Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar

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Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar
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Georg W. Bertram

Hegels »Phänomenologie des Geistes«

Ein systematischer Kommentar

Reclam

Durchgesehene Ausgabe 2021

© 2017, 2021 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961252-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019443-0

www.reclam.de

Inhalt

  Einführung Die Entstehung der PhG Gestalt und Struktur der PhG Die zentralen Fragen und Thesen der PhG Zielsetzung und Aufbau des Kommentars

 I. EinleitungÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 II. BewusstseinÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 III. SelbstbewusstseinÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 IV. VernunftÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 V. Geist, erster Teil: Die sittliche WeltÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 VI. Geist, zweiter Teil: Die BildungÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 VII. Geist, dritter Teil: Die MoralitätÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 VIII. ReligionÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 IX. Das absolute WissenÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 X. VorredeÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische Ertrag

 LiteraturhinweiseWerke HegelsÜbersichtsdarstellungen zur PhG und zu Hegels PhilosophieWeiterführende Literatur zur PhG und zu Hegels PhilosophieSonstige Literatur

Einführung

Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes (PhG) sieht sich mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Hegel galt und gilt für viele der ihm nachfolgenden Philosophinnen und Philosophen als ein besonders unzugänglicher Autor. Oft wurde er als Dunkelmann gescholten und aus der philosophischen Tradition verbannt. Zugleich aber ging von Hegel immer eine besondere Faszination aus, die sich zum Beispiel inzwischen darin niederschlägt, dass er in der sogenannten sprachanalytischen Tradition, in der er lange Zeit verpönt war, mehr und mehr rezipiert wird.1 Für die entsprechenden negativen und positiven Vorurteile Hegel gegenüber ist besonders seine PhG verantwortlich. Sie sticht aus Hegels Werk heraus. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass es sein erster großer Wurf und zugleich ein sehr eigenwillig komponiertes Buch ist. Die PhG bietet einerseits eine umfassende Weiterentwicklung der großen philosophischen Entwürfe von Kant, Fichte und Schelling – Hegels Vorgängern. Dabei führt sie in umfassender Weise Fragestellungen der theoretischen und der praktischen Philosophie zusammen. Andererseits entwickelt sie eine großangelegte Rekonstruktion der abendländischen Philosophie- und Geistesgeschichte. Schon allein die Kombination dieser unterschiedlichen Zielsetzungen hebt die PhG auch aus Hegels Werk heraus: Es ist ein rundum hybrides Buch.

Den weitreichenden Ambitionen des Textes stehen die Leserinnen und Leser aber in mancher Hinsicht hilflos gegenüber. Oftmals gewinnen sie – zu Recht – den Eindruck, dass Hegel nicht klar sagt, was er eigentlich sagen will. Zudem bleibt immer wieder unklar, warum Hegel in so komplexer Weise historische Überlegungen mit systematischen Überlegungen verbindet, so dass sich an unterschiedlichen Stellen des Textes die Fragen stellen, welche Bedeutung die historischen Bezüge haben und warum Hegel es nicht bei systematischen Überlegungen belassen hat – zumal die systematischen Zusammenhänge, die er in den Blick nimmt, durchaus ausreichend komplex und schwer zu durchschauen sind.

Diesen Schwierigkeiten bei der Lektüre der PhG steht der Zauber gegenüber, den der Text ausübt. Gerade seine unorthodoxe Gestalt, seine pointierte und polemische Diktion und sein allumfassender Erklärungsanspruch ziehen Leserinnen und Leser immer wieder aufs Neue in ihren Bann. Oft hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass hier Bedeutsames geschieht, auch wenn man nicht genau zu sagen weiß, was es denn nun eigentlich ist. Die Suggestionskraft von Hegels Schreiben und Denken mag ein Grund dafür gewesen sein, dass man ihm gegenüber misstrauisch geworden ist und – wie dies zum Beispiel im Umfeld des Neukantianismus auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert der Fall war – die vergleichsweise klarere und nüchternere Diktion Kants vorzieht.

Hegels Text ist aber unbedingt der Auseinandersetzung wert. Dafür ist es erforderlich, ihn so zu interpretieren, dass sein Beitrag zu systematischen Fragestellungen verständlich wird. Dieser Kommentar will eine entsprechende Interpretation entwerfen.

