Der Schrei des Subjekts

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Der Schrei des Subjekts
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Franz Josef Hinkelammert

Der Schrei des Subjekts

Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort der Herausgeber

Prolog

Einführung: Methodologische Grundlegung

Die Sünde die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird

Die Welt: in der Welt sein ohne von der Welt zu sein

Das Wertgesetz und die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird

Jesus und das mosaische Gesetz

Der lebendige Mensch und das Gesetz

Die Verdrängung des lebenden Menschen als Subjekt im Namen der Erfüllung des Gesetzes

Die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird und die Verhärtung der Herzen

Der Glaube des Abraham und die Göttlichkeit des Menschen

Die erste zentrale Szene: der Glaube des Abraham (Joh 8,31-59)

Die Bedeutung dieser Szene

Die griechische Freiheit

Der politische Realismus und das Nein zum Töten

Die institutionelle Freiheit durch Gesetz: Dietrich Bonhoeffer

Die Bestätigung des Lebens durch das Nein zum Töten hindurch und die Söhne des Teufels

Die Körperlichkeit und das Nein zum Töten

Die Realpolitik und die “guten Gründe” zum Töten

Der Realismus des Johannes und das Nein zum Töten

Das Kriterium des politischen Realismus der Hohenpriester in einigen Kommentaren

Die exegetischen Kommentare und die erste zentrale Szene (Joh 8,31-59)

Die zweite zentrale Szene: Ihr alle seid Götter. Die Göttlichkeit des Menschen.

Das Johannesevangelium als Welttheater

Das Ressentiment der Macht

Die Erpressung seitens Pilatus: seine Komödie

Die Anklage von seiten der Hohenpriester

Exkurs: Das Gesetz des Despoten und der Despotismus der Gesetzlichkeit

Die Erklärung der Loyalität für den Kaiser

Der Verrat des Judas

Exkurs zu einem Kommentar zum Judas-Bild der Evangelien und einem Kommentar zum Judas-Bild

Die Zeichnung der Charaktere bei Johannes

Die Sprache des Johannesevangeliums

Die Rede über die Juden im Johannesevangelium

Die antijüdische Lektüre des Johannesevangeliums: die Passionsgeschichte

Die Christianisierung des Imperiums und die Imperialisierung des Christentums

Das Christentum und die Macht des Imperiums

Die Platonisierung des Christentums durch die Christianisierung des Platonismus

Der Tod des Sokrates und der Tod Jesu

Die Ethik der Räuberbande und die Gerechtigkeit: Die perfekte Polis bei Platon

Die Begründung der Christenheit durch die Rezeption des Platonismus

Exkurs: Adam Smith und die Ethik der Räuberbande

Exkurs: Der Prolog des Johannesevangeliums

Die Kritik der Utopie gegenüber der Verneinung der Utopie

Die Entstehung der orthodoxen Christenheit

Exkurs: Cicero und das Gesetz der Republik kämpfen gegen den Aufstand des Catilina

Der Antisemitismus und seine Geschichte

Der antiutopische Antisemitismus: Luther und Calvin

Der radikal antiutopische Antisemitismus

Der Verzicht des Antiutopismus auf den Antisemitismus

Exkurs: Die Ersetzung des Antisemitismus in der Lehre von Papst Johannes Paul II

Die universale Verneinung der Utopie und die Kritik der utopischen Vernunft

Zur Kritik des zynischen Kapitalismus - die Ideologiekritik und die Kritik des Nihilismus

Der utopische Kapitalismus

Der nihilistische Kapitalismus

Die zerstörerische Wahrhaftigkeit

Die Etappen des Systems der Moderne

Die Negation der Wirklichkeit im nihilistischen Kapitalismus

Die Aushöhlung des utopischen Kapitalismus durch den neoliberalen Populismus

Die virtuelle Wirklichkeit

Eine Art Ergebnis

Die Wiederkehr des verdrängten lebenden Subjekts

Der Andere als Eigentümer

Der Andere als Feind im Kampf bis auf den Tod

Der Andere als lebendes Subjekt

Mord ist Selbstmord: Den Ast absägen, auf dem wir sitzen?

