George Sand – Gesammelte Werke

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4.

Ein ein­zi­ger Zu­hö­rer, wel­cher auf dem Ran­de sei­nes Stuh­les mit ge­kreuz­ten Bei­nen und un­be­weg­lich auf die Knie ge­stütz­ten Hän­den gleich ei­ner ägyp­ti­schen Gott­heit saß, war mit­ten un­ter den ein­stim­mi­gen und so­gar ein we­nig un­sin­ni­gen Bei­falls­be­zeu­gun­gen, wel­che die Stim­me und Ma­nier des De­bü­tan­ten her­vor­ge­ru­fen hat­te, stumm ge­blie­ben wie eine Sphinx und ge­heim­nis­voll wie eine Hie­ro­gly­phe: es war dies der ge­lehr­te Pro­fes­sor und be­rühm­te Kom­po­nist Por­po­ra. Wäh­rend sein ga­lan­ter Kol­le­ge, der Pro­fes­sor Mel­li­fio­re, wel­cher die Ehre von An­zo­le­to’s Er­folg ganz sich al­lein an­eig­ne­te, um­her­ging, sich vor den Frau­en in die Brust wer­fend und sich ge­gen alle Män­ner mit Ge­schmei­dig­keit ver­nei­gend, um sich so­gar für ihre Bli­cke zu be­dan­ken, saß der Leh­rer der hei­li­gen Mu­sik still da, die Au­gen auf dem Bo­den, die Brau­en em­por­ge­zo­gen, den Mund ge­schlos­sen und wie ver­lo­ren in sei­ne Be­trach­tun­gen. Nach­dem die gan­ze Ge­sell­schaft, wel­che die­sen Abend zu ei­nem großen Bal­le bei der Do­ger­es­se ge­be­ten war, sich nach und nach ver­lau­fen hat­te und nur die wärms­ten Di­let­tan­ten mit ei­ni­gen Da­men und den vor­nehms­ten Mu­si­kern am Kla­vie­re zu­rück­ge­blie­ben wa­ren, nä­her­te sich Zus­ti­nia­ni dem stren­gen Mae­stro.

– Das heißt doch zu sehr ge­gen die Neue­ren schmol­len, mein lie­ber Pro­fes­sor, sag­te er zu ihm, und euer Schwei­gen täuscht mich nicht. Ihr wollt vor die­ser welt­li­chen Mu­sik und die­ser neu­en Gat­tung, an de­nen wir uns ent­zücken, eue­re Sin­ne bis aufs Äu­ßers­te ver­schlos­sen hal­ten. Euer Herz hat sich nun euch zum Trot­ze ge­öff­net und eure Ohren ha­ben das Gift der Ver­füh­rung auf­ge­nom­men.

– Wis­sen Sie, Sior Pro­fe­sor, sag­te im Dia­lek­te die rei­zen­de Co­ril­la, in­dem sie ge­gen ih­ren al­ten Leh­rer den Kin­des­brauch der Scuo­la wie­der­auf­nahm, Sie müs­sen mir einen rech­ten Ge­fal­len tun …

– Fort von mir, Un­se­li­ge! rief der Meis­ter halb la­chend und halb noch ver­drieß­lich die Lieb­ko­sung sei­ner ab­trün­ni­gen Schü­le­rin ab­weh­rend. Was für Ge­mein­schaft ist noch zwi­schen dir und mir? Ich ken­ne dich nicht mehr. Brin­ge bei an­de­ren dein lieb­li­ches Lä­cheln und dein treu­lo­ses Ge­zwit­scher an.

– Er fängt schon an gut zu wer­den, sag­te die Co­ril­la, in­dem sie mit der einen Hand den Arm des De­bü­tan­ten er­griff, wäh­rend sie mit der an­de­ren nicht abließ, die lan­gen Zip­fel an des Pro­fes­sors wei­ßer Kra­wat­te zu zer­knit­tern. Komm her, Zoto,2 und beu­ge dein Knie vor dem ge­schick­tes­ten Ge­sang­leh­rer Ita­li­ens. De­mü­ti­ge dich mein Kind und ent­waff­ne sei­ne Stren­ge. Ein ein­zi­ges Wort von ihm, wel­ches du er­lan­gen kannst, muss grö­ßern Wert in dei­nen Au­gen ha­ben als alle Trom­pe­ten des Ruh­mes.

– Sie sind sehr stren­ge ge­gen mich ge­we­sen, Herr Pro­fes­sor, sag­te An­zo­le­to, sich mit ei­ner et­was spöt­ti­schen Be­schei­den­heit ver­beu­gend; in­des­sen ist es seit vier Jah­ren mein ein­zi­ger Ge­dan­ke, Ih­nen die Zu­rück­nah­me ei­nes sehr har­ten Ur­teilss­pru­ches ab­zu­nö­ti­gen; und wenn es mir heut Abend nicht ge­glückt ist, so weiß ich nicht, ob ich den Mut ha­ben wer­de, wie­der vor dem Pub­li­kum auf­zu­tre­ten, be­la­den wie ich bin mit ih­rem Ana­the­ma.