Diese kurze Einführung setzt sich zur Aufgabe, das so weit umrissene Vorhaben in vier knappen Abschnitten vorzubereiten. Im ersten dieser Abschnitte gebe ich einen Überblick über die Entstehung des Textes, bevor ich ihn im zweiten in seinen Eigentümlichkeiten charakterisiere. Der dritte Abschnitt skizziert in einer ersten Annäherung, worum es in Hegels PhG in der Sache geht. Der vierte und letzte Abschnitt erläutert schließlich genauer die Ziele und den Aufbau des Kommentars.

Die Entstehung der PhG

Hegels Weg in die akademische Philosophie war alles andere als gradlinig. Nach seinem Studium am Tübinger Stift von 1788 bis 1793 (das er mit der theologischen Konsistorialprüfung abschloss), arbeitete er zunächst als Hauslehrer (damals nannte man den entsprechenden Beruf »Hofmeister«). Er war dabei zuerst in Bern und dann, auf Vermittlung seines Jahrgangsgenossen und Freundes aus Tübinger Tagen Friedrich Hölderlin (1770–1843), in Frankfurt. Als Hegels Vater im Jahr 1799 starb, erbte Hegel eine größere Summe. Dies ermöglichte es ihm, seine Tätigkeit als Hofmeister an den Nagel zu hängen und sich wieder im engeren Sinn seinen Studien zu widmen. So ging er im Januar des Jahres 1801 nach Jena.

Es ist nicht so, dass Hegel in den Jahren seiner Hauslehrertätigkeit nicht auch wissenschaftlich gearbeitet hätte. Dennoch intensiviert sich seine Arbeit mit der Ankunft in Jena erheblich. Schon nach einem halben Jahr legte er (an seinem 31. Geburtstag, dem 27. August 1801) seine Habilitation ab und begann im Wintersemester 1801/02 damit, als Privatdozent (also – das ist bei dieser Form der Zugehörigkeit zum Lehrkörper einer Universität heute noch genauso, wie es damals war – ohne feste Bezahlung) Vorlesungen zu halten.

 

Als Hegel nach Jena kam, stand die dortige Universität durchaus noch in ihren Blütejahren, wenn auch kurz vor deren Ende. Gerade im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatte sie, unter der Herrschaft Carl Augusts (1757–1828) und seines Ministers Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), eine große Bedeutung, die wesentlich darin bestand, dass Jena zu einem Ort der seinerzeit modernsten Philosophie in deutscher Sprache wurde. Bereits 1789 hatte der Kantianer Karl Reinhold (1757–1823) seine Lehrtätigkeit an der Universität aufgenommen – in demselben Jahr übrigens, in dem Friedrich Schiller (1759–1805) seine Geschichtsprofessur antrat. 1794 wurde dann Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) berufen und 1798 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), der, obgleich fünf Jahre jünger als Hegel, in denselben Jahren wie Hegel und Hölderlin gemeinsam mit den beiden am Tübinger Stift studiert hatte. Da Fichte und Schelling beide mit dem Anspruch auftraten, Kants moderne Philosophie, die Transzendentalphilosophie, ihren eigenen Maßstäben entsprechend weiterzuentwickeln und von Problemen zu befreien, und beide aufgrund ihrer Schriften als avancierteste philosophische Stimmen anerkannt waren, hatte Jena in dieser Zeit eine philosophiegeschichtlich außerordentliche Stellung. Deren Ende kündigte sich im Jahr 1799 an, als Fichte der gegen seine Philosophie erhobenen Atheismus-Vorwürfe wegen die Professur räumen musste und Jena verließ.

