße nach ihren Gerüchen erkennen können. Doch freilich besteht auch hier die Möglichkeit, dass nachträglich Erlebtes dieses Gefühl hervorruft. Ich habe ja 25 Jahre lang in der Straße gewohnt und Eindrücke aus verschiedenen Lebensphasen fließen in der Erinnerung zusammen. Mit meinem Freund G. habe ich inzwischen mehrfach über unsere frühen Begegnungen gesprochen. Auch ihm ist das nämliche Foto gut bekannt. Ich vermute, dass wir uns beide an die eigentlichen Gefühle auf jener Dreiradausfahrt nicht mehr erinnern, wir werden uns daran erinnern, wie wir uns zu erinnern versuchten, und eines Tages treten solche Bemühungen an die Stelle des Gelebten. -

Doch zurück an den Ort des bejubelten Fußballgeschehens. Der gepachtete Kleingarten in Heiligensee (die Anschaffung ging noch auf meinen Großvater mütterlicherseits, einen Zahnarzt, zurück) blieb unserer Familie noch gut dreißig Jahre nach dem Wegzug als Wochenendgrundstück erhalten. So gilt auch hier das Prinzip der Erinnerungsverschränkung. Der Garten spielte im weiteren Familienleben sowohl meiner Eltern als auch meiner Schwester eine wichtige Rolle. Von meinem Vater ist der zornige Ausruf überliefert, den er an Wochenenden ausstieß auf die ritualisierte Anregung meiner Mutter hin, man könne doch mal in den Garten fahren, um „zu kucken“. Es überschlug sich seine recht hohe Stimme dann nahezu bei der Entgegnung: „Wir fahren ja! Aber sag nicht: kucken. Wir graben fünfhundert Quadratmeter Sandfläche um.“ Und dabei fiel ihm vor Aufregung eine dünne Haarsträhne in die Stirn. Bei der Anschaffung eines Gartens wird oft vergessen, dass derselbe vor allem mit viel (oft lästiger) Arbeit verbunden ist. Die Vorstellung, die zu Beginn dominant ist, betrifft das Sitzen um einen fertig gedeckten Kaffeetisch bzw. das Herumstehen um einen Grill (die Bierflasche in der Hand), auf dem perfekte Steaks brutzeln. Die Gartenlogistik wird zunächst kaum berücksichtigt. Tatsächlich aber überwiegen doch das Organisieren, Einkaufen, Rasenmähen, Heckeschneiden (der Wegewart der Kolonie pflegte die korrekte Höhe der Hecken durch Anlegen eines goldenen Halskettchens zu ermitteln, ich hätte schießen mögen), Laubharken, Auskämmen von faulem Obst aus nassem Rasen und ähnlich ersprießliche Tätigkeiten. Nicht selten deutete meine Schwester ungehalten an, meine Frau und ich hätten doch auch mal „öfter eine Harke in die Hand nehmen“ können. Das tat ich dann mitunter (weil ich den Vorwurf nicht auf mir sitzen lassen wollte) auch bei ungünstigen Wetterbedingungen. Ich erinnere mich (und diesmal direkt) an einen kalten, regnerischen Novembertag, an dem ich finster entschlossen (und nicht ganz nüchtern) das letzte Laub und Faulobst des Jahres beseitigte. Mein Nachbar, ein stattlicher Kleingärtner par excellence (und ganz selten nur nüchtern), beobachtete mein Treiben vom Gartenzaun aus und wandte sich an mich mit dem legendären Satz: „Aber Herr Müller, dazu ist nun heute wirklich nicht das richtige Wetter.“ Und da hatte er Recht.-

 

Aber es gab auch selige Momente. Ich erinnere mich etwa daran, wie ich nach genau der richtigen Menge an Bier (nicht umsonst sprach Arno Schmidt vom strategisch sinnvollen Trinken) abends im Garten Gitarre spielte und sang, einige Gäste meiner Schwester dazu tanzten und Tanz, Gesang und Glück über den dunklen Heiligensee davonsegelten.