– Kna­be, sag­te der Pro­fes­sor, in­dem er mit ei­ner Leb­haf­tig­keit sich er­hob und mit ei­ner Kraft der Über­zeu­gung sprach, wel­che ihn edel und groß er­schei­nen lie­ßen, wäh­rend er sonst ge­krümmt und un­ge­schickt aus­sah, über­las­se den Wei­bern die ho­nig­sü­ßen und treu­lo­sen Wor­te. Nie­mals er­nied­ri­ge dich zu der Spra­che der Schmei­che­lei, selbst nicht vor dei­nem Vor­ge­setz­ten, wie viel we­ni­ger vor dem, des­sen Bei­fall du in dei­nem In­nern ver­ach­test. Es war eine Zeit, wo du dort un­ten in dei­nem Win­kel lagst, arm, un­ge­kannt, voll Furcht; dei­ne gan­ze Zu­kunft hing an ei­nem Haa­re, an ei­nem Tone dei­ner Keh­le, an ei­nem au­gen­blick­li­chen Ver­sa­gen dei­ner Mit­tel, an ei­ner Gril­le dei­ner Zu­hö­rer. Ein Un­ge­fähr, ein Kraft­auf­wand, ein Au­gen­blick ha­ben dich reich, be­rühmt, un­ver­schämt ge­macht. Dei­ne Bahn ist of­fen, du darfst auf ihr nur lau­fen, so­weit dich dei­ne Kräf­te tra­gen wer­den. Höre mich an, denn du wirst zum ers­ten und viel­leicht zum letz­ten male die Wahr­heit hö­ren. Du bist auf ei­nem schlech­ten Wege, du singst schlecht und du ge­fällst dir in der schlech­ten Mu­sik. Du kannst nichts, und hast nichts gründ­li­ches ge­lernt, du be­sit­zest nichts als Übung und Fer­tig­keit. Du set­zest dich um nichts in Feu­er; du kannst nur gir­ren und zwit­schern gleich den nied­li­chen, ko­ket­ten Däm­chen, de­nen man ihr Ge­zie­re nach­sieht, weil sie vom Sin­gen nichts ver­ste­hen. Aber du ver­stehst nicht mit dem Atem um­zu­ge­hen, du sprichst schlecht aus, hast einen un­ed­len Aus­druck und einen falschen, ge­mei­nen Styl. Ver­lie­re den Mut des­we­gen nicht; du hast alle die­se Feh­ler, aber du hast das Zeug, sie zu be­meis­tern: denn du be­sit­zest Ei­gen­schaf­ten, wel­che man durch Un­ter­richt und An­stren­gung nicht er­wer­ben kann; du hast was man durch schlech­te Ratschlä­ge und schlech­te Mus­ter nicht ver­liert, du hast das hei­li­ge Feu­er … du hast Ge­nie! … lei­der, ein Feu­er, wel­ches nichts Großem leuch­ten wird, ein Ge­nie, wel­ches un­frucht­bar blei­ben wird … denn, in dei­nen Au­gen lese ich es, wie ich es in dei­ner Brust ge­spürt habe, du hast nicht den Cul­tus der Kunst, nicht den Glau­ben an die großen Meis­ter, nicht die Ehr­furcht vor ih­ren ge­wal­ti­gen Schöp­fun­gen; du liebst den Ruhm, und nur den Ruhm und nur um dein selbst wil­len … Du hät­test kön­nen … du könn­test … aber nein! es ist zu spät! dein Loos wird die Lauf­bahn ei­nes Me­teors sein, ge­ra­de so wie die der …

Der Pro­fes­sor setz­te un­ge­stüm sei­nen Hut auf, dreh­te sich um und ging hin­aus, ohne je­man­den zu grü­ßen, ganz dar­in ver­tieft, sei­ne ab­ge­bro­che­ne Rede in­ner­lich fort­zu­spin­nen.

Alle Welt gab sich zwar Mühe, über die »bi­zar­ren« Äu­ße­run­gen des Pro­fes­sors zu la­chen, aber die­se hin­ter­lie­ßen den­noch für ei­ni­ge Au­gen­bli­cke einen pein­li­chen Ein­druck und eine ge­wis­se Zwei­fel­haf­tig­keit und Ver­stim­mung. An­zo­le­to war der ers­te, der sie zu ver­ges­sen schi­en, wie­wohl sie sein We­sen in eine sol­che Er­schüt­te­rung von Freu­de, Stolz, Zorn und Ei­fer ge­setzt hat­ten, dass es für sein gan­zes künf­ti­ges Le­ben ent­schei­dend wur­de. Er schi­en für nichts Sinn zu ha­ben, als dass er der Co­ril­la ge­fal­le, und er wuss­te sie so da­von zu über­zeu­gen, dass sie sich bei die­sem ers­ten Zu­sam­men­tref­fen al­les Erns­tes in ihn ver­lieb­te.

