Nach Amerika! Bd. 1

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«Nicht zum Spaßen aufgelegt?» rief aber Schollfeld, Kellmann unter dem Tisch anstoßend. «Ist auch gar nicht nötig, mein lieber Aktuar – wir spaßen auch hier gar nicht; jemand aber, der eine Erbschaft macht und irgendwo Stammgast ist, überkommt dabei die moralische Verpflichtung, irgendetwas zum Besten zu geben, und es bleibt ein Skandal, daß man einen solchen Glückspilz auch nur noch daran erinnern muß. Hat der Henker da wieder den Schleicher, den Weigel», unterbrach er sich aber plötzlich mit etwas leiserer Stimme, als er sah, wie dieser das Zimmer wieder betrat und sich ihrem Tisch zuwandte, «ich hatte schon gehofft, wir würden ihn heut Abend los sein, jetzt ist m e i n Vergnügen beim Teufel.»

«Nun, meine Herren, noch so fröhlich beisammen?» sagte Weigel jetzt, indem er zum Tisch trat. «Ah, da sind ja der Herr Aktuar auch noch dazu gekommen – bitte, behalten Sie ja Platz, ich rücke ein klein wenig hier herüber – so – das geht vortrefflich. Nun, der Herr Aktuar haben in diesen Tagen ein großes Glück gehabt – da darf man ja wohl gratulieren.»

«Danke herzlich», sagte Ledermann ruhig. «Es wird übrigens so viel von den paar hundert Talern gesprochen, als ob’s ebensoviel Tausende wären.»

«Ih nun, das lassen Sie gut sein», sagte Weigel, mit dem Kopf schüttelnd. «Sechshundert Taler richtig angewandt, könnten in der Tat in kurzer Zeit zu so viel Tausenden werden.»

«Wenn man sich sächsische Löbau-Zittauer Eisenbahnaktien dafür kaufte, nicht wahr?»31 sagte Schollfeld, das Gesicht halb in den eben gebrachten Krug versteckt und einen grimmigen Blick über den Rand desselben hin nach dem Auswanderungsagenten schießend.

«Nun, das gerade nicht», schmunzelte Herr Weigel, sein Glas ein wenig weiter auf den Tisch schiebend und sich die Hände reibend, «da wüßte ich doch noch eine bessere Spekulation.»

«Und die wäre?» sagte der Aktuar, seitwärts zu ihm aufschauend.

«Wenn Sie sich eine kleine Farm in Amerika kauften.»

«Puh!» rief Schollfeld, verächtlich den Kopf abwendend, «jetzt seien Sie so gut, kommen Sie uns hier nicht mit Ihrer alten Leier von dem verdammten Amerika und verderben Sie uns das Bier nicht. Hier ist auch nichts zu verdienen, denn von uns geht doch keiner hinüber.»

«Lieber Herr Schollfeld», sagte Weigel mit großer Ruhe, «von u n s weiß niemand, was er nächstes Jahr tun wird, und verschwören läßt sich so eine Sache nun einmal gar nicht – Amerika ist immer noch ein Zufluchtsort.»

«Ja, für die Spitzbuben und Halunken, d a haben Sie Recht!» rief der Apotheker.



«Ne, lieber Herr Weigel», rief auch Kellmann jetzt, «mit sechshundert Talern kann ich da drüben auch nichts anfangen, und bin dann noch obendrein bei jedem Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, daß ich betrogen und hintergangen werde. Man kann dort ja nicht einmal seinem eigenen Bruder trauen.»

«Aber, mein bester Herr Kellmann, das sind die unglückseligen Ideen, die von – na, ich will keinen Namen nennen – ausgesprengt werden, um die Leute blind zu machen, rein blind. Sie sollen eben nicht sehen, was für Vorteile, für fabelhafte Vorteile dort gerade für sie zutage liegen, und die Gerüchte von dort verübten Betrügereien hängen eben als Vogelscheuche über den Erbsen. Wir haben h i e r ebenso viele schlechte Charaktere wie in Amerika.»

