Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute

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Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute
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Gerhard Brunn

Die Europäische Einigung

Von 1945 bis heute

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961301-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014027-7

www.reclam.de

Inhalt

  Prolog

  Europavorstellungen und Einigungspläne bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

  Die Entdeckung Europas durch die USA

  Europäische Volksbewegung oder Feldzug der High Society? – Europabewegungen und die Gründung des Europarats

  Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS – Montanunion)

  Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft – Ein Irrweg

  Von Messina über Venedig nach Rom – Der Weg zu den Römischen Verträgen

  Die EWG – Kindheit und frühe Jahre im Schatten de Gaulles

  Die EWG in den sechziger Jahren – »Go and Stop«

  Aufbruch zu neuen Ufern? – Die EG in den siebziger Jahren

  Die achtziger Jahre – Von der Eurosklerose zum Höhenflug

  Der Umbruch in Osteuropa, die deutsche Einheit und der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union

  Die Europäische Union auf dem Weg in das 21. Jahrhundert

  Literaturhinweise

  Verzeichnis der Abkürzungen

  Zum Autor

Prolog

Der 19. September 1946 war ein Festtag für die Stadt Zürich. Zum Ende seines dreiwöchigen Schreib- und Malurlaubs am Genfer See hatte sich der britische Kriegspremier und nunmehrige Oppositionsführer im Unterhaus, Winston Churchill, zu einer »Rede an die akademische Jugend« in der Universität angesagt (Dok. 3). Die Stadt wimmelte von Menschen. Die Schulkinder hatten frei und um die Mittagszeit viele Angestellte von Innenstadtgeschäften ebenso. Manche Geschäftsinhaber hatten ihren Angestellten sogar Lunchpakete mitgegeben. Churchills Fahrt durch die Innenstadt glich einem Triumphzug und zeugte von dem Ansehen, das er bei ungezählten Menschen genoss, für die er in den düsteren Tagen des Krieges Hoffnungsträger gewesen war. Mehrere Reihen tief standen die Menschen an den Straßen, jubelten, schwenkten Fähnchen und überschütteten sein offenes Auto mit Blumen.

Auf dem Podium der Universitätsaula hatten sich die Fahnenträger der studentischen Vereinigungen in vollem Wichs aufgereiht. Der studentische Gesangsverein sang »Burschen heraus«, und der Rektor hielt seine Begrüßungsansprache. Erstaunliches bekamen anschließend die rund 150 Gäste in der Aula zu hören, unter denen die »akademische Jugend« in der Minderzahl war, da sich Dozenten beider Züricher Hochschulen und Honoratioren vorgedrängt hatten. Aber die Ausgeschlossenen konnten die Rede über Lautsprecher im Auditorium Maximum und im Radio verfolgen, da sie der Sender Beromünster direkt in das In- und Ausland übertrug. Erst sprach Churchill über »Europas Tragödie« und die seiner Bewohner, »die ungeheure Masse zitternder menschlicher Wesen, die gequält, hungrig, abgehärmt und verzweifelt auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen starrt und die düsteren Horizonte angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, Tyrannei oder neuen Schreckens absucht«.

Das bedrückende Szenario bildete den Hintergrund der beiden zentralen Botschaften von Churchills Rede, die sie zur Sensation machten und in die Geschichtsbücher brachten:

1 Die »Europäische (Völker-)Familie« müsse neu geschaffen, eine »Art Vereinigte Staaten von Europa« errichtet werden. Eine derartige Föderation könnte »den verwirrten Völkern dieses unruhigen und mächtigen Kontinents ein erweitertes Heimatgefühl und ein gemeinsames Bürgerrecht« geben.

2 Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der »Europäischen Familie« müsse »eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland« sein.

Dies »vorzügliche (sovereign) Heilmittel«, so meinte Churchill, könne die immer noch mögliche Rückkehr des »finsteren Mittelalters mit seiner Grausamkeit und seinem Elend« verhindern, in wenigen Jahren den größten Teil des Kontinents frei und glücklich machen und »Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzen, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen«. Zwar müssten die Schuldigen für die Verheerung Europas und die in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Verbrechen und Massenmorde bestraft werden, nach der Bestrafung aber müsse es einen »segensreichen Akt des Vergessens« geben. Nur so könne Europa vor »endlosem Elend und schließlich vor seinem Untergang bewahrt werden«.

