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LUNATA

Middlemarch
Eine Studie über das Leben in der Provinz
George Eliot


Middlemarch

Eine Studie über das Leben in der Provinz

Band 1

© 1881 George Eliot

Aus dem Englischen von Emil Lehmann

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Präludium

1. Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

2. Buch

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

3. Buch

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

4. Buch

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

5. Buch

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

6. Buch

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

7. Buch

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

8. Buch

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Finale

Präludium

Wer von Allen, denen daran gelegen ist, sich mit der Geschichte des Menschen bekannt zu machen und zu erforschen, wie dieses geheimnisvolle Wesen sich unter den mannigfachen Einwirkungen der Zeit entwickelt hat, hätte nicht einmal, wenn auch nur flüchtig, bei dem Leben der heiligen Therese verweilt und hätte nicht mild gelächelt bei dem Gedanken an das kleine Mädchen, das sich eines Morgens Hand in Hand mit seinem noch kleineren Bruder aufmachte, um nach dem Lande der Mauren zu gehen und dort ein Märtyrertum aufzusuchen? Fort trippelten sie von dem wilden Avila, die Augen weit geöffnet und hilflos aussehend wie zwei scheue Rehe, aber mit menschlich fühlenden Herzen, die bereits für eine große Idee schlugen, bis ihnen die raue Wirklichkeit in Gestalt eines Oheims entgegentrat, welcher sie von der Ausführung ihres Vorhabens zurückhielt. Diese kindliche Pilgerfahrt war für Therese ein angemessener Beginn ihrer Lebenslaufbahn. Ihre leidenschaftliche, ideale Natur verlangte nach einem tatenreichen Leben. Was konnten ihr vielbändige Ritterromane, was die gesellschaftlichen Erfolge, welche sie als glänzend begabtes Mädchen zu erwarten hatte, bieten? Die in ihr lodernde Flamme hatte so leichte Nahrung bald aufgezehrt und dürstete, von innen genährt, nach einer schrankenlosen Befriedigung, nach einem Lebenszweck, welcher, jede Erschöpfung ausschließend, die Verzweiflung der Seele an sich selbst durch das entzückende Bewusstsein eines über die Beschränktheit des eigenen Ich's hinausragenden Lebens überwinden würde. Sie fand das Epos ihres Lebens in der Reform eines geistlichen Ordens.

 

Diese spanische Frau, welche vor dreihundert Jahren lebte, war gewiß nicht die letzte ihrer Art. Viele Theresen sind seitdem geboren, welche kein Leben für sich fanden, das ihnen zu unausgesetzter Entfaltung ihrer Tatkraft Gelegenheit gegeben hätte; – vielleicht nur ein Leben voll Enttäuschungen, wie sie aus dem unglücklichen Zusammentreffen einer gewissen Seelengröße mit der Kleinheit der Verhältnisse hervorgehen, vielleicht ein tragisch verfehltes Leben, welches keinen heiligen Sänger fand und unbeweint in Vergessenheit versank. Mit trüber Geisteshelle und in verwickelten Verhältnissen versuchten sie es, ihre Gedanken und ihre Handlungen in harmonischen Einklang zu bringen; den Augen gewöhnlicher Sterblicher erschien aber ihr Ringen nur als unzusammenhängend und gestaltlos. Denn diesen später geborenen Theresen stand kein einigendes Band eines gesellschaftlichen Glaubens und Ordens, welches für die glühend strebende Seele das Wissen hätte ersetzen können, helfend zur Seite. Die Glut ihrer Seele schwankte zwischen einem vagen Ideal und dem gemeinen Verlangen der weiblichen Natur unsicher hin und her, so daß das Eine als Extravaganz gemissbilligt und das Andere als Fehltritt verurteilt wurde.