Hier also hatte alles mit mir begonnen, hier hatte ich zum erstenmal in die Jubelschreie der Fußballgemeinde eingestimmt, ohne jede Vorstellung davon, was sich in der Zukunft in diesem Garten zutragen würde. -

Wieder an einem Regentag, viele Jahre später, würde ich gemeinsam mit meinem Freund W. den Pachtvertrag für das Grundstück auflösen und die gelbe Laube für einen kleinen Erlös an einen der vielen Interessenten von den Wartelisten der Kleingartenvereine verkaufen. Eine Amtshandlung ohne große Emotionen (meine Schwester war mit ihrer Familie nach England gezogen und meine Frau und ich hatten uns in Berlin ein Haus mit Garten gekauft). Aber noch viel später, als der Garten für uns schon fast in Vergessenheit geraten war, bin ich immer mal wieder an die alte Stelle gefahren: Das Haus war in seiner Grundgestalt erhalten geblieben, erneuert, umgefärbt, der Garten ganz umgestaltet von fleißigeren Menschen, als wir es waren; und obgleich kaum ein Winkel aus alter Zeit erhalten geblieben war, schwebte über dem Garten noch – ach, ich weiß nicht was.-

FREUNDE

Ich habe mich dafür entschieden, keine durchgängig chronologische Biografie zu schreiben, sondern einen thematisch orientierten Aufbau zu wählen, dessen einzelne Abschnitte freilich in sich chronologische Züge tragen. In diesem Kapitel nun soll es um Freundschaften gehen, ein schwierigeres Unterfangen, als man meinen möchte, soll sich doch keiner der Menschen, die in meinem Leben wichtig waren, ungerecht oder tendenziös dargestellt finden und die hier Fehlenden sich nicht übergangen fühlen. -