Graf Zus­ti­nia­ni war ih­ret­we­gen nicht be­son­ders ei­fer­süch­tig und viel­leicht hat­te er sei­ne Grün­de, sie nicht sehr zu be­en­gen. Au­ßer­dem lag ihm der Ruhm und Glanz sei­nes Thea­ters mehr am Her­zen als ir­gend et­was auf der Welt, nicht weil er geld­be­gie­rig ge­we­sen wäre, son­dern weil er wirk­lich für die so­ge­nann­ten »schö­nen Küns­te« schwärm­te. Die­ser Aus­druck be­zeich­net, wie mich dünkt, einen ge­wis­sen nie­dern Hang, der echt ita­lie­nisch ist, und also eine so ziem­lich geist­lo­se Lei­den­schaft. Un­ter dem »Cul­tus der Kunst« – ein neue­rer Aus­druck, der vor hun­dert Jah­ren noch nicht üb­lich war, – ist et­was ganz an­de­res zu ver­ste­hen als das, was man »Ge­schmack für die schö­nen Küns­te« nann­te. Der Graf war in der Tat ein »Mann von Ge­schmack« im da­ma­li­gen Ver­stan­de, ein ama­teur, nichts wei­ter. Al­lein die Be­frie­di­gung die­ses Ge­schmackes war die größ­te An­ge­le­gen­heit sei­nes Le­bens. Er lieb­te es, sich mit dem Pub­li­kum zu be­schäf­ti­gen und das Pub­li­kum mit sich, die Künst­ler zu be­su­chen, die Mode zu be­herr­schen, von sei­nem Thea­ter, sei­ner Pracht, sei­ner Lie­bens­wür­dig­keit, sei­nem ver­schwen­de­ri­schen Auf­wand re­den zu ma­chen. Er hat­te, mit ei­nem Wor­te, die ge­wöhn­li­che Pas­si­on der vor­neh­men Her­ren in der Pro­vinz – zu glän­zen. Be­sitz und Di­rek­ti­on ei­nes Thea­ters war das bes­te Mit­tel, um die gan­ze Stadt zu­frie­den und ver­gnügt zu ma­chen. Noch glück­li­cher hät­te er sich ge­fühlt, wenn er ein­mal die ge­sam­te Re­pu­blik an sei­ner Ta­fel hät­te be­wir­ten kön­nen! Wenn Frem­de sich bei dem Pro­fes­sor Por­po­ra nach dem Gra­fen Zus­ti­nia­ni er­kun­dig­ten, so pfleg­te die­ser zu ant­wor­ten: Es ist ein Mann, der ger­ne den Wirt macht und Mu­sik auf sei­nem Thea­ter, wie Fa­sa­nen auf sei­ner Ta­fel auf­tischt.

Es war Ein Uhr mor­gens, als man sich trenn­te.

– An­zo­lo, sag­te Co­ril­la, die sich mit ihm al­lein in ei­ner Ni­sche des Bal­kons be­fand, wo wohnst du?

Bei die­ser un­er­war­te­ten Fra­ge fühl­te An­zo­le­to, dass er rot und bleich fast in ei­nem Zuge wur­de; denn wie soll­te er die­ser präch­ti­gen und rei­chen Schö­nen es be­ken­nen, dass er ohne Dach und Fach war, wie die Vö­gel un­ter dem Him­mel? Und leich­ter noch wäre dies letz­te­re Be­kennt­nis ge­we­sen, als die Er­wäh­nung je­ner jäm­mer­li­chen Höh­le, wo er Zuf­lucht fand, so oft er sei­ne Näch­te aus Nei­gung oder Not nicht un­ter dem frei­en Him­mel zu­brin­gen woll­te.

– Nun! was hat mei­ne Fra­ge so Au­ßer­or­dent­li­ches? rief die Co­ril­la über sei­ne Ver­wir­rung la­chend.

– Ich frag­te mich selbst, ent­geg­ne­te An­zo­le­to mit vie­ler Geis­tes­ge­gen­wart, wel­cher Kö­nigs- oder Feen­pal­last wohl wür­dig wäre, den stol­zen Sterb­li­chen zu be­her­ber­gen, der mit hin­ein näh­me die Erin­ne­rung ei­nes Lie­bes­blickes von Co­ril­la.

– Und was will die­se Schmei­che­lei sa­gen? ent­geg­ne­te sie, in­dem sie ihm den glü­hends­ten Blick zu­warf, den sie nur aus dem Zeug­hau­se ih­rer Teu­fels­küns­te her­vor­ho­len konn­te.

 

– Dass ich die­ser Glück­li­che nicht bin, ver­setz­te der Jüng­ling; dass ich je­doch, wenn ich es wäre, mich stolz ge­nug dün­ken wür­de, um nur zwi­schen Him­mel und Meer wie die Ster­ne zu woh­nen.

– Oder wie die Cuc­cu­li! rief die Sän­ge­rin, in­dem sie laut auf­lach­te. (Die un­ge­schick­te Schwer­fäl­lig­keit die­ser Mö­ven­art ist näm­lich in Ve­ne­dig sprich­wört­lich ge­wor­den, wie in Frank­reich die der Mai­kä­fer: étour­di com­me un han­ne­ton.)

– Spot­ten Sie über mich, ver­ach­ten Sie mich, er­wi­der­te An­zo­le­to, ich glau­be, dass ich das eher lei­den mag, als wenn Sie sich gar nicht mit mir be­schäf­tig­ten.

– Gut, da du mir nur in Me­ta­phern ant­wor­ten willst, ent­geg­ne­te sie, so will ich dich in mei­ner Gon­del mit­neh­men, auf die Ge­fahr, dich von dei­ner Woh­nung zu ent­fer­nen, statt dich in ihre Nähe zu brin­gen. Wenn ich dir die­sen Streich spie­len soll­te, so ist es dei­ne ei­ge­ne Schuld.

– war dies die Ab­sicht, als Sie mich frag­ten, Si­gno­ra? In die­sem Fal­le ist mei­ne Ant­wort sehr kurz und klar: ich woh­ne auf den Stu­fen Ihres Pal­las­tes.

– So er­war­te mich denn an den Stu­fen des­je­ni­gen, in wel­chem wir uns be­fin­den, sag­te Co­ril­la mit lei­se­rer Stim­me, denn Zus­ti­nia­ni könn­te böse wer­den, dass ich dei­ne Fa­dai­sen so ge­dul­dig an­hö­re.