«Ob ebenso v i e l, will ich dahingestellt sein lassen», sagte Schollfeld mit einem nichts weniger als freundlichen Seitenblick auf den Agenten, «aber ebenso schlechte gewiß.»

«Nun also», erwiderte Weigel freundlich, ohne auf den Hieb einzugehen, ja, im Gegenteil die Waffe lächelnd umdrehend, «sehen Sie, selber Herr Schollfeld stimmt mir darin bei.»

«Ja, aber nicht wie S i e es meinen!» rief Schollfeld entrüstet, keineswegs gesonnen, sich die Worte so im Munde verdrehen zu lassen.

«Von den Betrügereien will ich noch gar nichts sagen», unterbrach ihn aber Kellmann, ziemlich in Eifer, «was ich dagegen sehr guten Grund habe zu bezweifeln, sind die billigen Landkäufe, sind dabei die Erleichterungen, welche diese republikanische Regierung allen möglichen Gewerken und Unternehmungen bietet, die geringen Taxen, der freie Verkehr und Umsatz im Inneren. Das wird alles ausgemalt mit Gold und Silber und Himmelblau, und kommt man am Ende hinüber, so hat man die ganze nämliche Geschichte wie bei uns. Daß all’ das nichtsnutzige Gesindel dort ohne P a ß umherlaufen darf, mag wahr sein, das halte i c h aber eben für keinen Fortschritt.»

«Verehrtester Herr Kellmann», rief Weigel in Eifer, «gegen T a t s a c h e n können wir doch nicht anstreiten; wir wollen doch nicht blind und taub mit dem Kopf gegen die nächste und womöglich härteste Wand rennen ? Wir sind doch vernünftige Menschen, aber haben Sie nicht alle die neueren Schriften jetzt gelesen, die… »

«Ach, gehen Sie mit Ihren Schmierereien!» rief aber Schollfeld, dem das Gespräch jetzt zur Last wurde. «Für einen Taler den Bogen malen ihnen die lumpigen Literaten selbst die Hölle himmelblau an und kleben von oben bis unten Sterne darüber. Laßt mir jetzt Euer Geschwätz von Amerika hier, oder ich stehe, Gott straf’ mich, auf und setze mich woanders hin.»

«Nun, jeder darf sich hinsetzen, wo es ihn gerade freut», sagte Weigel, wirklich etwas beleidigt, obgleich er sonst einen ziemlichen Teil vertragen konnte.

«Ja, leider», sagte Schollfeld, mit wieder einem Seitenblick auf den Agenten, der diesen doch jetzt vermochte, aufzustehen und sein Bier auszutrinken.

«Herr Schollfeld», sagte er dabei, «Sie sind in der Stadt als ein Anti-Amerikaner bekannt, und ich glaube, Sie würden den Leuten eher zu einer Auswanderung nach Sibirien wie nach Nordamerika raten.»

«Würde ich auch», sagte Herr Schollfeld trotzig, sich den Hut noch fester in die Stirn drückend.

«Nun ja, der Geschmack ist verschieden – jeder weiß am besten, wohin er gehört, und dahin treibt ihn der Instinkt», sagte Herr Weigel achselzuckend, indem er den Tisch verließ, und Kellmann erwischte eben noch zur rechten Zeit Schollfeld hinten am Frackzipfel, der aufspringen und dem sich rasch entfernenden Weigel nach wollte.

«Aber so fangen Sie hier doch um Gotteswillen keinen Skandal mit dem Menschen an!» rief Kellmann leise und bittend.

«Instinkt treibt?» rief Schollfeld jetzt laut hinter dem Davoneilenden her, da er sich hinten, vielleicht gern, gehalten fühlte. «Sie wird bald ‘was Anderes treiben, Sie – Sie S e e l e n v e r k ä u f e r, Sie!»

«Bst!» rief auch der Aktuar jetzt, ihn rasch zu sich niederziehend. «Sind Sie denn ganz vom Bösen besessen, Apotheker? Auf das Wort könnte er Ihnen, wenn er’s noch gehört hätte, die schönste Injurienklage32 an den Hals hängen.»