Die Globalisierung als Verantwortung für den Globus

Der Markt und die Methode der Erfahrungswissenschaft: Die globalisierte Verantwortungslosigkeit

Die Zerreißprobe als Grenze

Die Ethik des Gemeinwohls

Die Verantwortung und der Anthropozentrismus

Die größte Torheit des XX. Jahrhunderts

Endnoten / Fussnoten

Impressum neobooks

Vorwort der Herausgeber

Widmung.

 

Ich widme dieses Buch meiner Frau Vilma.

Die Veröffentlichungen von Franz Josef Hinkelammert sind in Lateinamerika weithin bekannt. Dieses Jahr (2015) hat er seine fünfte Ehrendoktorwürde bekommen. Seine Bekanntheit gründet vor allem auf seine langjährige Tätigkeit als Leiter des „Departamento Ecumenico de Investigacion “ (DEI) in Costa Rica wo er noch heute wohnt und seinen zahlreichen Veröffentlichungen.

Erstaunlich ist, dass er in seinem Geburtsland, Deutschland nahezu unbekannt ist. Dabei sind die Themen seiner Bücher besonders für Europäer von großem Interesse. Dies gilt umso mehr für die heutige Zeit in der die Spannungen zwischen Europa und einem großen Teil der weniger industrialisierten Welt größer werden und Lösungen nötig sind.

Wir, die Herausgeber, denken, dass Franz Josef Hinkelammert, der auch unser Vater ist, einen wichtigen Beitrag zur Diskussion leisten kann, welchen Weg Europa gehen soll. Dieses Buch erweitert den oftmals eng gewordenen Blick auf aktuelle und auch schon länger bestehende Problemfelder unserer Gesellschaft durch den Blick von außen. Dieser Blick ist ungewohnt und radikal. Hier wird eine Perspektive eingenommen, die noch nie notwendiger war als heute.

Johannes Hinkelammert

Anna Molnos

Zu dieser Ausgabe:

Dieses vorliegende Buch ist die deutsche Ausgabe eines Buches, das im Jahre 1998 in Costa Rica in spanischer Sprache erschien. Es ist aber keine einfach Übersetzung, sondern eine weitegehende Umarbeitung dieses Textes. Ich habe vor allem die Interpretation der Kapitel 8 und 10 des Evangeliums des Johannes und die Analysen des Antisemitismus vertieft.

Diese Umarbeitung ist das Ergebnis von vielen Diskussionen, die ich in dieser Zeit mit Lesern gehabt habe, die ihre Kommentare machten. Sie entspricht aber vor allem den Diskussionen, die ich in den Sitzungen verschiedener Seminare gehabt habe, die ich im DEI (Departamento Ecuménico de Investigaciones) mit Studenten dieser Institution durchgeführt habe. Allen diesen Teilnahmern möchte ich hier meinen Dank aussprechen. Daneben möchte ich einigen Mitarbeitern meinen besonderen Dank aussprechen:

In Bezug auf viele spezifische Probleme, verdanke ich vieles Germän Gutiérrez, Mitarbeiter des DEI, der in dieser gesamten Periode viel Zeit und Geduld für mich gehabt hat und viele Informationen und Hinweise beigetragen hat.

Ebenfalls möchte ich Elsa Tamez und Pablo Richard, Mitarbeitern des DEI, dafür danken, daß sie mir sehr häufig bei Zweifeln über die Übersetzung des Textes beigestanden haben. Ohne diese ständige Mitarbeit bei der Exegese der Texte wäre es für mich sehr viel schwieriger geworden, dieses Buch zu schreiben, da ich nur sehr geringe Kenntnis der giechischen Sprache habe.

Franz J. Hinkelammert

Prolog

Dieses Buch folgt Kierkegard. Nicht so sehr in seiner Philosophie, sondern seinem Rat, wie aman Bücher schreiben soll. Er sagte: Wenn du ein Buch schreiben willst, lies zehn Bücher, und dann schreib ein elftes. Sollte das Buch dann ein schlechtes Buch sein, glaube nicht, daß das daran liegt, daß du, um es zu schreiben, nur zehn Bücher gelesen hast.