Manche haben geglaubt, daß diese in unsicherem Schwanken irrend verbrachten Existenzen ihren Grund in der unklaren Unbestimmtheit haben, mit welcher es dem höchsten Wesen gefallen hat, die weibliche Natur auszustatten. Wenn es ein Niveau weiblicher Unzulänglichkeit gäbe, das so scharf präzisiert wäre, wie die Fähigkeit, drei zu zählen und nicht weiter, so möchte sich das gesellschaftliche Los der Frauen mit wissenschaftlicher Sicherheit behandeln lassen. Aber die unklare Unbestimmtheit ist da, und die Grenzen, innerhalb deren dieselbe hin- und herschwankt, sind in der Tat viel weiter gesteckt, als diejenigen sich träumen lassen, die nur an die Gleichmäßigkeit weiblicher Frisuren und an die beliebten Liebesgeschichten in Prosa und in Versen denken. Dann und wann wird ein junger Schwan zu seinem eigenen Unbehagen unter den jungen Enten im trüben Teiche auferzogen und findet nie den lebendigen Strom, auf dem er in Gesellschaft der ruderfüßigen Genossen seines Geschlechts dahinschwimmen könnte. Von Zeit zu Zeit wird eine heilige Therese geboren, die nichts gründet, deren bebende Herzschläge und Seufzer nach einer unerreichten Tugend sich schwankend an störenden Verhältnissen verzehren, anstatt sich in einer dauernden Tat zu konzentrieren.

1. Buch

1

Since I can do no good because a woman,

Reach constantly at something that is near it.

Beaumont and Fletcher: The Maid's Tragedy

Dorothea Brooke gehörte zu jenen Schönheiten, denen eine dürftige Kleidung zur Erhöhung ihrer Reize zu dienen scheint. Ihre Hand und ihr Handgelenk waren so schön geformt, daß sie getrost Ärmel tragen konnte, welche ebenso stillos waren, wie die, in welchen die heilige Jungfrau den alten italienischen Meistern erschien, und ihr Profil sowohl, wie ihre ganze Gestalt und ihr Behaben, schienen durch ihre einfache Kleidung nur an Würde zu gewinnen, so daß ihre ganze Erscheinung inmitten der Modedamen der Provinz den Eindruck eines schönen Zitats aus der Bibel – oder aus einem alten Dichter – in einem Zeitungsartikel machte.

Man bezeichnete sie allgemein als sehr gescheit, fügte aber regelmäßig hinzu, daß ihre Schwester Celia mehr gesunden Menschenverstand habe. Gleichwohl trug Celia kaum mehr Besatz an ihren Kleidern, und nur sehr scharfe Beobachter nahmen wahr, daß ihre Kleidung sich doch in Etwas von der ihrer Schwester unterschied und mit einer Nuance von weiblicher Koketterie arrangiert war; denn die einfache Toilette Dorothea Brooke's hatte ihren Grund in verschiedenen Ursachen, von denen die meisten auch für ihre Schwester maßgebend waren.

Das stolze Bewusstsein, Ladies zu sein, war eine dieser Ursachen: die Familie der Brooke's war, wenn auch nicht gerade eine aristokratische, doch unstreitig eine sehr gute; wenn man ihrer Herkunft eine oder zwei Generationen weit nachging, so fand man unter den Voreltern keine Handwerker oder Detaillisten, sondern nichts Geringeres als einen Admiral und einen Geistlichen; und wenn man den Stammbaum noch weiter zurückverfolgte, so kam man auf einen puritanischen Gentleman, der unter Cromwell gedient, sich aber später wieder der Staatskirche angeschlossen und sich als Eigentümer eines respektablen Grundbesitzes allen politischen Verfolgungen zu entziehen gewußt hatte. Junge Damen von solcher Herkunft, welche in einem ruhigen Hause auf dem Lande lebten und eine Dorfkirche besuchten, die kaum größer war, als ein Wohnzimmer, betrachteten natürlich allen Putz als den Gegenstand des Ehrgeizes einer Hökerstochter. Ferner bestand in guten Familien damals noch eine Ökonomie, welche die Toilette als denjenigen Ausgabeposten betrachtete, welcher sich am ersten zu einer Einschränkung eigne, wenn es notwendig erschien, gerade im Interesse der gesellschaftlichen Stellung das Budget durch Vergrößerung anderer Ausgaben zu belasten.