Auf den ers­ten An­trieb sei­ner Ei­tel­keit stahl sich An­zo­le­to hin­aus und sprang von der An­län­de des Pal­las­tes auf das Vor­der­teil von Co­ril­la’s Gon­del: er zähl­te die Se­kun­den nach den ra­schen Schlä­gen sei­nes be­rausch­ten Her­zens. Aber noch ehe sie auf den Stu­fen des Pal­las­tes er­schi­en, dräng­ten sich man­cher­lei Be­trach­tun­gen in dem ar­bei­ten­den und ehr­gei­zi­gen Kop­fe des De­bü­tan­ten. Die Co­ril­la ist all­mäch­tig, sag­te er zu sich; aber wenn ich, ge­ra­de weil ich ihr ge­fie­le, das Miss­fal­len des Gra­fen er­reg­te? Oder wenn ich durch mei­nen all­zu leich­ten Sieg ihm eine so flat­ter­haf­te Ge­lieb­te ganz ver­lei­de­te und sie so um die Macht bräch­te, wel­che sie nur von ihm hat?

In die­ser Ver­le­gen­heit maß An­zo­le­to mit den Au­gen die Trep­pe, wel­che er noch wie­der hin­auf­stei­gen konn­te, und war im Be­griff, sein Ent­kom­men zu be­werk­stel­li­gen, als die Ker­zen un­ter dem Tor­we­ge her­vor­leuch­te­ten, und die schö­ne Co­ril­la, in ihre Her­me­lin­man­til­le gehüllt, auf der obers­ten Stu­fe er­schi­en, in der Mit­te ei­ner Grup­pe von Her­ren, wel­che sich be­ei­fer­ten ih­ren run­den Ell­bo­gen mit der hoh­len Hand zu stüt­zen und ihr beim Hin­ab­stei­gen be­hilf­lich zu sein, wie es in Ve­ne­dig Sit­te ist.

– He! rief der Gon­do­lier der Pri­ma Don­na dem be­stürz­ten An­zo­le­to zu, was macht ihr da? Ge­schwind in die Gon­del, wenn ihr dazu Er­laub­nis habt, oder fort, und lau­fet an der Riva hin, denn der Herr Graf ist bei der Si­gno­ra.

An­zo­le­to warf sich in die Gon­del, ohne zu wis­sen was er tat. Er hat­te den Kopf ver­lo­ren. Kaum war er drin­nen, als ihm das Stau­nen und der Zorn des Gra­fen vor die See­le trat, wenn die­ser etwa sei­ne Maitres­se bis in die Gon­del ge­lei­te­te und dort sei­nen un­ver­schäm­ten Schütz­ling fän­de. Die Angst pei­nig­te ihn umso schreck­li­cher, da sie um mehr als fünf Mi­nu­ten ver­län­gert wur­de. Die Si­gno­ra war mit­ten auf der Trep­pe ste­hen ge­blie­ben. Sie schwatz­te und lach­te laut mit ih­ren Beglei­tern, und da von ei­ner Pas­sa­ge die Rede war, sang sie die­se mehr­mals mit vol­ler Stim­me und in ver­schie­de­ner Ma­nier. Ihre kla­re und schmet­tern­de Stim­me, ver­klang an den Pa­läs­ten und Kup­peln des Kana­les, wie sich der Ruf des vor dem Mor­gen­rot er­wa­chen­den Hah­nes in dem Schwei­gen der Fel­der ver­liert.

An­zo­le­to, der sich nicht län­ger hal­ten konn­te, war ent­schlos­sen, durch die­je­ni­ge Öff­nung der Gon­del, wel­che von der Trep­pe ab­ge­kehrt war, in das Was­ser zu sprin­gen. Schon hat­te er die Glas­schei­be in ihr schwar­zes Sam­met­fut­ter hin­ab­glei­ten las­sen, schon hat­te er ein Bein hin­aus­ge­streckt, als der zwei­te Ru­de­rer der Pri­ma Don­na, der wel­cher am Hin­ter­tei­le ar­bei­te­te, sich an der Sei­te des Gon­del­zel­tes her­über­beu­gend, ihm zu­flüs­ter­te: Wenn man singt, so be­deu­tet das, ihr sollt euch still ver­hal­ten und ohne Furcht war­ten.

– Ich kann­te den Brauch nicht, dach­te An­zo­le­to und war­te­te, aber nicht ohne einen Rest von schmerz­li­cher Angst. Co­ril­la mach­te sich das Ver­gnü­gen, den Gra­fen bis an den Schna­bel ih­rer Gon­del mit sich zu zie­hen, und dort noch in­dem sie ihm fe­li­cis­si­ma not­te wünsch­te, ste­hen zu blei­ben, bis man ab­ge­sto­ßen war; hier­auf setz­te sie sich mit ei­ner sol­chen Un­be­fan­gen­heit und Ruhe an die Sei­te ih­res neu­en Lieb­ha­bers, als ob sie nicht des­sen Le­ben und ihr ei­ge­nes Glück bei die­sem fre­chen Spie­le ge­wagt hät­te.

– Seht ihr die Co­ril­la? sag­te wäh­rend­des­sen Zus­ti­nia­ni zu dem Gra­fen Bar­be­ri­go; nun, ich woll­te mei­nen Kopf ver­wer­ten, dass sie nicht al­lein in ih­rer Gon­del ist.

– Und wie kommt ihr auf einen sol­chen Ge­dan­ken? er­wi­der­te Bar­be­ri­go.

– Weil sie mir tau­send Vor­stel­lun­gen ge­macht hat, dass ich sie nach Hau­se be­glei­ten möch­te.

– Und ihr seid nicht ei­fer­süch­ti­ger?