Ich bin überzeugt, daß man heute ein Buch über das Evangelium des Johannes nur schreiben kann, wenn man dieser Methode folgt. Daher hat dieses Buch etwas von einem Spiel. Aber es hat eben auch etwas von der Ernsthaftigkeit eines Spiels.

Dieses Buch hat nicht zum Ziel, ein spezifisch theologisches Buch zu sein, obwohl das Evangelium des Johannes in seinem Zentrum steht. Allerdings enthält es eine Meinung über das, was Theologie ist. Es nimmt auch die Theologie als eine Reflektion, bei der es sich um die menschliche Wirklichkeit handelt. Wenn jemand über den Himmel spricht, spricht er nicht über den Himmel. In der Form des Himmels, spricht er über die Erde. Aus dem Himmel, den er beschreibt, können wir seinen Stand auf der Erde und seine Vorstellungen darüber, wie sie sein sollte, ablesen. So ist es auch, wenn jemand über die Hölle spricht: auch in diesem Falle spricht er über die Erde. Daher sagt er uns, wie er seine Feinde einschätzt und was er mit ihnen tun wird, wenn er tun kann, was er möchte. Der Himmel, von dem spricht, existiert in der Form, in der man über ihn spricht, ganz sicher nicht, ebensowenig die Hölle. Sollte es einen Himmel geben, so ist er mit sicherheit etwas ganz Anderes als das, was von ihm sagt. Aber deshalb ist das, was vom Himmel sagt, nicht unsinnig. In himmlischen Vorstellungen sagt es immer etwas über die Erde.

Ich bin überzeugt, daß dies in der Tradition des menschlichen Denkens sehr Häufig auch bewußt ist. Die Moderne hat allerdings zum großen Teil dieses Bewußtsein verloren. Aber es wurde auch wieder zurückgewonnen. Marx sieht dies sehr genau, und weiß, daß, wer über den Himmel spricht, auf himmlische Weise immer auch über die Erde spricht. Max Weber tut deben dies in seinen Analysen der Religionen. Wenn er die protestantische Ethik en ihrer Beziehung zum Geist des Kapitalismus untersucht, spricht er darüber, wie die englischen Puritaner des XVIII. Jahrhunderts sich die Erde bezogen, als sie über den Himmel sprachen und wie diese ihre Vorstellung vom Himmel die englische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschütterte und veränderte.

„Machen wir also die Erde zum Himmel“, fordert bereits der Kirchenvater Johannes Chrysostomus.1 In Wirklichkeit sagt das jeder, der einen Himmel denkt. Man muß dann fragen, was er sich unter dem Himmel vorstellt, um zu wissen, was er auf der Erde will.

Revolutionen auf der Erde setzen Revolutionen im Himmel voraus. Die Revolution im Himmel sagt etwas über mögliche Revolutionen auf der Erde. Dasselbe gilt für Konterrevolutionen. Ihnen geht eine Konterrevolution im Himmel voraus. Utopien und Idealtypen säkularisieren dieses Verhältnis zum Himmel, aber sie schaffen es nicht ab. Sie enthalten Reflektionen über unmögliche, aber perfekte Welten, die dann das aussagen, was man als Mögliches für diese Welt denkt.

Daher können wir eine Geschichte des Himmels und eine Geschichte der Hölle schreiben, und eines Geschichte Gottes und des Teufels, ganz so, wie wir Geschichten von Gesellschaften schreiben können. Insgesamt aber werden diese Geschichten eine einzige Geschichte der Menschheit ausmachen. In dieser Geschichte aber kann die Religion niemals ein bloßer Überbau sein. Sie steckt kategoriale Räume ab, innerhalb derer die wirkliche Geschichte vor sich geht. Himmel können Höllen implizieren, aber es gibt Höllen, die Himmel implizieren. Wenn heute die Hölle auf Erden für die Mehrheit der Bevölkerung produziert wird, so gibt es Minderheiten, die diese Hölle als ihren Himmel ansehen. Auch sie haben stheologische Reflektionen über den Himmel, und dieser Himmel hat etwas mit den Höllen zu tun, die hervorgebracht werden.