Diese und ähnliche Gründe würden, ganz abgesehen von religiösen Gefühlen, hingereicht haben, eine einfache Toilette zu erklären; in Dorothea Brooke's Fall aber würde die Religion allein ein genügendes Motiv gewesen sein, und Celia schloss sich allen Empfindungen ihrer Schwester in ihrer milden Weise an, nur daß sie dieselben mit jenem gesunden Menschenverstande durchdrang, welcher sich bedeutungsvolle Doktrinen ohne jede exzentrische Aufregung anzueignen weiß.

Dorothea wußte viele Stellen aus Pascal's »Pensées« und aus Jeremy Taylor auswendig; und die Bestimmung der Menschheit, wie sie dieselbe im Lichte des Christentums ansah, ließ ihr das Interesse für weibliche Moden als eine tollhäuslerische Beschäftigung erscheinen. Sie vermochte die Bekümmernisse eines Seelenlebens, bei denen es sich um Folgen für die Ewigkeit handelte, nicht mit den nichtigen Sorgen für die Raffinements einer modernen Toilette in Einklang zu bringen. Die Richtung ihres Geistes war eine theoretische und ihre Natur verlangte nach einer einheitlichen und bedeutenden Auffassung der Welt, in welcher das Kirchspiel Tipton und die Art ihres Lebens in demselben ungezwungen einen Platz finden möchten; sie hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für alles Große und Gewaltige, und ihre Sympathie war sofort Allem, was dieser Neigung zu entsprechen schien, gewonnen; sie war sehr geneigt, ein Märtyrertum zu suchen, dann ihre schnell gefaßten Meinungen zu widerrufen und schließlich ein Märtyrertum da zu finden, wo sie es gar nicht gesucht hatte.

Solche Elemente in dem Charakter eines heiratsfähigen Mädchens waren gewiß geeignet, auf ihr Schicksal entscheidend einzuwirken und zu verhindern, daß dasselbe, der bestehenden Sitte gemäß, durch ein hübsches Gesicht, durch Eitelkeit und durch eine rein sinnliche Zuneigung bestimmt werde. Bei alledem war sie, die ältere der beiden Schwestern, noch nicht zwanzig Jahre alt und beide hatten, seit sie vor etwa acht Jahren ihre Eltern verloren, nach einem ebenso beschränkten, wie unklaren Plane, zuerst in einer englischen Familie und später in einer Schweizerfamilie in Lausanne, eine Erziehung genossen, welche nach der Auffassung ihres ledigen Onkels und Vormundes die Nachteile ihrer Elternlosigkeit ausgleichen sollte.

Es war kaum ein Jahr her, seit sie aus der Schweiz zurückgekehrt waren und auf »Tipton-Hof« mit ihrem Onkel, einem fast sechzigjährigen Manne von nachgiebigem Charakter, wechselnden Ansichten und unsicherem Urteile, lebten. In seinen jüngeren Jahren war er gereist und hatte sich, wie die Leute meinten, bei jenen Reisen die Unentschlossenheit des Wesens angeeignet, welche ihn charakterisierte. Seine Entschlüsse vorauszusagen war so schwer, wie das Wetter im Voraus zu bestimmen; Alles, was man mit einiger Sicherheit vorhersagen konnte, war, daß er sich bei seinen Handlungen von wohlwollenden Absichten leiten lassen und bei ihrer Ausführung möglichst wenig Geld ausgeben werde. Denn selbst Gemüter von der zähesten Unentschlossenheit hegen doch einige harte Gewohnheiten und man erzählt von einem Manne, der, von der äußersten Gleichgültigkeit gegen alle seine eigenen Interessen, nur seine Schnupftabaksdose mit argwöhnischer Wachsamkeit und eifersüchtiger Engherzigkeit hütete.