– Von die­ser Schwach­heit bin ich schon lan­ge ge­heilt. Ich wür­de vie­les dar­um ge­ben, wenn un­se­re ers­te Sän­ge­rin sich ernst­lich in ir­gend­je­man­den ver­lieb­te, da­mit ihr der Auf­ent­halt in Ve­ne­dig an­ge­neh­mer wür­de als die Rei­se­träu­me, mit de­nen sie mich ängs­ti­get. Über ihre Un­treue kann ich mich leicht trös­ten, aber ihre Stim­me und ihr Ta­lent und die Wut des Pub­li­cums, wel­ches sie mir an San Sa­mu­el fes­selt, er­setzt mir kei­ne.

– Ich ver­ste­he; aber wer könn­te denn der glück­li­che Lieb­ha­ber die­ser tol­len Prin­zes­sin sein?

Der Graf und sein Freund gin­gen alle die Per­so­nen der Rei­he nach durch, wel­che Co­ril­la wäh­rend die­ses Abends aus­ge­zeich­net und auf­ge­mun­tert ha­ben moch­te. An­zo­le­to war der ein­zi­ge, an den sie durch­aus nicht dach­ten.

5.

In­zwi­schen brach ein hef­ti­ger Kampf aus in der See­le die­ses glück­li­chen Liebs­ten, wel­chen Woge und Nacht in ih­rem dun­keln Scho­ße hin­weg­tru­gen. Bang und zit­ternd saß er ne­ben der be­rühm­tes­ten Schön­heit Ve­ne­digs. Wohl fühl­te An­zo­le­to wie das Feu­er ei­nes Ver­lan­gens in ihm braus­te, das von der Freu­de be­frie­dig­ten Stol­zes noch hef­ti­ger an­ge­facht wur­de; aber die Furcht, bald zu miss­fal­len, ver­spot­tet, weg­ge­wor­fen, ver­rä­te­risch bei dem Gra­fen an­ge­klagt zu wer­den, er­käl­te­te sein Ent­zücken. Klug und schlau, ein ech­ter Ve­ne­tia­ner, hat­te er nicht sechs Jah­re lang nach dem Thea­ter ge­strebt, ohne Er­kun­di­gung ein­zu­zie­hen über die schwär­me­ri­sche und ge­bie­te­ri­sche Frau, wel­che dort an der Spit­ze al­ler Int­ri­guen stand. Er hat­te Ur­sa­che zu ver­mu­ten, dass sein Reich bei ihr nur von kur­z­er Dau­er sein wür­de; und wenn er die­ser ge­fähr­li­chen Ehre nicht zu ent­ge­hen ge­sucht, so kam dies da­her, dass er die­sel­be nicht so nahe er­war­tet hat­te: er war durch Über­ra­schung un­ter­jocht und fort­ge­ris­sen. Er hat­te nur ge­meint, durch sei­ne Galan­te­rie sich gern ge­lit­ten zu ma­chen, und sie­he da, so­gleich ge­liebt ward er, um sei­ner Ju­gend, sei­ner Schön­heit, sei­nes auf­blü­hen­den Ruh­mes wil­len.

Jetzt, sag­te sich An­zo­le­to mit je­ner Rasch­heit des Durch­schau­ens und Schlie­ßens, wel­che ei­ni­gen wun­der­sam or­ga­ni­sier­ten Köp­fen von Na­tur bei­wohnt, jetzt bleibt nichts mehr üb­rig als mich ge­fürch­tet zu ma­chen, wenn ich mir nicht ein bit­te­res und lä­cher­li­ches Er­wa­chen von mei­nem Tri­um­phe be­rei­ten will. Aber was kann ich, solch ein ar­mer Teu­fel, tun, dass sie, die Fürs­tin der Höl­le in Per­son, mich fürch­ten müs­se?

Sei­ne Par­tie war bald er­grif­fen. Er ent­wi­ckel­te ein Sys­tem von Be­denk­lich­kei­ten, Ei­fer­süch­te­lei­en, Bit­ter­kei­ten, de­ren lei­den­schaft­li­ches, co­quet­tes Spiel die Pri­ma Don­na in Er­stau­nen setz­te. Kurz zu­sam­men­ge­fasst lau­te­te ihr brüns­ti­ges und lo­ses Lie­bes­ge­schwätz etwa so:

An­zo­le­to. – Ich weiß wohl, dass Sie mich nicht lie­ben, dass Sie mich nie lie­ben wer­den: das ist es was mich an Ih­rer Sei­te trau­rig und be­fan­gen macht.

Co­ril­la. – Und wenn ich dich lieb­te?

An­zo­le­to. – Dann wür­de ich völ­lig in Verzweif­lung sein. Das hie­ße, mich aus dem Him­mel nie­der stür­zen in einen Ab­grund: ich müss­te Sie ver­lie­ren viel­leicht in der nächs­ten Stun­de, nach­dem ich Sie auf Kos­ten mei­nes gan­zen künf­ti­gen Glückes mir ge­won­nen hät­te.

Co­ril­la. – Und warum fürch­test du von mir eine sol­che Un­be­stän­dig­keit?

An­zo­le­to. – Zu­erst, weil mein Ver­dienst ge­ring ist, und so­dann, weil man Ih­nen so viel Schlech­tes nach­sagt.

Co­ril­la. – Wer sagt mir denn Schlech­tes nach?

An­zo­le­to. – Ach, alle Leu­te; denn alle Leu­te be­ten Sie an.

Co­ril­la. – So wür­dest du, wenn ich Tö­rin ge­nug wäre, dich lieb­zu­ge­win­nen und es dir zu sa­gen, mich dann zu­rück­sto­ßen?

An­zo­le­to. – Ich weiß nicht, ob ich Kraft ge­nug ha­ben wür­de, zu ent­flie­hen: wenn ich sie aber hät­te, wahr­haf­tig, nie im Le­ben wür­de ich Sie wie­der­se­hen.