Ich verstehe das Evangelium des Johannes unter diesem Gesichtspunkt. Er schafft zentrale Kategorien, die bis heute in all unserem Denken über den Menschen und die Gesellschaft gegenwärtig sind. Es mag sich um einen theologischen Text handeln, aber man wird ihn niemals verstehen, wenn man nicht davon ausgeht, daß theologische Texte die Wirklichkeit interpretieren. Sie sprechen auf theologische Weise über die Wirklichkeit. Nur deshalb kann daraus etwas hervorgehen, wie hier tatsächlich hervorging: ein Welttheater.

Der größere Teil des Buches untersucht das Evangelium des Johannes, das Welttheater, das er entwickelt und seine Verwandlungen bis heute. Hierauf wurden am Ende des Buches zwei Arbeiten über den heutigen Globalisierungsprozeß eingeschlossen, die den Thesen des Hauptteils entsprechen und sie für unsere heutige Gegenwart vertiefen können.

Man sagt, daß im europäischen Mittelalter und besonders im XIV. Jahrhundert nach dem Ausbruch der Großen Pest Feste gefeiert wurden, in denen man tanzte, bis auch der letzte von der Pest hinweggerafft wurde. Unsere Gesellschaft heute tanzt diesen Tanz. Es wäre notwendig, ihn zumindests einen Moment zu unterbrechen, um darüber nachzudenken, ob es nicht besser wäre, der Pest entgegenzutreten um sie aufzuhalten anstatt diesen Todestanz bis zu Ende zu tanzen

Einführung: Methodologische Grundlegung

Im Folgenden will ich den Text des Evangeliums des Johannes als einen Gründungstext unserer Kultur behandeln. Es gibt Schlüsselprobleme der Moderne, die in diesem frühen Text auftauchen, der auf radikale Weise mit der griechisch-römischen Tradition bricht. Johannes ist ein christlicher Jude, der seinen Text außerhalb Palestinas schreibt. Er richtet sich an die Christen seiner Region, die sowowhl jüdische als auch römische nichtjüdische Christen sind. Er schreibt über den Juden Jesus, der in Palestina vor der Zerstörung des Tempels und daher in einer jüdischen Umgebung lebte, in der der Tempel alles menschliche Zusammenleben prägte. Daher war das Judentum in dieser Zeit nicht einfach eine Religionsgemeinschaft, sondern eine als Religionsgemeinschaft organisierte jüdische Nation. Daher bezieht sich das Evangelium direkt auf eine jüdische Gesellschaft: das jüdische Gesetz, der Tempel, der Sanhedrin, die Farisäer und die Saduzäer. Dennoch, in einem zentralen Teil des Evangeliums erscheint die herrschende Macht des römischen Imperiums in der Gestalt des Statthalters Pontius Pilatus. Jerusalem und der Tempel haben zwar ein jüdische Autorität, aber diese hat lediglich eine relative Autonomie innerhalb des Imperiums, dem sie unterworfen sind.

Das Evangelium des Johannes, das über diese Vorgänge berichtet, wird allerdings in einer völlig anderen Umgebung geschrieben und nach einem Zeitraum von über einem halben Jahrhundert. Man nimmt heute an, daß es in den achziger oder neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts geschrieben wurde. Jerusalem und der Tempel sind zerstört, es gibt keine als Nation organisierte jüdische Gesellschaft mehr und die Juden jüdischer Religion sind genau so zerstreut wie es die Christen sind. Sie haben keine politische jüdische Autorität mehr und auch kein Gebiet mehr, in dem sie politische Autonomie hätten. Es gibt keinen Hohenpriester mehr und sie organisieren sich jetzt als Religionsgemeinschaft von ihren Synagogen aus; ihre politisch-religiöse Autorität wird zur rabbinischen Autorität.