Meinen Freund G. haben wir bereits kennen gelernt: mit hölzernem Dreirad auf großer Fahrt zwischen den Eingangstüren der Häuser 14 und 15 der bürgerlichen Reinickendorfer Wohnstraße. Wir blieben die besten Spielkameraden für lange Zeit (uns erschien sie wie eine Ewigkeit), bis das Schicksal in Gestalt von G's späterer Geburt (er wurde erst nach dem damals gültigen Stichtag für die Einschulung sechs Jahre alt) uns trennte. Ich glaube mich noch erinnern zu können, wie sehr ihm die Tatsache zusetzte, nicht gemeinsam mit mit in die Schule gehen zu dürfen, sondern noch ein Jahr darauf warten zu müssen. Mir selbst hatte man die Schuleignung nur recht knapp zugesprochen, da ich die Frage der Prüferin, wie viele Räder denn ein Auto habe, mit „fünf“ beantwortete (ich hatte das Reserverad mitgezählt). G. und ich blieben in gutem Kontakt, wir traten sogar gemeinsam mit sieben Jahren in einen Reinickendorfer Fußballverein ein, aber die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Klassenstufen in der Schule hat für junge Leute etwas stark Trennendes. Es bilden sich ganz andere Freundeskreise (oder Feindeskreise) heraus, die Bezüge zu Lehrkräften unterscheiden sich, kurz: Die noch frischen Lebenserfahrungen weichen voneinander ab (und hier zähle ich noch nicht einmal diejenigen in den Elternhäusern mit). Im Grunde drifteten wir (trotz noch vieler gemeinsamer Begegnungen im Spiel, vor allem auf dem Hof unserer Wohnanlage) auseinander, machten unsere sehr persönlichen Erfahrungen, über die wir uns erst viel später austauschen sollten. G's Rolle in meinem Leben wurde eigentlich erst wieder wichtig, als wir uns zum Ende unserer Oberschulzeit regelmäßig in einer Stammkneipe zu treffen begannen („das Haus“), wo die Entscheidung getroffen wurde, nicht länger Mitglied in einem etablierten Sportverein bleiben zu wollen (ich hatte mittlerweile auch Handball im Verein gespielt), sondern einen eigenen Club im Freizeitbereich ins Leben zu rufen, dessen Präsident G. (der außerordentliche organisatorische Fähigkeiten besaß und besitzt) werden sollte. Dies geschah und der Verein wurde FC Triftpark genannt (nach dem Ort, an dem wir uns zu unverbindlichem Gekicke zu treffen pflegten). Er würde im weiteren Leben der meisten seiner Mitglieder eine wichtige Rolle spielen, aber dies ist nicht der Ort, um eine Chronik unseres selbstgegründeten Fußballvereins anzufertigen. G. und ich jedenfalls blieben uns von diesem Moment an wieder eng verbunden: organisatorische Absprachen, regelmäßiges Training, Spiele innerhalb des Freizeitfußballverbands, Vereinsmeierei, Vereinspartys; aber auch Aufleben des alten (eigentlichen) freundschaftlichen Kontakts zwischen G. und mir. Letzterer fand vor allem Ausdruck in der sogenannten „Herrenrunde“, zu welcher neben uns beiden noch zwei Klassenkameraden von G. gehörten (einer der beiden war auch einmal mein Klassenkamerad gewesen, aber so etwas ist ja bei den entsprechenden schulischen Verstrickungen keine Seltenheit). Diese „Herrenrunde“ besteht seit über vierzig Jahren, trifft sich etwa sechsmal im Jahr (nach dem Modus, dass immer der Reihe nach einer von uns mit der Bewirtung betraut ist), unternimmt Ausflüge und kleine Reisen und war und ist in unserem Leben eine Kostbarkeit. Innerhalb dieser Runde habe ich mich mit G. (der ein Meisterkoch ist) so oft und intensiv ausgetauscht, dass man schon nicht mehr zu unterscheiden weiß, was erlebt, was berichtet und was vielleicht nur eingebildet ist. Was ich aber weiß: G. ist nicht nur mein erster, sondern ein treuer, verlässlicher Freund, an den man sich stets wenden kann, wenn man im Alltag Hilfe braucht. Er ist eine feste Größe in meinem Leben. In unbestimmter Weise würde mir etwas fehlen, wenn es ihn nicht gegeben hätte.-

Das Klassenfußballspiel war bereits im Gange und versprach aufregend zu werden (unsere spielstarke fünfte Klasse, die bereits zwei sechste Klassen besiegt hatte, wagte sich an eine Begegnung mit einer siebten Klasse des benachbarten Gymnasiums), als am Spielfeldrand ein blonder, schmächtiger Junge auftauchte, die Sportschuhe zusammengebunden in der Hand. Im Eifer des Gefechts fiel zunächst kaum auf, dass es sich um den Schüler handelte, der just am Vormittag dieses Tages als Neuzugang zu unserer Klasse gestoßen war (und wohl mitbekommen hatte, dass für den Nachmittag ein Fußballspiel geplant war). Seinen Namen hatte ich mir noch nicht gemerkt, aber als wir ihn erkannten, wurde ihm signalisiert, er solle gleich mitspielen, denn ein elfter Mann hatte uns noch gefehlt. Th. ließ sich nicht lange bitten, band seine Schuhe auseinander und legte auf der linken Außenbahn (er war Linksfuß) los. Es war nahezu Zauberei, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in das Spiel der ihm völlig unbekannten Mannschaft einfügte. Insbesondere mit mir (der ich die Rolle eines hauptsächlich im gegnerischen Strafraum herumstehenden Mittelstürmers innehatte) klappte die Abstimmung sofort. Laufwege wurden blind erahnt, kleine Doppelpässe gelangen, Th. setzte sich auf der linken Seite immer wieder wieselflink durch und bediente mich mit wunderbaren Flanken. Ein Tor oder gar Sieg gelang uns nicht, aber wir erwiesen uns für die Größeren als ebenbürtiger Gegner (ich glaube, das Spiel ging am Ende 0:1 verloren) – und ich hatte innerhalb eines Fußballspiels wortlos einen Freund für lange, lange Zeit gewonnen. Ich meine hiermit zunächst einen Zeitraum von etwa sechs Jahren, also die Zeit, die wir gemeinsam noch auf der Grundschule und anschließend dann in den Klassen 7-10 des Gymnasiums verbrachten (bis unsere Wege sich vorläufig trennten, als Th. gegen Ende der Pubertät von den „tausend Stimmen im Grund“ angesungen wurde). -