« ‘s ist aber wahr – der Lump!» rief Schollfeld ärgerlich, den leeren Krug zum hastigen Trunk aufhebend und dann laut wieder auf den Tisch aufstoßend. «Es i s t ein Seelenverkäufer, der Kerl, und um einen Taler beschwatzt er das Kind, daß es die Eltern, den Mann, daß er die Frau verläßt. – Hier, Kellner, noch ein Glas Bier ! – Sprecht mir von Raubmördern und Straßenräubern, gegen die das Gericht einschreitet und ihnen das Handwerk legt. Allen Respekt vor einem Mann, der es den Leuten geradezu ins Gesicht wirft: ich b i n ein schlechter Kerl – ich stehle, wo ich’s bekommen kann, und wo ich’s nicht gutwillig kriege, mord’ ich auch; aber solche heimlichen Halunken sind die Upasbäume33 der menschlichen Gesellschaft – sie vergiften, was sie erreichen können, und von außen geben sie sich das Ansehen eines ehrlichen Baumes und haben grüne Blätter und glatte Rinde. Gegen d i e Schufte sollte eingeschritten werden, nicht mit Geldstrafen oder Gefängnis, nein, mit Knute und Strang. Himmeldonnerwetter, wenn i c h da ‘was in der Regierung zu befehlen hätte!»

«Sie würden schöne Geschichten anrichten, kann ich mir etwa denken», sagte der Aktuar trocken, «’s ist so schon manchmal wie’s ist. Lassen Sie doch jeden seinen Weg gehen in der Welt; der liebe Gott weiß wohl, wozu’s gut ist. Blutegel sind auch unangenehme Geschöpfe in der Naturgeschichte, und doch verwendet sie die Natur wieder zu höchst nützlichen und notwendigen Zwecken. Denken Sie sich, so ein Individuum wäre ein menschlicher Blutegel.»

«Dann trink’ ich aber nicht mein Bier an einem Tisch mit ihm!» rief der Apotheker.

«Bah, das ist wieder zu weit gegangen», sagte Kellmann, «viel zu weit gegangen. Was Schlechtes können Sie dem Mann überhaupt nicht nachsagen, denn daß er für Amerika wirbt, ist einesteils sein Geschäft, anderenteils seine Ansicht, und er könnte Ihnen von s e i n e m Standpunkt aus dann ebensogut wieder vorwerfen, daß Sie eine Menge Menschen absichtlich unglücklich machten, die Sie von einer Auswanderung nach jenem Land abhielten.»

«Unsinn – barer Unsinn!» rief Schollfeld, unwillig den Kopf herüber und hinüber werfend. «Jemand unglücklich machen, daß man ihn von einer Auswanderung nach Amerika abrät, wäre gerade so, als ob ich als eines Menschen Mörder betrachtet würde, den ich abhalte, aus dem dritten Stock auf die Straße zu springen. Aber hol’ den Lump der Henker!» brach er kurz und ärgerlich ab. «Ich war so guter Laune, und jetzt hat er mir den ganzen Abend verdorben. Nach Sibirien auswandern!» brummte er dabei, während er eine neue Zigarre aus der Tasche nahm und sie an dem auf dem Tisch stehenden Licht entzündete. «Holzkopf her – nach Sibirien auswandern – ich will nur einmal in den Saal gehen und sehen, wie sie’s da treiben, daß man auf andere Gedanken kommt – ich bin bald wieder da.» Und von seinem Stuhl aufstehend, verließ er langsam und immer noch vor sich hinmurmelnd das Zimmer.

 

Der Aktuar stand ebenfalls auf und nahm seinen Hut.

«Na nu», sagte Kellmann erstaunt, «was ist das für eine Wirtschaft heut Abend? Schollfeld läuft fort, Lobsich hat sich gar nicht sehen lassen, und Sie wollen jetzt auch Fersengeld geben? Wo bleibt denn da heut Abend unser Solo? – Wir können doch nicht wie die Pferde zu Bett gehen, ohne unsere Partie gespielt zu haben ?»

«Mir ist heute nicht wie spielen», sagte der Aktuar, langsam mit dem Kopf schüttelnd, «ich habe auch Kopfschmerzen, und an der frischen Luft wird mir wohl besser werden.»