– Wohl­an! rief die Co­ril­la, mich reizt die Neu­gier eine Pro­be zu ma­chen … An­zo­le­to, ich glau­be in der Tat, dass ich dich lie­be.

– Und ich, ich glau­be es nicht, er­wi­der­te er. Ich blei­be; denn ich sehe nur zu gut, dass Sie mich höh­nen. Mit die­sem Spie­le kön­nen Sie mich nicht kir­ren, und noch viel we­ni­ger emp­find­lich ma­chen.

– Du willst dich auf Fi­nes­sen le­gen, scheint mir?

– Wa­rum nicht? Ich bin nicht sehr zu fürch­ten, da ich Ih­nen das Mit­tel bie­te, mich zu be­sie­gen.

– Wel­ches?

– Mich starr zu ma­chen vor Schre­cken und mich in die Flucht zu ja­gen durch das­sel­be Wort im Erns­te, das Sie mir jetzt im Spot­te zu­ge­wor­fen.

– Du bist ein ab­ge­feim­ter Schelm! Ich sehe wohl dass man sich mit dir in Acht neh­men muss. Du bist ei­ner von de­nen, wel­che sich nicht be­gnü­gen, den Duft der Rose zu at­men, son­dern sie pflücken und un­ter Glas brin­gen wol­len. Ich hät­te dich in dei­nem Al­ter we­der für so keck noch für so ei­gen­wil­lig ge­hal­ten!

– Sind Sie mir des­halb gram?

– Im Ge­gen­tei­le, du ge­fällst mir de­sto mehr. Gute Nacht, An­zo­le­to, wir se­hen uns wie­der.

Sie reich­te ihm ihre schö­ne Hand, wel­che er mit In­brunst küss­te. Ich habe mich nicht übel her­aus­ge­zo­gen, sag­te er zu sich, wäh­rend er un­ter den Ga­le­ri­en am Bor­de des Cana­let­to ent­schlüpf­te.

Er glaub­te nicht, dass man ihm noch zu die­ser Stun­de den Ver­schlag, wo er zu über­nach­ten ge­wohnt war, öff­nen wür­de und be­schloss, sich auf der ers­ten, bes­ten Tür­schwel­le, aus­zu­stre­cken, um je­nes eng­li­schen Schla­fes zu ge­nie­ßen, wel­cher nur den Kin­dern und den Ar­men vor­be­hal­ten ist. Aber zum ers­ten Male in sei­nem Le­ben fand er kei­ne Flie­se rein­lich ge­nug für sein La­ger. Ob­schon das Stra­ßen­pflas­ter in Ve­ne­dig sau­be­rer und wei­ßer ist als in ir­gend ei­ner an­de­ren Stadt auf Er­den, so war doch solch ein ziem­lich stau­bi­ges Bett nicht eben pas­send für einen schwar­zen An­zug von dem feins­ten Tu­che und dem ele­gan­tes­ten Schnit­te. Und dann der An­stand! Die­sel­ben Schif­fer, die am frü­hen Mor­gen vor­sich­tig über die Stie­gen schrit­ten, ohne die Lum­pen des ar­men Jun­gen zu be­rüh­ren, hät­ten ihn aus sei­nem Schlum­mer aus­ge­schimpft und die Pracht­stücke sei­nes ge­borg­ten Lu­xus viel­leicht ab­sicht­lich be­su­delt, wel­che sie un­ter ih­ren Fü­ßen fan­den. Was hät­ten sie von ei­nem Men­schen den­ken sol­len, der in sei­de­nen St­rümp­fen, in fei­ner Wä­sche, in Man­chet­ten und Spit­zen­hals­tuch un­ter frei­em Him­mel schlief?

An­zo­le­to ver­miss­te in die­sem Au­gen­bli­cke recht emp­find­lich sei­ne gute rot­brau­ne Wol­len­kap­pe, die sehr schä­big und ab­ge­tra­gen, aber doch noch im­mer zwei Fin­ger dick und äu­ßerst dien­lich war, um dem un­ge­sun­den Mor­gen­ne­bel, der aus der Was­ser­mas­se Ve­ne­digs auf­steigt, Trotz zu bie­ten. Es war in den letz­ten Ta­gen des Fe­bru­ar, und ob­wohl die Son­ne um die­se Jah­res­zeit un­ter dem dor­ti­gen Him­mel schon recht stark leuch­tet und wärmt, so sind die Näch­te doch noch sehr kalt.

 

Es fiel ihm ein, sich in eine der Gon­deln zu du­cken, wel­che am Ufer la­gen: er fand sie aber alle fest ver­schlos­sen. End­lich kam er an eine, de­ren Türe sei­nem Dru­cke wich; doch als er ein­drang, stieß er an die Füße des Bar­ca­ro­len, der sich dort zu sei­ner Nachtru­he zu­rück­ge­zo­gen hat­te und fiel über ihn hin.

– Beim Leib des Teu­fels! schrie ihn eine raue Stim­me aus dem In­nern die­ser Höh­le an, wer seid ihr? was wollt ihr?

– Bist du’s, Za­net­to? er­wi­der­te An­zo­le­to, da er die Stim­me des Gon­do­liers er­kann­te, der ihm im­mer viel Freund­lich­keit be­wie­sen hat­te. Lass mich ne­ben dir nie­der­lie­gen und einen Schlaf un­ter Dach tun in dei­nem Hütt­chen.

– Wer bist du denn? frag­te Za­net­to.

– An­zo­le­to; kennst du mich denn nicht?