Die Christen sind jetzt von der jüdischen Religion getrennt, und die Synagoge verweigert ihnen den Zugang. In den vorhergehenden Jahrzehnten und vor allem vor der Zerstörung des Tempels war der Tempel weiterhin auch das Gotteshaus der Christen, weil er das Gotteshaus einer gesetzlich begründeten Nation war. Er war es, auch wenn die Christen bereits eine eigene Identität entwickelten und ihre Gegenwart nur ertragen wurde. Jetzt hingegen bricht ein ernsthafterer Konflikt auf zwischen Christen und Juden und das Wort Juden bezieht sich immer mehr auf die Anhänger der jüdischen Religionsgemeinschaft. Die Christen verlieren ihre jüdische Identität, auch wenn sie aus der jüdischen Tradition kommen. Das Evangelium des Johannes macht diese Situation gegenwärtig und geht von ihr aus. Es richtet sich an Christen, die jetzt von den Juden getrennt sind, seien diese Christen nun von jüdischer Herkunft oder nicht. Sein zentrales Problem aber ist nicht etwa, die Beziehung zu den Juden der Synagoge zu interpretieren, sondern die Stellung dieser Christen - und ihr Verhältnis zu den Juden - innerhalb des römischen Imperiums. Das Evangelium des Johannes erzählt die Geschichte Jesu, die in einem jüdischen Palestina vor sich geht, das einen autonomen Staat hat, um von da aus zu Christen zu sprechen, die im römischen Imperium leben ohne irgendeine Vermittlung irgendeines jüdischen, autonomen Staates. Indem es über das Leben Jesu in Palestina spricht, muß es gleichzeitig, wenn auch verschlüsselt, über das Leben dieser Christen in Teilen des Imperiums sprechen, die wenig mit dieser Geschichte zu tun haben oder sie vollends verloren haben. Dies gibt in diesem Evangelium eine besondere Wichtigkeit der Figur des Pontius Pilatus, denn hier spitzt sich die Beziehung Jesu und des Sanhedrins zum Imperium zu.

Nun ist der Text des Evangliums des Johannes ein geschriebener Text. Daher kann man seine wörtliche Darstellung nicht mehr ändern. Dennoch ändern auch diese Texte im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung.

Dies kann sehr einfache Gründe haben. Der Text stand nicht immer wörtlich fest, sondern erst von seiner Kanonisierung an. Immer gibt es daher eine Zeit, in der sie umgeschrieben wurden. Es gibt keine ursprünglichen Manuskripte. In einer Zeit, in der das Material, auf dem der Text geschrieben steht, nur sehr begrenzte Zeitdauer hat wie das beim Papyrus der Fall ist, wird der Text uns in Form von Kopien des Originals übermittelt, die selbst geschriebene Texte sind. Der Kopierer kann den Text ändern oder sich beim Kopieren irren. Er kann auch Einschübe machen, die vom geschrieben Manuskript her nicht erkennbar sind, wenn das Orginal, das kopiert wird, nicht erhalten ist. Man braucht dabei keinerlei Absicht der Fälschung zu unterstellen. Der Kopieren kann das Manuskript ändern, weil es es verbessern oder verständlicher machen will. Aber immer wird es seine eigene Interpretation des Textes sein, die darüber entscheidet, welcher Einschub den Text verbessert und welcher nicht. Es gibt nur geringe Möglichkeiten, solche Veränderungen zu entdecken, solange man nicht vorhergehende Originalmanuskripte findet. Man kann Spuren solcher Änderungen natürlich manchmal feststellen. Eine Änderung des Schreibstils kann darauf hinweisen. Aber auch der Gesamtzusammenhang des Textes kann zeigen, daß bestimmte Stellen des Textes im Widerspruch zu diesem Gesamtzusammenhang stehen und daher spätere Einschübe sein können. Aber alles dies bleibt unsicher, denn auch das, was wir den Gesamtzusammenhang des Textes nennen können, ist selbst wieder eine Interpretation des Textes selbst. Solche Einschübe können auf die Bedeutung des Textes Einfluß gewinnen, auch wenn sie den Text nicht als Sinnzusammenhang zerstören können.