Hegel wurde nach seiner Ankunft in Jena von seinem Freund Schelling unterstützt, mit dem er auch ein gemeinsames Projekt aufnahm: das Critische Journal für Philosophie. Mit diesem Journal profilierte Hegel sich nicht nur als Mitstreiter Schellings, sondern gewann auch ein Publikationsorgan, in dem er erste wichtige Abhandlungen veröffentlichen konnte. Darüber hinaus trat er auch gleich mit einer ersten Monographie an die Öffentlichkeit, die 1801 erschien und sich einem Vergleich der Philosophien Fichtes und Schellings (vor dem Hintergrund der Kantischen Philosophie) widmet. Der genaue Titel des Buches lautet: Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (es hat sich eingebürgert, diesen Text kurz als »Differenz-Schrift« zu bezeichnen). Hegel wurde mit seinen Überlegungen allgemein als Parteigänger von Schelling wahrgenommen. Das ist insofern verständlich, als Hegel sich in seinem Vokabular und seiner Kritik an Fichte unübersehbar Schelling anschließt, ist aber zugleich auch unberechtigt, da sich schon in diesem ersten Buch Hegels eine eigene Position andeutet – vor allem eine Positivierung der Begriffe des Widerspruchs und der Entfremdung.

Hegel wollte es dabei jedoch nicht belassen. Gleich im Zuge der ersten Vorlesung im Wintersemester 1801/02 kündigte er ein Buch an, das sein eigenes System entwickeln sollte und an dem er seine Vorlesungen orientieren wollte. Dieses Buch aber kam längere Zeit nicht zustande. Hegel arbeitete durchweg an Texten, vielfach auch im Zusammenhang seiner Lehrtätigkeit. Diejenigen dieser Texte, die uns erhalten geblieben sind, zeigen deutlich die Entwicklung von Hegels eigener Philosophie, für die besonders auch die Auseinandersetzung mit Fichtes Denken von größerer Bedeutung ist. Bereits im Jahr 1802, also im zweiten Jahr seiner Zeit in Jena, hat Hegel ein Manuskript verfasst, das unter dem Titel »System der Sittlichkeit« bekannt geworden ist. Dabei orientiert Hegel sich kritisch an Fichtes Grundlagen des Naturrechts von 1796 und dem dort eingeführten Begriff der Anerkennung. Anerkennung ist für Fichte ein transzendentales Prinzip des Bezugs von selbstbestimmten und in diesem Sinn rationalen Individuen aufeinander. Sie können Selbstbestimmung nur dann für sich reklamieren, wenn sie sie auch anderen zugestehen, diese also als gleichermaßen selbstbestimmte Individuen anerkennen. Fichtes Gedanke hat, so zeigen die frühen Jenaer Arbeiten, von Anfang an eine große Faszinationskraft auf Hegel ausgeübt. Er sah in ihm das Potential, Probleme der von Kant, Fichte und Schelling vorgelegten Positionen zu lösen. Insofern lässt sich die Kritik des Naturrechts-Ansatzes von Fichte, die Hegel auch in einer Abhandlung im Critischen Journal publiziert hat, als Keimzelle der Loslösung auch von seinem Freund Schelling begreifen.

Diese Loslösung wurde im Jahr 1803 erheblich dadurch beschleunigt, dass Schelling – wie viele andere seiner renommierteren Kollegen – Jena verließ und einen Ruf an die Universität Würzburg annahm. Durch diesen Weggang war Hegel nun in Jena in mehrfacher Weise auf sich allein gestellt. Erstens fiel die gemeinsame Arbeit am Critischen Journal weg – das Journal wurde, nach zwei Jahrgängen mit jeweils drei Heften, wieder eingestellt. Zweitens verlor Hegel seinen Mentor und Unterstützer. Drittens verlor Jena nach Fichte nun auch die zweite maßgebliche Stimme avanciertesten Philosophierens in deutscher Sprache. Aus Schellings Abschied ergab sich deshalb für Hegel sicherlich im ersten Moment eine schwierige Situation. Im zweiten Moment bot sich ihm damit aber auch eine gute Gelegenheit, sich selbst zu profilieren. Und letztlich nutzte er diese Gelegenheit. Er erarbeitete sich in den Folgejahren bis zu seinem Abschied aus Jena im März 1807 die Grundlage dafür, sich seinerseits als eine wichtige neue Gestalt in der deutschsprachigen Philosophie zu etablieren.