«Fort dürfen Sie aber noch nicht», sagte Kellmann, indem er sein Bier austrank und ebenfalls aufstand, «da wollen wir lieber einmal unten im Garten auf und ab gehen.»

Der Aktuar zögerte einen Augenblick, dann aber legte er schweigend seinen Arm in den Kellmanns, und beide Freunde gingen mitsammen die Treppe hinunter.

Es war indessen vollkommen dunkel geworden und die Leute hatten sich, des feuchten Abends wie des im Saal wogenden Tanzes wegen, fast alle aus dem Garten hinaus und in die mehr geschützten Räume der Gebäude gezogen. Nur hier und da saß noch irgendein kosendes Pärchen in einer Laube oder schwärmte auch wohl auf dem Vorbau des Gartens nach dem gerade über dem nebelgefüllten Tal jetzt aufsteigenden Vollmund hinüber, dessen große, rote Scheibe sich glühend an den Bergen hob und das weite, taublitzende Tal überschaute.

Kellmann ging ruhig neben dem still vor sich niederschauenden Freund her, bis sie den breiten Fußweg der schönen, ebenen Chaussee erreichten und eine kleine Strecke derselben hinaufgewandert waren, dann aber blieb er, diesen zurückhaltend, plötzlich stehen und sagte mit freundlichem, herzlichen Ton:

«Aber, lieber Ledermann, Sie dürfen sich Ihrem Schmerz um das Kind nicht so ganz und rücksichtslos hingeben, lieber Gott, ich begreife, daß es ein schwerer, recht schwerer Verlust ist, aber Gott hat’s gegeben und Gott hat’s genommen, und wer weiß, ob dem kleinen, lieben Wesen dadurch nicht vielleicht ein recht trübes und schmerzliches Dasein erspart wurde.»

«Es ist nicht das Kind, Kellmann», sagte der Aktuar, leise mit dem Kopf schüttelnd, «nicht der Tod meiner kleinen Adele nagt mir jetzt am Herzen, obgleich der da oben weiß, w i e weh er mir getan – nein, ich halte ihn sogar unter den jetzigen Verhältnissen, in denen ich lebe, für ein G l ü c k, und es ist f u r c h t b a r, daß ich gezwungen bin, so etwas von dem Tod meines eigenen, einzigen Kindes zu sagen.»

«Aber was um Gottes Willen haben Sie d e n n ?» rief Kellmann, verwundert vor ihm stehen bleibend und ihn anschauend. «Irgendetwas i s t vorgefallen, aber was? – Etwa wieder zu Hause der alte wunde Fleck?»

Ledermann nickte finster und schweigend mit dem Kopf.

«Aber was w i l l sie denn eigentlich?» rief Kellmann, finster die Brauen zusammen- und seinen Arm aus dem des Freundes ziehend, um besser gestikulieren zu können. «Wetter noch einmal, Ledermann, Sie hätten schon lange ernst und entschieden auftreten sollen. Die Sache ist jetzt schon viel zu weit eingerissen, und die Frau bringt Sie, wenn das so fort geht, wahrhaftig noch unter die Erde.»

«Ernst und entschieden auftreten? – Lieber Gott», stöhnte der Aktuar kopfschüttelnd. «Soll ich mir denn die letzte leiseste Hoffnung auf einen nur möglichen Hausfrieden selber mutwillig vernichten? – S i e haben gut reden ; I h r Geschäft ist in Ihrer eigenen Wohnung, und Ihre Erholung gestattet Ihnen, d i e außerhalb desselben zu suchen; ich aber sitze und schwitze den ganzen lieben geschlagenen Tag auf dem verwünschten Büro, und komme ich dann abends nach Hause und sehne mich nach einer halbstündigen, gemütlichen Ruhe, so beginnt die Frau, und wenn sie eine Ursache aus der Luft greifen sollte, mir das Leben zu einer Hölle zu machen. Lieber Gott, es fiele mir ja gar nicht ein, abends in ein Wirtshaus zu gehen, wenn ich Frieden daheim hätte. Es gibt vielleicht wenig Menschen in der Welt, die sich so nach einem stillen, häuslichen Leben sehnen, wie gerade ich, und keinen, Kellmann, keinen weiter, dem es s o verbittert, so gänzlich aus dem Fenster geworfen wird, jeden Abend wieder von Frischem, wie gerade mir.»