Herrn Brooke war die erbliche puritanische Energie offenbar abhanden gekommen; aber bei seiner Nichte Dorothea durchdrang dieselbe Alles, ihre Fehler und ihre Tugenden; diese Energie äußerte sich bisweilen als Ungeduld gegen die Reden ihres Onkels oder gegen seine Art, die Dinge auf seinem Gute gehen zu lassen, und ließ sie nur um so sehnlicher die Zeit ihrer Volljährigkeit herbeiwünschen, wo sie über einige Mittel zur Ausführung großherziger Lieblingspläne gebieten würde. Sie galt für eine Erbin; denn nicht nur, daß beide Schwestern von ihren Eltern jede eine Jahresrente von siebenhundert Pfund Sterl. geerbt hatten, sondern, falls Dorothea sich verheiraten und einen Sohn bekommen sollte, würde dieser Sohn Herrn Brooke's Gut erben, welches auf einen jährlichen Ertrag von dreitausend Pfund Sterl. geschätzt wurde. Eine solche Einnahme aber galt damals als Reichtum in den Augen der in der Provinz lebenden Familien, welche Robert Peels kürzliches Benehmen in Betreff der Katholiken-Emanzipation diskutierten, und noch keine Ahnung von der künftigen Entdeckung der Goldfelder und von jener prachtliebenden Plutokratie hatten, welche die Bedürfnisse eines fashionablen Lebens so maßlos steigern sollte.

Und warum sollte ein so schönes Mädchen mit so glänzenden Aussichten nicht heiraten? Nichts konnte sie daran hindern, als ihre Liebe zu Extremen und ihre entschiedene Neigung, das Leben nach Ideen zu gestalten, welche wohl geeignet waren, einen vorsichtigen Mann stutzig zu machen, bevor er ihr seine Hand anböte, oder welche sie gar dahin bringen konnten, schließlich alle Anträge abzulehnen. Eine junge Dame von guter Herkunft und einigem Vermögen, welche gelegentlich an der Seite eines kranken Arbeiters plötzlich auf einem steinernen Fußboden niederkniete und inbrünstig betete, als ob sie sich in die Zeiten der Apostel zurückversetzt glaube, und welche die sonderbare Grille hatte, zu fasten wie eine Papistin und Nächte hindurch bei der Lektüre alter theologischer Schriften aufzusitzen, – bei einer solchen Frau hätte der Mann darauf gefaßt sein müssen, daß sie ihn eines schönen Morgens mit einem neuen Plane für die Verwendung ihres Vermögens aufwecken würde, der sich mit den Grundsätzen einer gesunden Nationalökonomie und dem Halten von Reitpferden schlecht vertragen möchte; jeder Mann würde sich voraussichtlich zweimal besinnen, bevor er das Wagnis einer solchen Verbindung unternähme. Man hielt damals dafür, daß Frauen schwache Gemüter haben müßten und betrachtete es als eine Gewähr für die Erhaltung der Gesellschaft und des Familienlebens, daß man nicht nach bestimmten Ansichten handele. Verständige Leute machten es wie ihre Nachbarn, so daß, wenn einzelne Irrsinnige frei herumliefen, man sie kennen und ihnen ausweichen konnte.

Die allgemeine Meinung der ländlichen Bevölkerung, selbst der kleinen Leute, sprach sich zu Gunsten Celia's aus, weil sie so liebenswürdig und freundlich sei, während die großen Augen der älteren Schwester, gleich ihrer religiösen Überzeugung etwas zu Ungewöhnliches und Auffallendes hätten. Die arme Dorothea! Im Vergleich zu ihr war die unschuldig aussehende Celia erfahren und weltklug; so wahr ist es, daß das Innere des Menschen unendlich viel feiner ist, als die äußere Erscheinung, die als eine Art von Zifferblatt des Innern betrachtet wird.

Und doch fanden die, welche sich Dorotheen mit dem durch jene Meinung hervorgerufenen Vorurteil näherten, daß ihr Wesen einen unerklärlichen, mit jenem Vorurteil unvereinbaren Reiz habe. Die meisten Männer fanden sie bezaubernd, wenn sie zu Pferde saß. Sie liebte die frische Luft und die Aussichten, die sich ihr bei weiteren Ausflügen darboten, und wenn ihre Augen und Wangen von verschiedenen angenehmen Empfindungen glühten, sah sie einer Frömmlerin sehr wenig ähnlich. Reiten war ein Vergnügen, das sie sich, gelegentlicher Gewissensskrupel ungeachtet, gestattete; sie fühlte, daß sie sich diesem Genuss mit einer heidnisch sinnlichen Empfindung hingab, und dachte immer daran, demselben zu entsagen.