Auch wenn Hegel in den Jahren nach 1803 nach wie vor als Privatdozent ohne feste Bezahlung tätig war, so erregte seine Lehrtätigkeit in Jena zunehmend größere Aufmerksamkeit. Gerade in den Vorlesungen der Jahre von 1803 bis 1806 zeichnet sich auch mehr und mehr eine neue Konzeption ab, die dann ihre erste Gestalt in der PhG fand. Diese Vorlesungen werden heute unter dem Titel Jenaer Systementwürfe I–III diskutiert (früher waren zwei von ihnen unter dem Titel Jenaer Realphilosophie I+II bekannt). In ihnen wird nicht nur der von Fichte her entwickelte Anerkennungsbegriff immer wichtiger, sondern es wird zunehmend auch der Idealismus Schellingscher Prägung überwunden, also eine primäre Orientierung an der grundlegenden Einheit von Subjekt und Objekt. Hegel geht es im Gegensatz dazu nun besonders um die Auseinandersetzungen von Subjekten mit Objekten und um diejenigen von Subjekten mit anderen Subjekten – kurz gesagt: um Differenzen und Konflikte. Von einer Einheit kann ihm zufolge nur auf Basis dieser Differenzen und Konflikte die Rede sein. Dabei betont er, wie vor ihm bereits Fichte und Schelling, die Bedeutung von Praxis, die er aber konkreter versteht als seine Vorgänger. Sowohl die Auseinandersetzung mit Objekten als auch diejenige mit anderen Subjekten muss demnach unter Rekurs auf historisch-kulturell entwickelte Praktiken gedacht werden.

Nicht zuletzt seine sich zusehends verschlechternde ökonomische Situation brachte Hegel wohl dazu, den lange gehegten Plan einer Niederschrift seines Systems in einem eigenen Buch nicht weiter aufzuschieben. Die im Jahr 1805 aufgenommene Arbeit an dem Text, den wir als PhG kennen, verlief jedoch nicht ohne Komplikationen. So hatte Hegel mit dem Verleger (Goebhardt in Bamberg) eigentlich vereinbart, dass er bei der Ablieferung der Hälfte des Manuskripts entlohnt würde. Der Verleger wurde aber wegen Hegels unklarem Text- und Zeitmanagement so unruhig, dass er die Verabredung änderte und erst bei Abgabe des Gesamtmanuskripts zur Zahlung bereit war. Diese wurde – unter Vermittlung von Hegels Freund Immanuel Niethammer (1766–1848) – auf den 18. Oktober 1806 festgesetzt. Zu dem Druck, unter dem Hegel stand, trugen auch die politischen Umstände bei. Im Sommer 1806 entwickelte sich zunehmend ein Konflikt zwischen dem napoleonischen Frankreich und Preußen, der dazu führte, dass Napoleon mit seinen Truppen am 13. Oktober in Jena einmarschierte – am Vorabend der Schlacht von Jena und Auerstedt. Hegel hat sein Erstlingswerk mit diesen historischen Ereignissen verbunden, indem er behauptete, es an diesem Abend fertiggestellt zu haben. Richtig ist wohl, dass er das Ende des Buches in diesen Tagen fertigstellte und dann sehr besorgt war, das resultierende Teilmanuskript durch die feindlichen Linien zu seinem Verleger nach Bamberg bringen zu lassen (ein anderer Teil des Manuskripts befand sich schon lange dort und war, wie damals üblich, auch schon gedruckt worden). Erst im Januar 1807 aber lieferte er mit der Vorrede den letzten Textteil ab. Das Buch erschien dann im April 1807 unter dem Titel System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes, als Hegel Jena bereits verlassen hatte und als Redakteur bei der Bamberger Zeitung arbeitete.