 

Es gibt aber eine andere Änderung des Textes, die viel wichtiger ist als irgendwelche teilweisen Einschübe. Es handelt sich um Änderungen des Sinnzusammenhangs des gesamten Textes. Jeder Text ist ein Sinnzusammenhang auf der Basis von Worten, die eine Bedeutung haben. Auch wenn es unmöglich ist, die wörtliche Gestalt des Textes zu verändern - zumindest wenn es sich um einen geschriebenen Text handelt - so kann der Sinnzusammenhang des Textes sich ändern in dem Grade, in dem die Worte ihre Bedeutung ändern, die dem Text zugrundeliegen. Im Laufe der Geschichte ändern Worte ihre Bedeutung. Ihre Bedeutung kann auch bewußt verändert werden, um den Sinnzusammenhang eines Textes zu beeinflussen, der als geschriebener Text nicht änderbar ist. Daher verändert sich im Laufe der Geschichte der Sinnzusammenhang, der durch den Text wiedergegeben wird. Der Text kann, ohne sich als Text zu verändert, heute etwas ganz anderes bedeuten als er gestern bedeutet hat. Wenn die alte Bedeutung der Wortee verloren geht, ändert sich die Bedeutung des Textes als Sinnzusammenhang, auch wenn er wörtlich der gleiche bleibt. In einem solchen Prozeß kann die Bedeutung des Textes sogar in ihr Gegenteil umschlagen, selbst ohne daß dies das Ergebnis irgendeiner Absicht ist, sei sie eine schlechte oder eine gute. Will man jetzt den ursprünglichen Sinn des Textes muß man die ursprüngliche Bedeutung der Worte wiedergewinnen, aus denen sich der Text zusammensetzt.

Heilige Texte haben natürlich genau dasselbe Problem der Ambivalenz. Auch sie sind in jedem Moment bedeutungsambivalent und auch sie verändern im Laufe der Geschichte ihre Bedeutung als Sinnzusammenhang. Es gibt keine eindeutigen Texte. Folglich gibt es auch keine “wörtliche” Interpretation des Textes, die eindeutig wäre und die über jeden Zweifel erhaben wäre. Dies verwirrt gerade dann, wenn es sich um Heilige Texte handelt, die als unumstößlich gültig betrachtet werden. Von solchen Texten nimmt man an, daß sie schlechterdings die Wahrheit sagen. Aber wenn jeder Text ambivalent ist, welche Version des Textes ist dann die wahre? Über diese Frage kann nicht der Text entscheiden, aber auch nicht ein neuer Text, der die angeblich richtige Version bezeichnet. In bezug auf Heilige Texte werden dann Autoritäten eingesetzt, die zu entscheiden haben, welche Version des Textes die wahre ist. Aber für diese Entscheidung gilt dann wieder dasselbe: auch sie ist ambivalent, denn auch sie mündet in einen Text ein. Dies ist dann das Problem eines jeden Anspruchs auf Unfehlbarkeit. Wenn jeder Text ambivalent ist, so ist es der für unfehlbar gehaltene Text auch. Daher kann nie ein Text unfehlbar sein, denn die Voraussetzung eines unfehlbaren Textes ist eine unfehlbar eindeutige Sprache. Auch wenn diese Autorität die unfehlbare Wahrheit weiß, kann sie sie nicht sagen. Folglich kann sie sie auch nicht haben. Diese Eindeutigkeit gibt es nicht, denn nicht einmal formalisierte Sprachen haben nie diesen Grad der Eindeutigkeit.

Die Änderung des Textes als Sinnzusammenhang ist in der Geschichte sicher unvermeidbar. Es entsteht dann der Versuch, den ursprünglichen Sinn des Textes zurückzugewinnen. Aber auch dieser Versuch bleibt zweifelhaft. Es gibt keinen Grund dafür, zu sagen, daß der historisch ursprüngliche Sinn eines Textes der wahre Sinn ist. Der wahre Sinn könnte auch später erst entdeckt worden sein. Möglicherweise hat der Text überhaupt keinen ursprünglichen Sinn in dieser begründenden Bedeutung. Im Text selbst aber können wir solch eine ursprüngliche Bedeutung ganz sicher nicht finden. Wenn der Text ambivalent ist, dann sind alle möglichen Interpretationen eben von Anfang an in ihm enthalten, auch wenn man sie noch nicht weiß. Es ist dies wie die Frage nach der wahren Absicht des Autors bei der Verfassung eines Textes. Es ist zweifelhaft, daß der Autor eine wahre Absicht überhaupt hat, und wenn er sie hat, ist sie für die Bedeutung des Textes letztlich irrelevant und vorwiegend ein Interesse für Biographen.