 

Sie war offen, feurig und nicht im Mindesten von ihrem eigenen Werte erfüllt; ja, es war anmutig zu beobachten, wie ihre Einbildungskraft ihrer Schwester Celia viel größere Reize, als deren sie sich selbst erfreute, andichtete; und wenn einmal ein Herr aus einem anderen Grunde nach Tipton-Hof zu kommen schien, als um Herrn Brooke zu sehn, so hielt Dorothea es für ausgemacht, daß er in Celia verliebt sein müsse. So war es z. B. mit Sir James Chettam, bei welchem sie fortwährend daran dachte, ob es gut für Celia sein würde, seine Bewerbung anzunehmen. Ihn als einen Bewerber um ihre eigene Hand anzusehen, würde ihr als eine lächerliche Verkehrtheit erschienen sein. Dorothea hatte bei all ihrem eifrigen Streben, die Wahrheit des Lebens zu ergründen, sehr kindliche Ideen über die Ehe. Sie hielt sich überzeugt, daß sie dem scharfsinnigen Hooker, wenn sie früh genug auf die Welt gekommen wäre, um ihn vor jenem unglücklichen Missgriff, den er bei seiner Ehe beging, zu bewahren, oder John Milton nach seiner Erblindung, oder irgend einem anderen großen Manne, dessen sonderbare Gewohnheiten zu ertragen ihr als ein rühmlich frommes Werk erschienen wäre, die Hand gereicht haben würde. Aber wie konnte ein liebenswürdiger hübscher Baronet, der alle ihre Bemerkungen, selbst wenn dieselben der Unsicherheit ihres Urteils Ausdruck gaben, mit einem »vollkommen richtig« beantwortete, ihr den Eindruck eines ernstlichen Bewerbers um ihre Hand machen? Als das Ideal einer Ehe erschien ihr die, in welcher ihr Gatte eine Art von väterlichem Freund sein würde, der sie, wenn sie es wünschen sollte, selbst im Hebräischen unterweisen konnte.

Diese Sonderbarkeiten in Dorotheen's Charakter ließen es den benachbarten Familien nur um so tadelnswerter erscheinen, daß Herr Brooke nicht eine Dame von mittleren Jahren als erfahrene Gesellschafterin für seine Nichten engagiere. Aber er selbst fürchtete die Art von überlegenen Frauen, zu welchen eine für eine solche Stellung geeignete Dame mutmaßlich gehören würde, so sehr, daß er sich gern von Dorotheen's Einwänden bestimmen ließ und in diesem Falle den Mut hatte, dem Urteil der Welt, d. h. dem Urteil der Frau Cadwallader, der Gattin des Pfarrers, und der kleinen Gruppe von Landedelleuten im nordöstlichen Winkel von Loamshire, mit welchen er verkehrte, zu trotzen. Dorothea Brooke stand daher dem Haushalte ihres Onkels vor und fand an dieser neuen Würde mit den Huldigungen, welche derselben dargebracht wurden, Gefallen.

Heute sollte Sir James Chettam mit einem anderen Herrn, welchen die Mädchen noch nie gesehen hatten, welchem aber Dorothea mit einer verehrenden Erwartung entgegensah, auf Tipton-Hof zu Mittag essen. Das war der Ehrwürdige Edward Casaubon, welcher in der Grafschaft in dem Rufe eines Mannes von tiefer Gelehrsamkeit stand und von welchem man wußte, daß er seit vielen Jahren an einem großen Werke über Religionsgeschichte arbeite, ein Mann, dessen Wohlhabenheit seiner Frömmigkeit einen besondern Glanz verlieh und welcher eigentümliche Ansichten hatte, über die man durch die Veröffentlichung seines Werkes genauere Aufschlüsse erhalten solle. Schon sein bloßer Name »Casaubonus« erweckte eine Vorstellung von Gelehrsamkeit, freilich nur bei denen, welche in der Gelehrtengeschichte bewandert waren.