Diese frühen Jahre ließen eine Gemeinschaft und Freundschaft entstehen, wie ich sie in dieser unforciert-selbstverständlichen Weise, in dieser nie belastenden Dichte im Leben nicht mehr erfuhr. Das Gemeinsame, das mich mit Th. verband, lässt sich nicht leicht in Worte kleiden. Die Freundschaft entstand in einem Lebensalter, in dem man sich zwar der Freundeswahl bereits bewusst ist (anders als auf dem Holzdreirad), sie aber nicht umständlich begründet oder gar „ausdiskutiert“. Der Andere wird einem in gemeinsamen Gesprächen und Betätigungen vertrauter und vertrauter, bis man sich nicht mehr vorstellen kann einen Tag ohne ihn zu verbringen. So ging das mit Th. und mir. -

Es war uns sehr bald zur Gewohnheit geworden, die Nachmittage nach der Schule bei Th. zu verbringen. Er wohnte nicht allzu weit von mir entfernt, eine Viertelstunde Fußweg vielleicht. Es gibt ja die Eigentümlichkeit bei Freundschaften, dass man mit der einen Person stets bei sich zu Hause bleibt, mit der anderen hingegen (ohne offensichtlichen Grund) auswärts. Ich machte mich jedenfalls nahezu täglich nach nur kurzer Zwischenstation bei mir auf den Weg. Was genau taten wir dort eigentlich immer? Auch hier besteht ja die Gefahr, dass man nachträglich mehr hinzudichtet, als sich wirklich zugetragen hat. Th. besaß in seinem hellen Zimmer im Obergeschoss eines modernen Wohnblocks bereits Plattenspieler und Tonbandgerät und wir hatten gerade begonnen (vielleicht nicht mit 10, aber spätestens mit 12 Jahren) uns für die aktuelle Popmusik („Beat“ bzw. wie mein Vater spottete: „Kniet“) zu interessieren. Es war die Zeit der frühen Bee Gees („Massachusetts“ war eine Offenbarung) und wir stellten sehr bald fest, dass Th. hervorragend den näselnden Tonfall von Robin und ich die Stimme von Barry (nicht die Fistelstimme der späten Discohits) imitieren konnte. Allein damit konnten wir Stunden verbringen und es ergab sich, was sich bei jungen Leuten nicht selten ergibt: der Wunsch, eine eigene Band zu gründen. Die Voraussetzungen dafür waren nicht optimal, aber auch nicht ganz schlecht: Wir hatten uns beide das amateurhafte Schrammeln auf der Gitarre beigebracht (zunächst nur mit den Standardakkorden in Tonika, Subdominante und Dominante) und konnten, wie gesagt, einigermaßen tonsicher singen. Dazu kam, dass Th. ein sehr gutes Rhythmusgefühl besaß (übrigens auch beim Fußball von Vorteil), sehr gerne trommelte und sich bald von seinem Ersparten ein Schlagzeug anschaffte. Fehlte eigentlich nur noch ein richtiger Musiker, der das Ganze zusammenhalten würde. Den fanden wir in einem mürrischen, schrulligen Klassenkameraden, der prima vista vom Blatt auf der Sologitarre und sogar auch auf dem Fagott spielen konnte und der sich obendrein überreden ließ, eine richtige, bandgerechte Verstärkeranlage zu kaufen. Zu dritt gründeten wir die Band MONDAYS UNION, die sich innerhalb kurzer Zeit zu einer großen Attraktion an unserer Schule entwickelte. Auf jedem Schulfest, jeder größeren Party traten wir auf und wurden für unsere eher hölzerne, übersteuerte Darbietung bejubelt und von Mädchen wohlwollend angeblickt. Texttreffer waren eher Glückssache, denn mein Englisch als Leadsänger folgte eher dem Prinzip des weißen Negers Wumbaba. Soweit ich mich erinnere, hat sich daran nie jemand gestört. Sprache wird mitunter überbewertet. Wie sich denken lässt, verstärkte das Unternehmen meine Freundschaft zu Th. Nun hatten wir nicht nur eine undefinierte Neigung zueinander, sondern einen konkreten Handlungsrahmen, in dem sich unsere Freundschaft bewegte. Über Jahre hinweg traten wir auf wie Zwillinge und selten hörte man unsere Namen isoliert ausgesprochen, sondern meist in der Formel „F. und Th.“ -