Nimmt man dies alles zur Kenntnis, dann scheint die Interpretation des Textes ein verlorenes Unternehmen. Tatsächlich ist es wie im Falle der Ambivalenz bestimmter Zeichnungen. Man hat eine Ente gezeichnet die, wenn man sie etwas anders betracht, ein Kaninchen ist. Je nach dem Wechsel unserer Position sehen wir eine Ente oder ein Kaninchen. Wir können aber nicht sagen, ob die Zeichnung nun die einer Ente oder eines Kaninchens ist. Auch wenn wir jetzt wissen, daß der Zeichner ursprünglich eine Ente gezeichnet hat und vom Kaninchen nichts gewußt hat, so hilft uns das für die Entscheidung überhaupt nicht. Die Ente ist dann der ursprüngliche Sinn, aber dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die Zeichnung auch ein Kaninchen zeigt, wenn wir sie nur aus der entsprechenden Perspektive betrachten.

Dennoch ist die Interpretation des Textes keineswegs ein verlorenes Unternehmen. Der Text ist ambivalent, und häufig kann er sogar gegensätzlich und daher als Umkehrung gelesen werde. Er besagt dann das eine und auch das Gegenteil. In diesem Sinne widerspricht er sich dann selbst. Aber er ist deshalb nicht beliebig. Das ist auch wie bei der Ente und dem Kaninchen. Wir sehen eine Ente und dann ein Kaninchen. Aber wir können die Zeichnung betrachten wie wir wollen, wir werden keinen Elephanten entdecken. Der Text, auch wenn er einen doppelten Sinn hat oder mehrsinnig ist, ist dennoch nicht beliebig. Er enthält Optionen, aber nicht alles mögliche ist eine Option innerhalb des Textes. Der Text öffnet einen Raum von Optionen, aus dem andere Optionen ausgeschlossen sind. Diese Optionen aber sind nicht notwendig graduale Optionen. Sehr viel wichtiger sind die sich gegenseitig ausschließenden Optionen, die sich widersprechen. Der Text sagt dann aus einer Perspektive das eine aus, aber aus einer anderen das Gegenteil davon.

Gerade in der jüdisch-christlichen Tradition gibt es eine Fülle von Beispielen für diese Umkehrungen oder Inversionen ihres Sinnzusammenhanges, die diese Texte durchmachen und die innerhalb von Texten stattfinden, die ihrem Buchstaben nach völlig unverändert bleiben. Die Tatsache, daß zwei sich widersprechende Versionen im gleichen Text enthalten sind, bedeutet allerdings keineswegs, daß beide Versionen gleichberechtigt sind und die gleiche Lgitimität haben. Es gibt ein Wahrheitskriterium. Dieses aber liegt nicht im Text, sondern geht ihm voraus. Nur weil es dieses Wahrheitskriterium gibt, entstehen zwei sich widersprechende Versionen. Dieses Wahrheitskriterium ist das Opfer. Deshalb ist die Version des Isaakopfers, in der Abraham sich dem Gott, der das Opfer seines Sohnes fordert, widersetzt, die wahre Version, in der Abraham den Gott Abrahams entdeckt und achtet, der der Gott des Geopferten ist. Sie ist höchstwahrscheinlich auch die ursprüngliche Version. Aber sie ist nicht wahr, weil sie die ursprüngliche ihrer Genesis nach ist, sondern sie ist die ursprüngliche, weil sie wahr ist. Die entgegengesetzte Version, in der Abraham seinen Glauben dadurch beweist, daß er bereit ist, seinen Sohn zu opfern, ist falsch. Auch wenn sie den Text nicht ändert, ist sie ein Umkehrung. Als Text enthält dieser Text immer noch die Wahrheit. Aber sie ist verneint Es ist die Wahrheit der Orthodoxie, die zwar die Wahrheit hat, sie aber in der verneinten Form gefangen hält. Diese Orthodoxie benutzt den Text so, daß die Wahrheit, die er enthält, verneint wird. Im Namen des Textes wird die Wahrheit des Textes unterdrückt. Die Orthodoxie ist das Gefängnis der Wahrheit. Schon Thomas von Aquin sagt darüber: Was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, aber in einem leeren Kopf? In Wirklichkeit aber ist es schlimmer: was nützt es dem Menschen, wenn er die Wahrheit hat, sie aber nur als verneinte Wahrheit mitschleppt. Die Wahrheit aller Erkenntnis liegt nicht in der Erkenntnis. Sie ist ein Weg der Befreiung des Opfers vom Opfer.