«Aber was ist denn nur vorgefallen?»

«Das Ganze ist mit wenig Worten erzählt», sagte der Aktuar nach kurzer Überlegung entschlossen, «und Sie sollen mir raten, wie ich imstande bin, mich einem Zustand zu entziehen, der mir unerträglich wird. Sie haben gehört, daß ich von einem entfernten Verwandten sechshundert Taler geerbt, die ich in den nächsten Wochen ausgezahlt bekomme. Das Vernünftigste nun wäre, das Geld in irgendeinem s i c h e r e n Staatspapier oder in guten Aktien anzulegen und mit den wenigen, aber gewissen Zinsen meinen überdies ärmlichen Gehalt zu erhöhen – ich habe fünfhundert Taler jährlich, und weiß bei Gott oft nicht wie ich auskommen soll.»

«Nun gut, das ist ja alles so schön und glatt, wie es nur sein kann.»

«Jawohl, aber meine Frau besteht darauf, das Kapital ihrem Bruder geben zu wollen, der ein Geschäft hat und mir f ü n f Prozent verspricht.»

«Ih nun, wenn es da sicher angelegt ist, fünf Prozent wäre aller Ehren wert.»

«Aber es ist nicht sicher angelegt; der Bursche ist ein liederlicher, leichtsinniger Mensch, der schon einmal Bankrott gemacht hat und – wie ich ziemlich guten Grund habe zu vermuten – an der Grenze eines zweiten steht.»

«Ahem», sagte Kellmann nachdenkend.

« G e b’ ich ihm das Geld», fuhr der Aktuar fort, «so ist es über Jahr und Tag, so sicher wie dort drüben der Mond aufgeht, verloren, und geb’ ich es ihm nicht, so weiß ich, daß mir die Frau zu Hause den eigenen Herd zur Hölle macht.»

Aber, Donnerwetter, Ledermann, nehmen Sie mir das nicht übel», sagte Kellmann, stehen bleibend, «da würde ich denn doch einmal einen Trumpf darauf setzen und mein Recht als Mann und Herr im Hause wahren. Nur durch Ihr ewiges Nachgeben haben Sie die Geschichte schon so in Grund hinein verdorben.»

Aber was s o l l ich tun?» rief der Aktuar verzweifelnd. «Mit Worten k a n n ich nicht gegen sie anstreiten, nicht sechs Männer können das; in Ruhe und Güte ist nichts anzufangen mit ihr, und schlagen darf und will ich sie ebenfalls nicht.»

«So lassen Sie sich scheiden, zum Wetter noch einmal!» rief Kellmann. «Lieber doch eine trockene Brotrinde kauen, als mit solchem Drachen das ganze Leben mühselig und qualvoll hinzuschleppen.»

«Heut Abend zum erstenmal», sagte der Aktuar seufzend, «habe ich ihr selber damit gedroht. Ich habe ihr vorgehalten, daß sie sich mit mir nicht glücklich fühlen k ö n n e, weil sie fortwährend, und ohne auch nur einen einzigen Tag Frieden zu gestatten, zanke. Das Beste würde deshalb sein, wir ließen uns gerichtlich scheiden, um einem Leben zu entgehen, das auf die Länge der Zeit doch nicht durchgeführt werden könne.»

«Nun? – Und was hat sie darauf erwidert?»

«Ich bin fortgelaufen», sagte der Aktuar, seufzend den Kopf von dem Freund abwendend, «denn sie wurde – sie wurde so heftig und betrug sich – betrug sich so unvernünftig, daß ich mich vor den Nachbarn schämte, und lieber Hut und Stock nahm, um den Frieden wieder, wie schon so oft, auswärts zu suchen.»

«Also sie verweigert eine Scheidung?»