 

Neben der Musik verband uns auch der Sport: weniger die weiteren Klassenfußballspiele als vielmehr der Handball. Wir waren nämlich beide in die Handballabteilung der Reinickendorfer Füchse eingetreten und spielten bis zur B-Jugend dort gemeinsam (bis mir der Sport, der dann auch nur noch auf Kleinfeld oder in der Halle ausgeübt wurde, einfach zu hart wurde – immer wieder hatte ich Prellungen, zweimal ein gebrochenes Nasenbein). Das Ende meiner Handballzeit fällt etwa zusammen mit Ths langsamem Abdriften in einen Freundeskreis, der nicht mehr der meine war und den ich hier nicht näher zu charakterisieren mir anmaße. Langsam, langsam verloren wir uns aus den Augen. Lediglich Ths spätere Mitgliedschaft in dem selbstgegründeten Fußballverein TRIFTPARK (wo er sportlich an seine hervorragenden Leistungen als Zehnjähriger anknüpfen konnte) führte uns noch manches Mal zusammen. Er erschien mir verändert, vor allem äußerlich (er hatte inzwischen seine schönen, blonden Haare völlig verloren), aber einmal blitzte die alte Verbundenheit noch auf: In einem Spiel gegen einen schwachen Gegner gelangen mir als (immer noch) Mittelstürmer zahlreiche Tore, obgleich ich mir mittlerweile einen stattlichen Bierbauch angetrunken hatte. Nach dem 7:0 etwa knuffte mich Th. (er hatte die Flanke geschlagen) in die Seite und merkte an: Na, geht doch noch trotz Wampe. Doch Ths Gastspiele im TRIFTPARK wurden seltener (auch meine) und wir haben uns späterhin nur noch in Riesenabständen gesehen und dann (wessen Schuld auch immer das gewesen sein mag) wenig zu sagen gewusst.-

Zeitsprung: etwa vierzig Jahre nach den Toren mit Wampe. Ort: Reformationsplatz in Berlin-Spandau. (Th. hatte mich unvermittelt zu meinem 63. Geburtstag angerufen, mir gratuliert und ein Treffen vorgeschlagen.) Ich überquere den Platz diagonal, laufe durch ein Gässchen, welches auf einen weiteren kleinen Platz mit Kino und Pizzeria führt. Th. kommt mir einige Schritte entgegen. Er ist alt geworden (ich für ihn gewiss auch). Er hat als Treffpunkt die Pizzeria ausgewählt. Gute Wahl, ruhiger Ort zum Reden. Wir sprechen miteinander, wir lachen miteinander, als hätte es die vierzig Jahre nicht gegeben. Als wir uns nach Stunden auf dem Platz verabschieden, umarmen wir uns zum ersten Mal im Leben. Dann geht jeder in seine Richtung, ohne sich noch einmal umzudrehen.-