»Let Europe arise!«, rief er am Schluss seinen Zuhörern zu, von denen manche noch nach Jahren die Erinnerung an ein erhebendes, aber auch verwirrendes Ereignis mit sich trugen: »Die Erzfeinde Frankreich und Deutschland sollten versöhnt den Grundstock für eine europäische Union bilden. Hatte ich richtig verstanden? Kein Gedanke der Rache?« So klang bei einer Zeitzeugin die Überraschung noch nach vierzig Jahren nach, während ein anderer ehemaliger Teilnehmer nüchterner zurückblickte: »Eine zukünftige enge Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland als Kern eines neuen Europa« – »Die meisten der Anwesenden (ich selber mit dabei) nahmen es als einen der typischen Churchillschen Höhenflüge mit geringem Realitätsbezug.« (Neue Züricher Zeitung, 18. September 1996, B 5, B 9.)

In der Tat schien Churchills kühne Vision unzeitgemäß zu sein und fand im besten Fall eine freundlich zurückhaltende Aufnahme. Im patriotisch bewegten Frankreich reagierten das offizielle Paris und die Presse empört auf den Vorschlag einer Vereinigung (union) Europas unter der »Schirmherrschaft«, wie Le Monde (19. September 1946) schrieb, Frankreichs und Deutschlands. Der Friede in Europa hänge nach dem Ende der Kampfhandlungen nicht mehr von den französisch-deutschen Beziehungen ab, sondern von der Beendigung der Rivalität zwischen der UdSSR auf der einen Seite und den Vereinigten Staaten und England auf der anderen Seite. Und im Bericht und Kommentar der Illustrated London News (5. Oktober 1946, S. 370) hieß es: Habe Churchill das Wort von den Vereinigten Staaten von Europa mit der Absicht gebraucht, seine Zuhörer sollten sich eine Föderation nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Nordamerika denken, so sei eine solche offensichtlich eine Unmöglichkeit, ein Ziel, das wünschbar oder nicht, auf jeden Fall aber in einem Jahrhundert nicht erreichbar sei.

Zwei Jahre darauf schien das eben noch Unmögliche doch erreichbar zu werden, und beinahe triumphierend schrieb Randolph S. Churchill, in Zürich sei sein Vater mit dem Thema des Vereinigten Europa der öffentlichen Meinung wieder einmal ein gutes Stück voraus gewesen, aber nun [1948] hätten sich alle nichtkommunistischen Parteien in Westeuropa und den USA sein Anliegen zu eigen gemacht (Collected Works, S. XIII). Drei Jahre später schufen sechs Staaten mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) so etwas wie eine europäische Kernfamilie, die sich entgegengesetzt zu heutigen Familientrends nach und nach zu einer Großfamilie erweiterte und zugleich ihre inneren Bindungen festigte. Mit dieser europäischen Großfamilie, seit dem Vertrag von Maastricht »Europäische Union« (EU) genannt, ist nach einem Prozess von mehr als fünfzig Jahren Dauer ein gemeinsamer Politik-, Wirtschafts- und Rechtsraum Europa entstanden, in dem supranationale oder gemeinschaftliche europäische Institutionen (Europäischer Rat, Ministerrat, Parlament, Kommission, Gerichtshof) für alle Mitgliedsstaaten verbindlich über eine immer größere Zahl politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Angelegenheiten entscheiden. Die einstige Utopie eines Europa, in dem sich die Menschen, von Grenzen kaum behindert, frei bewegen und betätigen können, ist zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts Realität, ja sogar Alltag geworden.

Zweifellos kann man die Europäische Union »eine ›Art‹ Vereinigter Staaten von Europa« nennen, auch wenn sie sich mit dem Prinzip der Teilintegration deutlich von herkömmlichen Föderationen unterscheidet. Noch ist es den Politologen nicht gelungen, das Neuartige der europäischen Rechtskonstruktion in einem Begriff zu fassen, nicht zuletzt, weil diese Europäische Union ja noch nicht ist, sondern immer noch wird.