Das Buch wurde zuerst nicht sonderlich euphorisch aufgenommen. Die erste Rezension am 6. August 1807 in der Oberdeutschen Allgemeinen Literaturzeitung kritisierte die PhG besonders für eine übertrieben idealistische Position. Moniert wurden eine angeblich intellektualistische Grundtendenz von Hegels Philosophie sowie eine Orientierung an einem allumfassenden Absoluten. Da Letzteres in der Position Schellings tatsächlich eine größere Rolle spielt, kann man vermuten, dass Hegel weiterhin durch die Brille seines Freundes gelesen wurde, von dessen Ansatz er sich inzwischen aber entfernt hatte. Schelling selbst realisierte dies sofort und war, verständlicherweise, nicht sonderlich erfreut über Hegels Werk. Die philosophische Mitwelt aber brauchte einige Zeit, um zu verstehen, dass Hegel eine eigenständige Position erarbeitet hatte. Dies mag ein Grund dafür sein, dass seine eigentliche akademische Karriere noch ein wenig auf sich warten ließ. Erst im Jahr 1816 erfolgte der Ruf auf die erste Professur (in Heidelberg), und das Jahr 1818 brachte ihn dann an seine Wirkungsstätte Berlin, wo er mit seiner Philosophie großes Ansehen erlangte. Dort fing er gegen Ende seines Lebens, im Jahr 1831, erste Arbeiten an einer geplanten Neuauflage des Buches an. Zu dieser Neuauflage kam es dann aber wegen Hegels Tod nicht mehr.

Nach der PhG hat Hegel Texte publiziert, die im engeren Sinne das ausmachen, was man als sein System bezeichnet: besonders die Wissenschaft der Logik (1812–1816) und die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Damit ist die notorische Frage aufgeworfen, wie sich die PhG zu Hegels reiferem Werk verhält. Diese Frage wird gewissermaßen dadurch verschärft, dass Hegel in der Enzyklopädie eine »Phänomenologie des Geistes« in die Explikation des Geistes integriert hat. Dies suggeriert, durch die reiferen Arbeiten sei die PhG überwunden. Das ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Gerade wenn man die PhG als Einleitung des Systems2 liest, kann man sie als einen eigenständigen und wichtigen Teil dieses Systems begreifen. Im »Vorwort« der Wissenschaft der Logik verweist Hegel auch klar auf den Standpunkt der PhG als eine Voraussetzung für die systematische Perspektive, die er dort bezieht.3 So scheint es mir richtig, davon auszugehen, dass der PhG im Kontext von Hegels System eine Funktion zukommt, die sich durch das System nicht erübrigt hat (in den letzten beiden Teilen dieses Kommentars werde ich diese Funktion genauer bestimmen).

Gestalt und Struktur der PhG

Die PhG ist ein eigentümliches philosophisches Buch. Vergleicht man sie zum Beispiel mit den großen philosophischen Abhandlungen der Neuzeit – also zum Beispiel mit Descartes’ Meditationes de prima philosophia, mit Lockes Essai Concerning Human Understanding und Kants Kritik der reinen Vernunft –, so fällt auf, dass Hegel keinen Traktat geschrieben hat: Das Buch entwickelt nicht systematisch eine Position, mit der ein bestimmter Bereich philosophischer Fragestellungen gewissermaßen sukzessive ab- und ausgearbeitet wird. Hegel rechtfertigt diese Eigentümlichkeit in der Einleitung der PhG, in der er die Gründe dafür darlegt, warum es aus seiner Sicht problematisch ist, einfach systematisch eine philosophische Position zu entwickeln.

Diese Gründe werde ich im Kommentar der Einleitung ausführlich erörtern. An diesem Punkt reicht es erst einmal, die Eigentümlichkeit der PhG weiter zu charakterisieren: Sie entwickelt nicht systematisch eine eigene Position, sondern ordnet vielmehr andere Positionen in einer systematischen Art und Weise. Diese Positionen sind aber oftmals nicht klar als solche einzelner Philosophen zu erkennen; sie beziehen auch naturwissenschaftliche Theorien wie die Newtonsche Theorie der Massenanziehung und historische Ereignisse wie die Französische Revolution im weitesten Sinn mit ein. So haben Leserinnen und Leser erst einmal den Eindruck, in der PhG mit einem bunten Reigen an Themen konfrontiert zu werden, die sich nicht in ein klares und stringent entwickeltes Gesamtbild fügen.