Schon früh am Tage war Dorothea aus der Warteschule, die sie im Dorfe gegründet hatte, nach Hause zurückgekehrt und hatte ihren gewöhnlichen Platz in dem hübschen Wohnzimmer, welches zwischen den beiden Schlafzimmern der Schwestern lag, eingenommen, um der Beendigung der Pläne für einige Gebäude, deren Entwerfung ihre Lieblingsbeschäftigung ausmachte, obzuliegen, als Celia, welche sie schon eine Zeit lang mit der Absicht, ihr etwas vorzuschlagen, zaghaft beobachtet hatte, zu ihr sagte:

»Liebe Dorothea, wenn Du nichts dagegen hast, wenn Du nicht sehr beschäftigt bist, – was meinst Du, wenn wir uns heute einmal Mama's Juwelen ansähen und sie unter uns teilten. Es sind heute gerade sechs Monate her, seit Onkel sie Dir gegeben hat, und Du hast sie noch nicht einmal angesehen.«

Auf Celia's Zügen malte sich bei diesen Worten ein leiser Schatten von zürnendem Ausdruck, während das volle Hervorbrechen eines Vorwurfs durch eine zur Gewohnheit gewordene Ehrfurcht vor Dorotheen und ihren Grundsätzen zurückgehalten wurde, zwei Empfindungen, aus welchen eine unvorsichtige Berührung leicht einen geheimnisvollen elektrischen Funken herausschlagen konnte. Zu Celia's Beruhigung blickte Dorothea freundlich lachend auf.

»Was Du für ein vortrefflicher kleiner Kalender bist, Celia! Sind es sechs Kalendermonate oder sechs Mondmonate?«

»Heute schreiben wir den letzten September, und wir schrieben den ersten April, als Onkel Dir die Juwelen gab. Du weißt, daß er damals sagte, er habe sie bisher vergessen. Ich glaube, Du hast seit jener Zeit, wo Du den Schmuck hier in den Schrank verschlossest, gar nicht wieder an denselben gedacht.«

»Nun, liebes Kind, wir dürften ja doch nie etwas davon tragen.«

Dorothea sprach diese Worte in einem vollen herzlichen Tone, mit einem halb zutunlichen, halb erklärenden Ausdruck. Sie hatte ihren Bleistift in der Hand und zeichnete eben kleine Nebenpläne auf den Rand ihres Papiers.

Celia errötete und sah sehr ernst aus. »Ich denke, liebe Dorothea, wir würden dem Andenken Mama's zu nahe treten, wenn wir die Juwelen weglegten und gar nicht beachteten. Und,« fügte sie zaudernd mit einem halbunterdrückten Seufzer hinzu, »Halsbänder sind etwas ganz Gewöhnliches, und selbst Madame Poinçon, die in einigen Dingen noch strenger war als Du, pflegte Schmuck zu tragen. Und im Himmel gibt es gewiß christliche Frauen, welche auf Erden Juwelen getragen haben.« Celia war sich einer gewissen geistigen Stärke bewußt, sobald sie sich einmal ernsthaft auf's Argumentieren verlegte.

»Du möchtest sie tragen?!« rief Dorothea, mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens und mit einer dramatischen Gebärde, die sie eben jener Madame Poinçon, welche Schmuck zu tragen pflegte, abgesehen hatte. »Gewiß, laß sie uns hernehmen. Warum hast Du mir das nicht früher gesagt? Aber die Schlüssel, wo sind die Schlüssel?« Dabei preßte sie die Hände gegen die Seiten ihres Kopfes, als verzweifle sie an ihrem Gedächtnis.

»Hier sind sie,« erwiderte Celia, welche diese Auseinandersetzung lange geplant und vorbereitet hatte.