Diese Umkehrungen eines Sinnzusammenhanges können natürlich erleichtert werden durch Übersetzungen von einer Sprache in die andere, hängen aber keineswegs davon ab. Dennoch erhöht jede Übersetzung die Ambivalenz eines Textes. Der Text, der als solcher schon ambivalent ist, bekommt durch die Übersetzung neue Ambivalenzen: traductor - traidor. Der Übersetzer ist Verräter, aber er ist es nicht notwendig seiner Absichten wegen, sondern einfach deswegen, weil es nie Worte derselben Bedeutungsbreite in den verschiedenen Sprachen gibt. Daher sind die Umkehrungen der Sinnzusammenhänge damit leichter zu bewerkstelligen. Es gibt sehr offensichtliche Beispiele. So wurde in den letzten Jahrzehnten der Sinnzusammenhang des Pater Noster durch Rückgriff auf Übersetzungen verändert. Der alte Text lautet: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben. Er wurde ersetzt durch: Vergib uns unsere Beleidigungen, wie auch wir denen vergeben, die uns beleidigt haben. So erscheint dann der ursprüngliche griechisch geschriebene Text in zwei sich widersprechenden Übersetzungen, die beide behaupten, den Sinn des Originals wiederzugeben. Das Original als Text wird daher nicht verändert. Aber in diesem Fall ist der Mechanismus außerordentlich transparent und es ist leicht, die zweite Übersetzung als Fälschung zu entlarven. Dennoch bleibt die Analogie mit den vorhergehenden Beispielen erhalten.

Diese Umkehrungen des Sinnzusammenhangs der christlichen Mysterien und Lehren geschehen vom ersten Jahrhundert an, aber sie brauchen viele Jahrhunderte, um sich durchzusetzen.Sie verwandeln ein Christentum, das vom Standpunkt des Armen, des Ausgeschlossenen und des Opfers her entstanden war, in ein orthodoxes Christentum, das vom Gedsichtspunkt der Macht her denkt. Der Weg des Christentum an die Macht und zum christlichen Imperium bezieht sich also nicht einfach auf den Zugang zur politischen Macht, sondern verwandelt das ganze Christentum von seinem Innern her, indem es die christlichen Mysterien und Lehren umkehrt.

Innerhalb dieser Umkehrung der christlichen Vorstellungen ist die Bedeutung der griechisch-römischen Philosophie, insbesondere des Platonismus und der Stoa, zu suchen. Diese Philosophie denkt ganz ausschließlich von der Macht her. Sobald das Christentum sich auf die Bekehrung des Kaisers und daher der Macht konzentriert, kehrt es sich um. Der Konflikt von Christentum und Imperium hört auf, und die griechisch-römische Philosophie gibt jetzt die begrifflichen Mittel, um diese Umkehrung durchzuführen. Es wird nicht etwa platonisch, sondern integriert den Platonismus in dieser seiner Umkehrung ins Gegenteil des Sinnzusammenhangs der christlichen Botschaft. Diese gibt weiterhin den kategorialen Rahmen des Denkens an, aber seine Umkehrung ins Gegenteil findet durch Rezeption der griechisch-römischen Philosophie statt. Deshalb wird in dieser Umkehrung das griechisch-römische Denken ebenfalls ganz radikal verändert.

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