 

Mit diesem werdenden »Europa« aber verbinden die Unionsbürger kaum noch Hoffnungen auf eine neue, schönere Welt, sondern vielmehr alltägliche Ärgernisse, und »Europa« hat eine schlechte Presse. Zeitungen und Fernsehen zeichnen ein eher hässliches Bild der EU, werfen ihr Unfähigkeit im Konfliktmanagement sowie bürgerferne Regelwut vor und unterstellen ihr die Tendenz, die Selbstbestimmung der Mitgliedsstaaten in der Regelung ihrer Angelegenheiten und Wahrung ihrer Eigenarten zu gefährden. Nur noch eine kleine Minderheit der Deutschen ist für einen gemeinsamen europäischen Staat, die »Vereinigten Staaten von Europa«. Zwei Drittel befürworten eine Rückverlagerung von Entscheidungsbefugnissen zu den Mitgliedsstaaten der Union.

Trotz des europäischen Missbehagens zweifeln die europäischen Akteure nicht an der historischen Notwendigkeit der Einigung. Eine zumindest in programmatischen Reden allgemein geteilte Begründung kann man in den Erinnerungen Hans-Dietrich Genschers nachlesen: »Die Gründergeneration der Europäischen Gemeinschaft wollte […] auf die Irrwege der europäischen Geschichte, auf jahrhundertelange Bruderkriege und vor allem auf zwei Weltkriege dieses Jahrhunderts reagieren. Die Völker des Kontinents sollten ihre Kräfte nie wieder gegeneinander richten, sondern sie zusammenführen zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens. Und diese Idee besteht fort, ja, angesichts der Tendenzen zur Renationalisierung der Politik ist sie notwendiger denn je. Die Möglichkeit eines neuen Nationalismus ist die wesentliche Gefahr, mit der sich Europa nach der großen Wende konfrontiert sieht.« (Genscher, S. 394.)

Der Zustand Europas und des Projekts der Europäischen Einigung am Beginn des 21. Jahrhunderts sind angemessen nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung seit 1945 zu verstehen. Dieser Entwicklung widmet sich die folgende Darstellung. Sie handelt von dem »Projekt Europa«, von den damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Interessen und Zielsetzungen der Teilnehmerländer und ihrer Zusammenführung im Einigungsprozess. Beabsichtigt ist eine chronologische politische Entwicklungsgeschichte der heutigen Europäischen Union, der Haupt- und Nebenwege und Sackgassen der Integration, der Entstehung und Aufeinanderfolge der europäischen Organisationen, ihres schrittweisen Ausbaus und ihrer Anreicherung mit einer immer größeren Aufgabenfülle und immer mehr Politikbereichen. Es versteht sich von selbst, dass die Darstellung im vorgegebenen Rahmen nur die großen Linien nachzeichnen kann, manche Aspekte nur am Rande berührt und andere überhaupt nicht behandelt. Dies betrifft u. a. die Gemeinschaft(en) als Akteur sowohl in Bezug auf die Innenpolitik(en) der europäischen Organisationen, die Agrar- oder Strukturpolitik u. a. m., als auch in Bezug auf die Außenpolitik(en), die Europäische Politische Zusammenarbeit etwa im KSZE-Prozess oder in der Jugoslawienkrise.

Die bisherige Geschichtsschreibung zur Europäischen Integration ist von unterschiedlichen Schulen geleistet worden. Bis zur Mitte der achtziger Jahre hat die idealistische Sichtweise von der Wirksamkeit eines »grand design« die Darstellungen bestimmt, und noch heute zeugen gängige Buchtitel wie Europa machen, Der Aufbau Europas oder Geschichte einer großen Idee von der ungebrochenen Vorstellung, dass der Integrationsprozess von der Vision missionarischer aufgeklärter Eliten gesteuert worden sei. Sie hätten die Lehren aus den mörderischen Kriegen, der wahnwitzigen Übersteigerung des Nationalismus, der Selbstzerstörung Europas und seinem drohenden Absturz in die Bedeutungslosigkeit gezogen und sich an den Aufbau eines Vereinigten Europas begeben. Das ferne Ziel eines europäischen Bundesstaats vor Augen, aber bei einzelnen Schritten und Teilergebnissen pragmatisch zu Kompromissen bereit, hätten sie sich mit Leidenschaft und Geduld auf direktem Weg oder auch auf Umwegen kontinuierlich darum bemüht, Stück für Stück ein wirtschaftlich und politisch geeintes, supranationales Europa, eine politische Union Europas, im Idealfall einen Europäischen Bundesstaat zu schaffen.