– Nein, beim Sa­tan! Hast du doch Klei­der an, die An­zo­le­to nicht ha­ben könn­te, wenn er sie nicht ge­stoh­len hät­te. Pack dich fort! Wenn du der Doge in Per­son wä­rest, so lit­t’ ich einen Men­schen nicht in mei­ner Bar­ke, der einen schö­nen Rock hat zum Spa­zie­ren­ge­hen und kein Loch zum Schla­fen.

Bis jetzt, dach­te An­zo­le­to, hat mir noch die Pro­tec­ti­on und Gunst des Gra­fen Zus­ti­nia­ni mehr Ge­fah­ren und Unan­nehm­lich­kei­ten als Nut­zen ein­ge­tra­gen. Es wäre Zeit, dass mein Beu­tel sich nach mei­nem Suc­ceß schick­te, und ich seh­ne mich da­nach, ein Paar Ze­chi­nen in der Ta­sche zu ha­ben, da­mit ich die Rol­le durch­füh­ren könn­te, die man mich spie­len lässt.

Voll Ver­druss irr­te er in den öden Stra­ßen um­her, und ge­trau­te sich nicht still zu ste­hen, aus Furcht den Schweiß zu­rück­zu­trei­ben, wel­chen Zorn und An­stren­gung ihm aus­ge­presst hat­ten.

Dass ich mir nur nicht bei dem Al­len noch eine Hei­ser­keit hole! sag­te er vor sich hin. Mor­gen des Ta­ges wird der Graf sein jun­ges Wun­der­tier dem ers­ten, bes­ten Hans­nar­ren von Kun­strich­ter vor­füh­ren wol­len, und der wird dann, wenn ich den kleins­ten Kit­zel in der Keh­le von ei­ner sol­chen Nacht ohne Ruhe, ohne Schlaf, ohne Ob­dach da­von ge­tra­gen hät­te, den Auss­pruch tun, ich hät­te kei­ne Stim­me; und der Herr Graf, der es bes­ser weiß, wird sa­gen: ach, wenn Sie ihn doch ges­tern ge­hört hät­ten! – Er ist also nicht im­mer gleich! wird der an­de­re be­mer­ken. Er hat wohl sei­ne fes­te Ge­sund­heit! – Oder viel­leicht, wirft dann ein drit­ter ein, hat er sich ges­tern zu sehr an­ge­strengt. Er ist wahr­haf­tig noch zu jung, um meh­re Tage hin­ter ein­an­der zu sin­gen. Ihr wür­det gut tun, noch zu war­ten, bis er rei­fer und kräf­ti­ger ge­wor­den ist, ehe Ihr ihn auf die Büh­ne bringt. Und der Graf wird sa­gen: Alle Teu­fel, wenn er von zwei Ari­en hei­ser wird, so ist das kein Han­del für mich. Und was wird ge­sche­hen? Sie wer­den mich alle Tage Etü­den sin­gen las­sen, bis mir der Atem aus­geht, bloß um zu pro­bie­ren, ob ich stark und ge­sund ge­nug sei, und sie wer­den mir die Stim­me ent­zwei­bre­chen, um sich zu über­zeu­gen, ob mei­ne Lun­ge gut ist. Hol’ der Teu­fel die Pro­tec­ti­on der großen Her­ren! Ha! wann wer­de ich so weit sein, dass ich sie nicht mehr brau­che, – dass sie, wenn ich in ih­ren Sa­lons sin­ge, sich das für eine Gna­de schät­zen müs­sen, weil ich re­nom­miert, weil ich der Günst­ling des Pub­li­kums bin, weil sich die Thea­terdi­rek­tio­nen um mich rei­ßen, – dass ich mit ih­nen auf glei­chem Fuße, Macht ge­gen Macht, ver­han­deln kön­ne?

Un­ter die­sem Selbst­ge­sprä­che ge­riet An­zo­le­to auf einen je­ner klei­nen Plät­ze, wel­che in Ve­ne­dig cor­ti hei­ßen, ob­schon es kei­ne Höfe sind, son­dern et­was dem ähn­li­ches was man in Pa­ris cité nennt, eine Grup­pe von Häu­sern, de­ren Tü­ren alle auf einen ge­mein­schaft­li­chen of­fe­nen Raum ge­hen. Man muss sich aber die­se so­ge­nann­ten Höfe nicht im min­des­ten re­gel­mä­ßig, ge­schmack­voll und sau­ber­ge­hal­ten den­ken, nach Art un­se­rer mo­der­nen s­qua­res. Es sind viel­mehr ganz klei­ne, fins­te­re Plät­ze, die manch­mal einen Sack bil­den, manch­mal einen Durch­gang von ei­nem Quar­tie­re zu dem an­de­ren; sie sind we­nig be­sucht und rings um­ge­ben von den Woh­nun­gen ar­mer und ge­rin­ger Leu­te, meis­tens aus der un­ters­ten Volks­klas­se, Hand­ar­bei­tern und Wä­sche­rin­nen, de­ren Zeug zum Trock­nen auf Lei­nen, die sich quer über den Weg zie­hen, auf­ge­hängt ist: ein Übel­stand, wel­chen der Durch­ge­hen­de umso wil­li­ger dul­det, als sein Durch­gangs­recht oft aus mehr als hin­läng­li­chen Grün­den eben­falls nur auf Dul­dung be­ruht.