»Bitte, öffne die große Schublade des Schranks und nimm den Juwelenkasten heraus.«

Der Kasten stand bald genug offen vor ihnen und die verschiedenen Juwelen lagen wie ein buntes Blumenbeet an dem Tische vor ihnen ausgebreitet. Es war keine große Auswahl, aber einige von den Schmucksachen waren von wirklich seltener Schönheit; unter ihnen fielen zwei, ein Halsband von dunkelvioletten, höchst elegant in Gold gefaßten Amethysten und ein Kreuz von Perlen mit fünf Brillanten, sofort als die schönsten in die Augen. Dorothea nahm das Halsband in die Hand und band es ihrer Schwester um den Hals, den es fast so eng wie ein Armband umschloss; aber dieses enge Halsband paßte gerade zu dem Henriette-Marien-Styl von Celia's Kopf und Hals, und daß dem so war, konnte sie selbst in dem gegenüberstehenden Spiegel sehen.

»Siehst Du, Celia, das kannst Du mit Deinem weißen Musselinkleid tragen. Aber das Kreuz paßt zu Deinen dunklen Kleidern.«

Celia bemühte sich, ein freudiges Lächeln zu unterdrücken.

»O Dora, das Kreuz mußt Du für Dich behalten.«

»Nein, nein, liebes Kind,« sagte Dorothea, indem sie mit der Hand eine nachlässig abwehrende Bewegung machte.

»Ja wohl, ja wohl, Du mußt; es würde Dir bei Deinem schwarzen Kleide gut stehen,« erwiderte Celia dringend. »Du kannst es getrost tragen.

»Nein, nicht um Alles in der Welt. Ein Kreuz ist das letzte, was ich als Schmuck tragen möchte.« Dabei durchfuhr Dorothea ein leichter Schauer.

»Dann findest Du es wohl sträflich von mir, es zu tragen,« entgegnete Celia unbehaglich.

»Nein, liebes Kind, nein,« sagte Dorothea, indem sie ihrer Schwester die Wange streichelte, »auch die Seelen haben ihre Physiognomie; was sich für die Eine schickt, schickt sich nicht für die Andere.«

»Aber vielleicht möchtest Du es um Mama's Willen behalten.«

»O nein, ich habe andere Dinge von Mama, ihren Kasten von Sandelholz, den ich so sehr liebe, – eine Menge anderer Dinge. Die Juwelen sollen alle Dir gehören, liebes Kind. Wir brauchen also darüber nicht länger zu verhandeln. Komm, nimm Dein Eigentum zu Dir.«

Celia fühlte sich ein wenig verletzt. Es lag etwas von anmaßlicher Überlegenheit in dieser puritanischen Toleranz, die für das leichte Blut der weniger überspannten Schwester kaum minder empfindlich war als puritanische Verfolgungssucht.

»Aber wie kann ich Schmucksachen tragen, wenn Du, die ältere Schwester, nie dergleichen tragen willst?«

»Nein, Celia, es ist zu viel verlangt, daß ich Schmuck tragen soll, um Dir Gesellschaft zu leisten. Wenn ich ein solches Halsband tragen müßte, so würde mir zu Mute sein, als wenn ich Ballet tanzen sollte. Alles würde sich mit mir im Kreise herumdrehen, und ich würde nicht mehr aufrecht stehen können.«

Celia hatte das Halsband wieder abgenommen und – sagte mit einiger Genugtuung: »Es würde für Deinen Hals etwas zu eng sein; etwas Herabhängendes würde besser für Dich passen.« Das aus allen Gesichtspunkten vollkommen Unpassende des Halsbandes für Dorothea ließ Celia dasselbe um so lieber annehmen. Dann öffnete sie einige Kasten mit Ringen, unter denen ein schöner Smaragd mit Diamanten um so prächtiger erglänzte, als die eben hinter einer Wolke hervorbrechende Sonne den Ring mit einem hellen Strahl beleuchtete.