»Realistische« Historiker stellten diese Sichtweise nach der Öffnung der Archive in Frage. Die »realistische« Geschichtsschreibung sieht in der Europäischen Integration lediglich ein neuartiges Instrument im Dienst einer ganz traditionellen nationalen Außenpolitik der beteiligten Staaten, ein Instrument, mit dem die Regierungen im Interesse ihres Machterhalts zu Hause, auf europäischer Ebene die Durchsetzung »nationaler«, vorwiegend von der Wirtschaft vorgebrachter Interessen aushandeln. Die politische Geschichtsschreibung sieht hinter der Integration u. a. das Interesse der kleinen Staaten, über europäische Institutionen die Mitsprache in internationalen Angelegenheiten zu steigern, und das Interesse der größeren Staaten, mit der Unterstützung der Partnerländer in der internationalen Politik mit größerem Gewicht auftreten zu können und schwindende oder verlorene Bedeutung zurückzugewinnen. Beispielsweise habe, so lautet eine der neueren Interpretationen, die europäische Politik der Bundesrepublik Deutschland ab den siebziger Jahren in erster Linie dem egoistischen Ziel gedient, zu einer großen Macht aufzusteigen.

Die Quellen sind so eindeutig, dass es töricht wäre zu leugnen, dass massive, von welchem Akteur auch immer formulierte, »nationale« Interessen in jeder Phase des Integrationsprozesses und bei jedem einzelnen Schritt eine erhebliche Bedeutung gehabt haben. Weil es den Partnern immer wieder gelang, im Zeichen des »Projekts Europa« ihre Interessen zusammenzuführen und weitgehend zufrieden zu stellen, kam die von Robert Schuman in seiner Botschaft vom Mai 1950 angesprochene »Solidarität der Tat« zustande, die sich freilich vorwiegend technokratisch und bürgerfern realisierte. Die Solidarität der Tat ermöglichte das Bauwerk der Europäischen Gemeinschaften. Die »schnöden« Interessen wurden einerseits mit der »Idee Europa« immer wieder aufs Neue ideell überhöht und legitimiert, andererseits war die Realität der Idee unabdingbar als gemeinsamer Fluchtpunkt der Einzelinteressen. Mit der »Idee Europa« verbanden sich Vorstellungen von einem gemeinsamen Schicksal, von gemeinsamen Werten und Traditionen, und das erleichterte es, die Interessen als komplementäre und miteinander zu vermittelnde Interessen wahrzunehmen.

»Europa« nur aus der Interessenperspektive zu sehen hieße, an der Oberfläche zu bleiben, die im Integrationsprozess bearbeiteten Probleme nicht als Indikatoren oder Teilmanifestationen für tiefer liegende Langzeitphänomene zu begreifen und die Tiefenstruktur oder, um ein Interpretationsmodell Braudels aufzugreifen, im kurzfristigen Integrationsgeschehen die »longue durée«, die lange Welle der historischen Veränderung, nicht wahrzunehmen. Hier kommen wir wieder auf die idealistische Geschichtsschreibung zurück. Sie hat die langfristige Unterhöhlung der Funktionsfähigkeit des kleinteiligen europäischen Staatensystems als Ganzes und die zunehmende Unfähigkeit jeden Staates, seine wichtigsten Staatszwecke – Sicherheit und Frieden, Schutz vor Agressoren, wirtschaftliches und soziales Wohlergehen – zu erfüllen, richtig diagnostiziert. Nur hat sie den Fehler begangen, diese langfristigen Veränderungen, deren einzelne Elemente im zeitgenössischen Diskurs auch regelmäßig angesprochen wurden, als unmittelbar handlungsleitende Motive der »Gründungsväter« zu verstehen.

Das organisierende Prinzip, die Leitthese der Darstellung, ist, dass dem Integrationsprozess langfristige historische Trends zugrunde liegen, dass er aber durch kollektive strategische Entscheidungen in Gang gesetzt und in seinen aufeinander folgenden Phasen vorangetrieben worden ist. Die Wahl der Akteure, Europäische Gemeinschaften aufzubauen, bezog sich auf die »Idee Europa«, aber eine klare Vorstellung vom konkreten Ziel des Einigungsprozesses gab es trotz der in der Öffentlichkeit häufiger verwendeten Begriffe »Europäische Föderation«, »Europäischer Bundesstaat« oder gar »Vereinigte Staaten von Europa« ebenso wenig wie eine zielbestimmte Aufeinanderfolge der Etappen. Die einzelnen Schritte erfolgten stets als Reaktion auf den Druck internationaler politischer Konstellationen und nationaler Interessen. Sie wurden mit Hilfe von Strategien (Kooperation, Deregulierung und Supranationalität) umgesetzt und mündeten in eine Dynamik des Auf- und Ausbaus von Institutionen und der Übertragung bisheriger nationaler Zuständigkeiten auf diese.