«Sie schwur, sie wolle mir die Augen auskratzen, wenn ich noch einmal ein derartiges Wort erwähne, zerbrach dann in ihrer Wut Gott weiß was alles und – ich glaube, sie bekam nachher Krämpfe – ihr altes Leiden. Erst hatte ich gehofft, der Tod unseres Kindes würde sie milder stimmen, aber nein, und wenn mich etwas über den Verlust des kleinen lieben Wesens trösten könnte, so ist es gerade der Gedanke, es dem bösen Beispiel, das ihm die eigene Mutter täglich gab, entrissen zu sehen – was hätte zuletzt aus ihr werden sollen, als eben eine solche Frau!»

«Und so ist gar keine Hoffnung, mit Güte durchzukommen?»

Der Aktuar schüttelte schweigend mit dem Kopf.

«Hm, das ist eine verfluchte Geschichte», sagte Kellmann, «da – da weiß ich wahrhaftig auch nicht, was ich raten soll. Das Geld vertraute ich aber – wenn die Sache so steht – meinem Schwager auch nicht an, so viel ist sicher. – Sie sind das sich selber und Ihrer eigenen Existenz schuldig.»

Der Aktuar seufzte tief auf, und die beiden Männer gingen wieder eine zeitlang, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nebeneinander hin. Sie waren indes die Straße ein Stück hinauf- und wieder zurückgegangen, und blieben jetzt mehrere Minuten nicht weit von dem Eingang des Gartens stehen, den Rücken diesem und ihr Gesicht dem sich gerade über die Berge hebenden Mond zugewandt, als ein junges Mädchen, noch ein Kind fast und augenscheinlich auf der Wanderung, ganz allein, mit einem kleinen Bündel in der linken Hand und einem großen dunklen Tuch über dem rechten Arm, die Straße herunterkam und ziemlich dicht an ihnen vorüberging. So viel sie im Mondlicht erkennen konnten, war sie nur ärmlich gekleidet und auch wohl ermüdet von einem vielleicht langen Marsch, denn sie blieb zweimal stehen und trocknete sich dabei den Schweiß von der Stirn.

Das zweite Mal, als sie Halt machte, geschah das fast dicht vor den beiden hier im Schatten eines Holunderbusches stehenden Männern, die sie im Anfang gar nicht bemerkte, und sie schien den Tönen zu lauschen, die aus dem etwa zweihundert Schritt davon gelegenen hell erleuchteten Gartenhaus wild und lustig heraustönten.

«Fröhliche Menschen», flüsterte sie dabei – « g l ü c k l i c h e… » Wie sie aber den Kopf dem Licht zuwandte, fiel ihr Blick auch auf die beiden dunklen Schatten unter der Mauer, und unwillkürlich fuhr sie zurück; dabei glitt ihr das Bündel aus der Hand und fiel zu Boden.

«Wir tun Dir nichts, Kind», sagte Kellmann, der die Bewegung gesehen hatte, gutmütig, «wo willst Du denn noch so spät hin?»

«Nach Heilingen», antwortete das fremde Mädchen, ihr Bündel wieder aufnehmend, «ist es noch weit bis dorthin?»

«Eine halbe Stunde etwa, wenn Du rüstig zugingst; aber Du scheinst müde zu sein, und wirst wohl länger brauchen.»

«Ich komme weit her», sagte die Fremde, aber sie zögerte dabei und es war, als ob sie noch nach irgendetwas fragen oder um etwas bitten wolle, und sich auch wieder scheue, es zu tun.

«Du bist wohl hungrig, Kind?» frug sie da Kellmann, dessen gutes Herz ihn drängte, zu helfen, wo das in seinen Kräften stand. «Sag’s gerad’ heraus, und wenn Du kein Geld hast, macht das nichts, ich schaffe Dir ‘was.»

Das Mädchen schwieg und drehte seufzend den Kopf ab, und Kellmann, dem richtigen Prinzip der Gastlichkeit und Menschenliebe treu, nicht viel zu fragen erst, wo man gern gibt, sagte ihr, sich einen Augenblick auf die kleine Bank am Tor zu setzen und er werde ihr einen Imbiß holen – sie könne dann Heilingen bald erreichen. Ohne erst eine Antwort abzuwarten, ging er darauf rasch in’s Haus, und das Mädchen zögerte noch einen Augenblick und folgte dann, augenscheinlich zum Tod ermüdet, der freundlichen Einladung.