»Wie schön diese Edelsteine sind,« sagte Dorothea, in welcher der Sonnenstrahl plötzlich neue Empfindungen erweckt zu haben schien. »Es ist sonderbar, wie tief wir von Farben wie von Gerüchen beeindruckt werden. Ich denke mir, darum kommen in der Offenbarung Johannis Edelsteine als Embleme der Seele vor. Sie muten uns an, wie Bruchstücke des Himmels. Mir scheint, der Smaragd da ist der schönste von allen.«

»Und da,« sagte Celia, »ist ein Armband, das dazu paßt und welches wir vorhin gar nicht bemerkt haben.«

»Sie sind reizend,« sagte Dorothea, indem sie den Ring und das Armband über ihren Finger und ihr schön geformtes Handgelenk gleiten ließ und ihre Hand auf einer Höhe mit ihren Augen gegen das Fenster hielt. Gleichzeitig war sie innerlich bemüht, ihr Gefallen an den schönen Farben dadurch vor sich selbst zu rechtfertigen, daß sie dieselben in ihre mystisch religiöse Ekstase verwebte.

»Diese Steine würden Dir doch gefallen, Dorothea,« sagte Celia mit etwas zitternder Stimme, indem sie staunend zu bemerken glaubte, daß ihre Schwester nicht frei von Schwäche sei, während sie andererseits dachte, daß Smaragden für ihren Teint noch besser passen würden als Amethyste.

»Wenn Du auch sonst nichts willst, den Ring und das Armband mußt Du behalten. Aber sieh doch, auch die Achate sind sehr hübsch und haben etwas so Ruhiges.«

»Ja,« erwiderte Dorothea, »ich will diesen Ring und das «« IF Armband behalten.« – »Aber,« fuhr sie, indem sie ihre Hand auf den Tisch fallen ließ, in einem anderen Tone fort. »Was sind es doch für unglückliche Menschen, die solche Dinge auffinden und verkaufen.« Sie hielt abermals inne, und Celia dachte, ihre Schwester werde nun wieder auf die Schmucksachen verzichten, wie sie es konsequenter Weise hätte tun müssen. »Ja, liebste Celia,« nahm Dorothea in einem ganz entschlossenen Tone wieder auf, »ich will diese beiden Sachen behalten; aber nimm alles Übrige mitsamt dem Kasten an Dich.« Sie nahm ihren Bleistift wieder zur Hand, ohne jedoch die Juwelen, welche sie noch immer ansah, zu entfernen. Sie dachte daran, wie sie dieselben oft vor sich haben möchte, um ihre Augen an diesen kleinen Quellen reiner Farben zu weiden.

»Wirst Du die Sachen in Gesellschaft tragen?« fragte Celia, welche wirklich neugierig darauf war, was Dorothea damit tun würde. Diese warf ihrer Schwester einen raschen Blick zu. Durch all das verklärende Licht, in welchem ihre Phantasie ihr Alle erscheinen ließ, die sie liebte, fuhr doch bisweilen blitzartig ein scharfes Urteil. Wenn Dorothea jemals zu einer vollkommenen Milde ihres Wesens gelangen sollte, so würde nicht Mangel an innerem Feuer diese Umwandlung bewirken.

»Vielleicht,« erwiderte sie in etwas hochmütigem Tone. »Ich kann nicht voraussagen, wie tief ich noch einmal sinken werde.«

Celia errötete und fühlte sich unglücklich. Sie sah, daß sie ihre Schwester verletzt hatte, und wagte es nicht einmal, etwas Freundliches über die ihr überlassenen Schmucksachen zu sagen, sondern legte dieselben schweigend wieder in den Kasten und nahm sie fort.

Dorothea ihrerseits fühlte sich gleichfalls unglücklich, als sie wieder an ihren Bauplänen zeichnete, indem sie sich zweifelnd fragte, ob ihre Gefühle und ihre Worte bei dem Auftritte, dem jener kleine Zornesausbruch ein Ende gemacht hatte, ganz rein gewesen seien.

Celia's Bewusstsein sagte ihr, daß sie durchaus nicht im Unrecht gewesen sei; es war ganz natürlich und durchaus zu rechtfertigen, daß sie jene Frage getan hatte, und sie fand noch immer, daß Dorothea inkonsequent sei: entweder hätte sie ihren vollen Anteil an den Juwelen für sich nehmen oder nach der Art, wie sie sich geäußert hatte, ganz auf dieselben verzichten müssen.

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