Der Wechsel von der Grund- auf die Oberschule (der in Berlin traditionell nach der sechsten Klasse erfolgt, sieht man einmal von einigen grundständigen Gymnasien ab) stellt für viele Kinder ein lebensbestimmend wichtiges Ereignis dar. Dies gilt nicht nur für die genauere Ausrichtung ihrer schulischen Zukunft, sondern auch und vor allem für die Entstehung zukunftsträchtiger Freundschaften. Mitunter ergeben sich diese auf der Basis banal wirkender Zufälligkeiten. Ich habe ja selbst viele Male als Klassenlehrer von siebten Klassen deren „Begrüßung“ in der neuen Schule miterlebt und mitorganisiert. Die Schülerinnen und Schüler werden in der Aula einer alphabetischen Liste nach aufgerufen, erheben sich in dieser Folge von ihren Plätzen und begegnen im Gang zuerst dem Nachbarn im Alphabet. Haben sich alle Mitglieder der Klasse am Aula- ausgang versammelt, führt sie ihr Klassenlehrer zum neuen Klassenraum. Nun entsteht eine Situation, die für die Bildung oft lebenslanger Freundschaften von besonderer Bedeutung ist. Noch vor der Klassenraumtür versichert der Klassenlehrer in besänftigendem Ton den Herandrängenden, dass der Sitzplatz, den gleich alle erst einmal zufällig einnehmen, sehr bald wieder gewechselt werden könne, dass also kein Grund bestehe, um den vermeintlich besten Platz zu kämpfen. Dies geschieht nach Türöffnung aber dennoch – und in der Tat ist es auch so, dass die sich nun zufällig bildende Sitzordnung (mitunter) jahrelang erhalten bleibt. Hieraus entstehen Nachbarschaften (manchmal motiviert vom vorausgehenden Zusammentreffen im Gang der Aula), die zu Vertrautheit, zu Freundschaft reifen können. Sitznachbarschaft in der Schulklasse kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für den Fall, dass befreundete Grundschüler gemeinsam in eine neue Klasse kommen (was Schulleitungen mitunter zu vermeiden suchen, um „alte Seilschaften“ auszuschließen), erkämpfen die sich in der Regel dann Plätze nebeneinander in der Schulbank (bzw. an einem Tisch). Letzteres war bei Th. und mir der Fall. Wir saßen dann lange nebeneinander und verbrachten die endlosen Jahre der gymnasialen Mittelstufe mit ihrer oft unerträglichen Langweiligkeit und Unverbindlichkeit, indem wir unsere Tischhälften absteckten, uns freundschaftlich knufften oder uns mit stumpfem Stift Wörter auf den Rücken schrieben, die zu erraten waren. - Ein anderes „Pärchen“ war mir bald aufgefallen, das ebenfalls aus ein und derselben Grundschulklasse gekommen zu sein schien, aber nicht von unserer Grundschule. M. (und sein Grundschulfreund B.) waren so ganz anders als wir in Erscheinungsbild und Verhalten. Sie saßen aufrechter, wirkten gefasster, orientierter als wir, und dies blieb ein Leben lang so. M., der später mein engster Freund und gleichzeitig mein Schwager wurde (wir würden Schwestern heiraten), zeigte mir einmal ein Foto, das den etwa zehnjährigen B. einfing, als er an Ms Wohnungstür geklingelt hatte und gekommen war, um seinem Freund zum Geburtstag zu gratulieren. Er trug eine Art Jägermantel und einen Hut, hielt einen perfekt gebundenen Blumenstrauß in der Hand und wirkte in seinen jungen Jahren wie ein klein geratener Frührentner. - Auch M. kam mir anfangs, ich suche ein passendes Wort, ein wenig kauzig vor. Er war für sein Alter schon hoch aufgeschossen, hatte eine leicht vorgebeugte Körperhaltung und vollführte mit seinem Mund ungewöhnliche Bewegungen. Er war von Anfang an ein disziplinierter, zielorientiert arbeitender guter Schüler (klingt wie ein Zeugniskopf). Es war offensichtlich, dass er aus gutbürgerlichen Verhältnissen kam. Anders als wir, kauzig