«Du kommst weit her?» sagte der Aktuar endlich, der neben ihr stehen geblieben, im Anfang aber noch zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, um viel auf die Fremde zu achten.

«Von Erfurt.»

«Von Erfurt? Hm – das ist eine lange Strecke; zu Fuß den ganzen Weg?»

«Ja.»

«Und willst in Heilingen bleiben?»

«Ich weiß es noch nicht.»

«Hast Du Verwandte dort?»

«Einen Bruder.»

«Hast Du denn einen Paß bei Dir?»

«Ja», sagte das Mädchen und holte, mit einem scheuen Blick auf den Aktuar, ihr kleines Bündel vor, das sie Miene machte, aufzuknüpfen; der Aktuar aber, der die Bewegung verstehen mochte, sagte rasch:

«Nein, nein – laß nur sein – ich will ihn nicht sehen – ich frug nur Deinethalben, damit Du hier in der Stadt in keine Verlegenheit kämest. Da ist auch Freund Kellmann schon mit dem Essen – nun laß Dir’s schmecken.»

«Da», sagte der kleine Kürschner, der schnellen Schrittes mit einem großen, gestrichenen Weißbrot und einem hohen Glas Milch herankam und es der Fremden reichte, «das wird Dir gut tun.»

Das junge Mädchen nahm das Glas mit schüchternem Dank an und trank – erst ein wenig, dann aber herzhafter – sie mochte wohl recht durstig gewesen sein. Wie sie fertig war, setzte sie das Glas auf die Bank zurück und nahm ihr Bündel wieder auf.

«Ich danke Ihnen auch noch viel tausendmal», sagte sie dabei mit weicher, ergriffener Stimme, «ich hatte seit heute Morgen nichts gegessen und war recht matt geworden.»

 

«Armes Kind», sagte Kellmann mitleidig. «Aber hast Du denn schon einen Platz in der Stadt, wo Du übernachtest?»

«Ja », sagte die Kleine. «Ich denke so, können Sie mir aber wohl noch sagen, ob das Haus des reichen Herr Dollinger nahe am Tor ist, oder weit in der Stadt drin?»

«Dollingers Haus ? Oh, nicht so weit in der Stadt drin; aber was willst Du dort?»

«Mein Bruder ist in Herr Dollingers Geschäft – wohnen auch die Leute bei ihm im Hause?»

«Nicht daß ich wüßte», sagte Kellmann.

«Aber man kann es doch dort erfahren, wo sie wohnen?»

«Gewiß – gleich unten im Haus bei dem Hausmann; frage nur nach der Poststraße, wenn Du ins Tor kommst.»

«Gute Nacht, Ihr Herren, und nochmals schönsten Dank – Gott mag es Ihnen vergelten.»

«Gute Nacht, Kind, guten Weg», sagte Kellmann, «aber – wie heißt denn Dein Bruder?»

«Franz Loßenwerder», sagte das Mädchen und ging langsam die Straße hinab.

«Oh Du mein Gott», rief der Aktuar leise und erschreckt vor sich hin, wie er den Namen hörte, «das ist ja schrecklich!»

«Du lieber Gott, das arme Ding muß von dem Schicksal des Bruders gar nichts wissen», seufzte auch Kellmann, «und wenn sie das heut Abend erfährt! – Oh, wo wird sie nun die Nacht bleiben?»

«Armes, armes Kind», sagte der Aktuar, «und selbst ohne Geld in der fremden Stadt!»

«Ich geb’ ihr etwas», rief Kellmann rasch entschlossen und eilte. «Heh! – Bst!» rufend, die Straße hinab dem Mädchen nach, das stehen blieb und nach Bündel und Tuch fühlte, als die den Ruf hörte, weil sie glaubte, daß sie vielleicht etwas vergessen hätte.