 

Eine weitere Eigentümlichkeit der PhG besteht darin, dass sich im Laufe von Hegels Arbeit an dem Text das Projekt verändert hat.4 Besonders markant ist hier die Änderung des Titels, die sich an der zuerst geschriebenen Einleitung festmachen lässt, die den Titel erläutert, den Hegel dem Buch zuerst geben wollte: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins. Die Konzeption einer solchen Wissenschaft bestimmt dann auch nicht nur die Einleitung, sondern auch die ersten Kapitel. Bis zum Vernunftkapitel lässt sich das Buch durchaus so lesen, als ob Hegel seiner ursprünglichen Konzeption gefolgt ist. Dann aber scheint er diese Konzeption verschoben zu haben.5

Äußerlich schlägt sich diese Verschiebung darin nieder, dass die Proportionen des Buches zunehmend unwuchtig werden. Der ersten Gliederung Hegels zufolge gibt es vier Teile (Bewusstsein, Wahrnehmung, Kraft und Verstand sowie Selbstbewusstsein), die zwar nicht gleich lang sind, aber doch im weitesten Sinn in einem gemeinsamen Rahmen bleiben. Mit dem Vernunftkapitel aber kommt es zu einem deutlichen Ungleichgewicht, und spätestens das Geistkapitel sprengt den zuerst entwickelten Rahmen ganz, denn es ist vom Umfang her gesehen fast so lang wie alle bisherigen Teile zusammen. Die Disproportionen im Aufbau des Buches kann man als Symptom dafür verstehen, dass Hegel die Konzeption seines Buches während der Niederschrift verändert hat. Inhaltlich hängt die Revision damit zusammen, dass ihm die Wichtigkeit dessen, was er Geist nennt, für sein Vorhaben zunehmend klarer geworden sein dürfte. Entsprechend kommt es mit dem Geistkapitel auch zu einem gewissen Neuansatz in dem Buch, der sich symptomatisch daran zeigt, dass Hegel sagt, er habe bislang »Gestalten […] des Bewusstseins« rekonstruiert, widme sich nun aber »Gestalten einer Welt« (340/326)6 (hier will ich dies nur als Symptom anführen, lasse also die Begriffe noch unkommentiert).

Die konzeptionellen Änderungen schlagen sich auch darin nieder, dass Hegel seinem Werk einen neuen Titel gibt: Phänomenologie des Geistes. Dieser neue Titel wurde aber durch die Ankündigungen der Einleitung nicht vorbereitet. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass Hegel dem Buch am Ende noch eine lange Vorrede beigegeben hat, die das Projekt mit Blick auf die geänderte Konzeption erklärt.

Hegel hat nicht nur den Titel geändert, sondern auch noch eine zweite Gliederung eingefügt, mit der die Unwucht jedoch nicht beseitigt wird. Hat die erste Gliederung schon nach 20 Prozent des Textes vier von acht Teilen absolviert, so dass 80 Prozent des Textes eine Hälfte der Gliederung ausmachen, so hat die zweite Gliederung nach den besagten 20 Prozent bereits zwei von drei Teilen zurückgelegt.

Immerhin wird in der zweiten Gliederung der große Schlussteil in vier Unterteile gegliedert. Hegel stellt damit einen Zusammenhang von der Vernunft bis zum absoluten Wissen her. Irritierend aber ist wiederum, dass dieser große Schlussteil keinen eigenen Titel trägt, so dass nicht recht klar wird, unter welchem Oberbegriff für Hegel dieser Zusammenhang besteht. Wie bereits erwähnt, wird inhaltlich besonders mit dem Beginn des Geistkapitels eine Zäsur in dem Text deutlich. Dies würde dafür sprechen, einen Zusammenhang von diesem Kapitel bis zum Ende herzustellen. Warum genau Hegel den abschließenden Zusammenhang in der neuen Gliederung schon mit dem Vernunftkapitel beginnen lässt, bleibt offen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text ohne jeden Zweifel Spuren eines work in progress trägt. Die textliche Gestalt ist weder, was den Titel angeht, noch mit Blick auf Gliederung und Gesamtstruktur aus einem Guss. Das heißt selbstverständlich nicht, dass hier unterschiedliche Gedanken vorlägen, die wir nicht in einen Zusammenhang bringen könnten. Es heißt aber, dass jede Interpretation der PhG mit dem Problem konfrontiert ist, mit den Verwerfungen in der Struktur umzugehen und sie als Aspekt der Eigentümlichkeit von Hegels Text im Blick zu behalten.

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