vielleicht, aber irgendetwas an ihm gefiel mir sehr, sodass bald eine vorsichtige Nähe entstand, eine Sympathie, die neben jene für Th. trat und später an deren Stelle. Dabei hatte ich nie das Gefühl, von einem Freund zum anderen zu wechseln. Es schien eher so, dass in dem Maße, wie sich Th. und ich voneinander entfernten, meine Bindung an M. fester wurde. - Nach und nach entstand auch zwischen M. und mir die Gewohnheit der nachmittäglichen Treffen, erst sporadisch, dann regulärer – und auch in diesem Fall „auswärts“. Aber im Vergleich zu der älteren Freundschaft war es anders. Wenn diese begriffliche Jonglage erlaubt ist, möchte ich sagen, mit Th. verband mich eine Liebes-Freundschaft, die im Grunde wenig nach dem Naturell des Partners fragt, mit M. hingegen eher eine Freundschaft der wählenden Vernunft. Wir waren uns in unserer Mentalität fast beängstigend ähnlich und sind es trotz vieler Wirrnisse im Leben bis heute geblieben. Wir haben unser Abitur mit nahezu denselben Leistungen (im oberen Bereich) abgelegt, wir haben beide anschließend Anglistik und Germanistik studiert, bei denselben Professoren mit sehr ähnlichen Prüfungsthemen, wir haben am selben Tag sehr erfolgreich das erste Staatsexamen abgelegt und später (lediglich an verschiedenen Schulen) das zweite, sind Studienräte geworden, später Fachbereichsleiter (er in Englisch, ich in Deutsch) im Range von Studiendirektoren und das sind wir bis zu unseren Pensionierungen geblieben; auf dem Weg dorthin haben wir ein Schwesternpaar kennen gelernt (in der Tanzschule, die wir natürlich beide besuchten), wir haben sie in einem zeitlichen Abstand von lediglich einem Jahr geheiratet (ich die ältere Schwester, er die zwei Jahre jüngere), bekamen fast gleichzeitig Nachwuchs und blieben uns bis heute mit all dieser familiären Verquickung ohne größere Konflikte verbunden. Wer an die Macht der Sterne glaubt, dem sei hier der Hinweis gegeben, dass unsere Geburtstage am 18. und 19. März 1954 sich einander berührten. Ich vermag nicht zu sagen, ob das der Grund für unsere mentale Übereinstimmung war. In jedem Fall marschierten unsere Gedanken im Gleichschritt und Verständigung über Inhalte des Studiums oder des Berufs waren jederzeit schnell möglich. Auf der anderen Seite ließen wir unsere emotionalen Anliegen meist außen vor bzw. verwandelten sie in Gedanken, um so verstehend über sie reden zu können. Ein unmittelbarer affektiver Austausch war unsere Sache nicht. Ich schreibe das nicht unserer Unfähigkeit zu, sondern eher einem halbbewusst angewendeten Distanzverhalten, welches der Logik folgte, dass allzu viel Gleichklang in allem zu nichts Gutem führen würde, sondern eher zu Vergleich und Neid, wie das in vielen Gruppen zu beobachten ist. Und uns verband auch der Anstand, uns gegenseitig nicht mit Eifersucht zu betrachten. Aus eben diesem Grund lockerte sich unsere Freundschaftsbeziehung auch im Laufe der Jahre (ohne zerstört zu werden). Wir spürten und wussten, dass bei all den großen familiären und beruflichen Gemeinsamkeiten jeder von uns seinen ganz eigenen Raum benötigte, in den er keinen Eintritt gewährte, wollten wir Eifersucht und Missgunst vor der Tür lassen. Es ist das große Verdienst dieser fast lebenslangen Bindung, dass uns dies gelang, ohne die Freundschaft in ihrem Kern in Frage zu stellen. Ohne M. wäre mein Leben gewiss anders verlaufen und für seine nicht wankende freundschaftliche Einstellung mir gegenüber (dessen Kurs im Leben nicht in jeder Phase leicht zu bestimmen war) werde ich ihm immer dankbar sein.

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