Wehe dem ar­men Künst­ler, der ein Käm­mer­chen nach ei­nem die­ser ab­ge­le­ge­nen Win­kel hin­aus be­wohnt, wo, nur zwei Schrit­te ent­fernt von brei­ten Kanä­len und präch­ti­gen Ge­bäu­den, sich plötz­lich mit­ten im Scho­ße Ve­ne­digs das Pro­le­ta­ri­er­le­ben fin­det mit sei­ner Roh­heit, sei­nem Lärm und sei­nem Schmut­ze. Wehe ihm, wenn er Stil­le braucht zu sei­nen Ar­bei­ten. Denn vom Mor­gen bis in die Nacht wird das Ge­lär­me der Kin­der, Hüh­ner und Hun­de, die in dem en­gen Ge­höf­te durch ein­an­der spie­len, schrei­en und heu­len, das end­lo­se Ge­plap­per der Wei­ber, die auf ih­ren Tür­schwel­len zu­sam­men­ste­hen und das Ge­sin­ge der Ar­bei­ter in ih­ren Werk­stät­ten ihm nicht einen Au­gen­blick der Ruhe las­sen.

Ein Glück noch, wenn nicht gar der Im­pro­vi­sa­to­re kommt und sei­ne So­net­te und Di­thy­ram­ben ab­plärrt, bis aus je­dem Fens­ter ihm eine Kup­fer­mün­ze zu­ge­fal­len, oder wenn nicht Brig­hel­la sei­ne Bude in der Mit­te des Ho­fes auf­stellt und un­er­müd­lich sei­nen Dia­log mit dem Avo­ca­to, dem Te­des­co und dem Dia­vo­lo im­mer wie­der von vor­ne be­ginnt, bis er sich über­zeugt hält, dass sei­ne Be­red­sam­keit um­sonst ver­geu­det ist; vor zer­lump­ten Kin­dern, glück­li­chen Zuschau­ern, die sich kein Ge­wis­sen dar­aus ma­chen, zu hö­ren und zu se­hen, ohne einen Liard in der Ta­sche.

Nachts aber, wann al­les in Schwei­gen ge­sun­ken ist, und wann die Stei­ne hell im Lich­te des stil­len Mon­des schim­mern, dann gibt die­se ge­dräng­te Mas­se un­re­gel­mä­ßig und ab­sichts­los in den ver­schie­dens­ten Epo­chen an ein­an­der ge­bau­ter Häu­ser, durch star­ke Schat­ten ab­ge­setzt, mit man­nig­fal­ti­gen ge­heim­nis­vol­len Tie­fen, und mit dem gril­len­haf­ten For­men­spie­le, das der Zu­fall schuf, ein Bild un­end­lich ma­le­ri­scher Un­ord­nung. Al­les ver­schönt sich im Mon­des­bli­cke; jede klei­ne ar­chi­tec­to­ni­sche Wir­kung tritt her­vor und wird be­deu­tend, der un­schein­bars­te wein­be­laub­te Bal­kon nimmt eine spa­nisch ro­man­zen­haf­te Mie­ne an, und er­füllt die See­le mit den Bil­dern je­ner schö­nen rit­ter­li­chen Aben­teu­er. Der leuch­ten­de Him­mel, in wel­chen sich jen­seits die­ser fins­te­ren und win­ke­li­gen Mas­se, die blas­sen Kup­peln fer­ner Ge­bäu­de tau­chen, gießt über die ge­rings­ten Ein­zel­hei­ten des Ge­mäl­des einen un­ge­wis­sen und har­mo­ni­schen Far­ben­ton, der zu end­lo­sen Träu­men ver­lockt.

In der cor­te Mi­nel­li, bei der Kir­che San-Fan­tin be­fand sich An­zo­le­to, als eben die Turm­uh­ren den Schlag der zwei­ten Stun­den nach Mit­ter­nacht ein­an­der zu­schick­ten. Ein ge­hei­mer Trieb hat­te sei­ne Schrit­te nach der Woh­nung ei­nes We­sens ge­lenkt, des­sen Name und Bild seit Son­nen­un­ter­gang nicht in sei­ne See­le ge­kom­men war. Kaum hat­te er die­sen Hof be­tre­ten, als er sich bei den letz­ten Sil­ben sei­nes Na­mens von ei­ner sanf­ten Stim­me lei­se ru­fen hör­te, und so wie er auf­blick­te, sah er einen leich­ten Schat­ten­riss auf ei­ner der elen­den Ter­ras­sen des Ge­höf­tes sich ab­ma­len. Ei­nen Au­gen­blick spä­ter wur­de die Türe die­ser Ba­ra­cke ge­öff­net, und Con­sue­lo im Kat­tun­röck­chen und in einen al­ten schwarz­sei­de­nen Man­tel ge­wi­ckelt, wo­mit vor Zei­ten ihre Mut­ter Staat ge­macht hat­te, kam, ihm die Hand zu rei­chen, wäh­rend sie mit der an­de­ren Hand einen Fin­ger an ihre Lip­pen leg­te, um ihm Stil­le an­zu­emp­feh­len. Auf den Ze­hen­spit­zen und tas­tend stie­gen bei­de die krum­me und ver­fal­le­ne höl­zer­ne Trep­pe hin­an, wel­che bis auf das Dach führ­te; und oben auf der Ter­ras­se an­ge­langt be­gan­nen sie ei­nes je­ner lan­gen, von Küs­sen un­ter­bro­che­nen Ge­lis­pel, de­ren man jede Nacht wie Win­des­flüs­tern auf den Dä­chern hört, oder wie ein Ge­schwätz von Luft­geis­tern, die im Ne­bel paar­weis um die wun­der­lich ge­form­ten und mit ih­ren zahl­lo­sen ro­ten Tur­ba­nen alle Häu­ser Ve­ne­digs schmücken­den Schlo­te krei­sen.

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