Internationale Konstellationen, welche die einzelnen Schritte bestimmten, waren u. a. der Kalte Krieg, der 1947/48 zu den ersten europäischen Institutionen führte, oder 1950 der Koreakrieg, der auf amerikanischen Druck den Anlass gab, Deutschland in einen gemeinschaftlichen institutionellen europäischen Rahmen einzufügen. Die wirtschaftliche desintegrierende Krisensituation der siebziger und frühen achtziger Jahre nach dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods, nach der Ölkrise und dem Paradigmenwechsel vom Interventionsstaat zum Neoliberalismus drängte die Gemeinschaft ebenso dazu, die Mechanismen der Zusammenarbeit zu verstärken, wie die Furcht, technologisch hinter die USA und den neuen Wirtschaftsriesen Japan zurückzufallen. Der Zusammenbruch des Ostblocks, die deutsche Einigung und die gewaltige Erweiterung der Union nach 1989 gaben einen neuen Impuls zur Verfestigung und Vertiefung.

Die nationalen Interessen geboten es 1947, zusammenzuarbeiten, um in den Genuss der Marshallplangelder zu gelangen. Die Montanunion diente Frankreich dazu, die Bundesrepublik Deutschland, speziell deren Schwerindustrie, zu kontrollieren, und der Bundesrepublik diente sie als Einlasskarte in die westeuropäische Staatengemeinschaft. Die Römischen Verträge von 1957 sollten den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung sichern, Deutschland als wirtschaftliche Macht einhegen und sein ökonomisches Potential für die Partnerländer nutzbar machen. Die Erweiterungen der siebziger und achtziger Jahre waren eine Antwort auf Englands Furcht, wirtschaftlich und politisch international ins Abseits zu geraten, und das Bestreben der südeuropäischen Staaten, ihre gerade gewonnenen Demokratien abzustützen. Die Wirtschafts- und Währungsunion sollte der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten in einer globalisierten Wirtschaft dienen und außerdem die Hegemonie der DM verhindern.

Idealtypisch gesehen, bedeutet »europäische Integration« die immer engere wirtschaftliche, politische und rechtliche Verbindung der Mitgliedsstaaten und die immer größere Freizügigkeit im Gemeinschaftsgebiet. Im Wesentlichen hat man dies mit drei Strategien verfolgt: 1. der wirtschaftlichen und politischen Deregulierung; 2. der engen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit; 3. der Übertragung nationaler Kompetenzen auf supranationale Gemeinschaftsorgane.

Die Deregulierung, auch »negative Integration« genannt, meint den ersatzlosen Abbau zwischenstaatlicher Hemmnisse für den freien zwischenstaatlichen Verkehr von Menschen, Gütern, Kapital und Dienstleistungen und von politischen Kompetenzen ganz allgemein, ohne dass supranationale oder gemeinschaftliche Kompetenzen an ihre Stelle treten. Das ist im Kern die Strategie des Gemeinsamen Marktes.

Zwischenstaatliche Zusammenarbeit heißt in der europäischen Terminologie »Intergouvernementalismus« und bedeutet die formell vereinbarte, regelhafte gemeinschaftliche Behandlung politischer Angelegenheiten, sei es durch Information, Beratung, Abstimmung über Ziele und Mittel, Angleichung von Regeln und Normen bis hin zur Beschlussfassung über gemeinsame politische Aktionen. Für diese Strategie stehen der Europäische Rat bzw. die Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs.

Im Falle der Supranationalität wird die Politik nicht mehr von den Nationalstaaten in nationalstaatlicher Verantwortung entschieden und ausgeführt, sondern von »europäischen«, von Gemeinschaftsorganen. Die vorerst letzte Errungenschaft dieser Strategie sind die Gemeinschaftswährung, der Euro, und die Europäische Zentralbank (EZB).

Die Strategien und die dahinterstehenden Konzepte sind nicht säuberlich voneinander zu trennen, sie durchdringen sich vielfach, aber sie stehen doch für unterschiedliche Optionen der »richtigen Integrationsmethode«, und sie stehen seit Beginn des Integrationsprozesses in ständiger Konkurrenz zueinander.

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