«Liebes Kind», stotterte Kellmann verlegen, als er sie eingeholt, denn er konnte es nicht über’s Herz bringen, ihr die Wahrheit zu sagen. «Ich – ich kenne Deinen Bruder, aber – er ist jetzt nicht in Heilingen – Du – Du wirst es morgen schon hören, und im Dollinger’schen hause können sie Dir auch heute nichts weiter sagen; es ist sogar sehr die Frage, ob der Mann unten im Haus noch auf ist. Gleich wenn Du ins Tor hineinkommst, das dritte Haus an der rechten Seite, vor dem die beiden Laternen stecken, ist ein Gasthaus – ein gutes, anständiges Haus, wo sie Dir Quartier geben werden – da gib ihnen diese Karte, der Wirt kennt mich, und sage ihm nur, i c h hätte Dich hingeschickt.»

«Aber, bester Herr», sagte das Mädchen bestürzt, als ihr der gutmütige Kürschnermeister mit der Karte zwei große Stücken Geld – es waren zwei Taler – in die Hand drückte, «ich weiß gar nicht…. »

Kellmann ließ sie aber gar nicht zu Worte kommen.

«Schon gut – schon gut», rief er, drehte sich um und kehrte, das Mädchen allein auf der Straße zurücklassend, ebenso rasch nach dem Platz zurück, wo der Aktuar noch seiner harrend stand.

«Haben Sie es ihr gesagt?» frug dieser ihn.

«Nein – um Gottes Willen, nein; das mögen andere tun, i c h könnte es nicht.»

«Aber was soll jetzt aus ihr werden?»

«Ich werde mich im Löwen schon nach ihr erkundigen», sagte Kellmann nach kurzer Überlegung, «und wenn es ein ordentliches Mädchen ist, hab’ ich Bekannte genug hier in der Stadt, um ihr einen Dienst zu verschaffen. Aber wie ist es denn mit der Loßenwerder’schen oder Dollinger’schen Geschichte geworden? Ist denn noch etwas von dem gestohlenen Gut zutage gekommen? Man hört ja keine Sterbenssilbe mehr darüber.»

«Nichts – gar nichts weiter», sagte der Aktuar, «im Gegenteil hat der arme Teufel von Loßenwerder ein kleines Tagebuch geführt gehabt, was sich unter den konfiszierten oder mit Beschlag belegten Sachen fand, und worin er jeden bis dahin eingenommenen Groschen sorgfältig und ordentlich, mit seinen höchst bescheidenen Ausgaben, aufnotiert. Das aber als gültig angenommen – und wir haben nicht die mindeste Ursache, es zu bezweifeln, da es fast zwölf Jahre zurückführt – wäre im Gegenteil der Beweis geliefert, daß die aufgefundenen zweihundert Taler mühsam und redlich gespartes Geld gewesen wären.»

«Und k e i n anderer Beweis hat sich gegen ihn herausgestellt?»

«Keiner, als daß er ihm Hause war und sich auffällig heimlich daraus entfernt hat; aber auch selbst das findet nach den Akten eine wahrscheinliche, wenn auch etwas wunderliche Erklärung. Nach einer Zahl vieler höchst mittelmäßiger, oft aber auch ziemlich guter Gedichte, in denen sich besonders viel Gemüt ausspricht, scheint der arme verwachsene und hilflose Mensch eine Art von – Liebe – ich kann es nicht anders nennen, gegen Dollingers jüngste Tochter und Henkels Braut in seinem unschönen Körper mit herumgetragen, und nur, seinen Standpunkt gar wohl erkennend, den einzelnen in seinem Pult verschlossenen Blättern anvertraut zu haben – doch das unter uns. Diese unglückselige und hoffnungslose Neigung k a n n ihn möglicherweise dazu getrieben haben, dem jungen Mädchen zu ihrem Geburtstag einen Blumenstock zu schenken – er hat sogar ein Gedicht geschrieben, was den Punkt berührt und worin er sich glücklich fühlt, daß sie eine Blume pflegen könnte, die e r gezogen, wenn sie auch nicht wüßte, vom wem sie käme. Daß er unter solchen Umständen nicht wollte im Haus gesehen sein, läßt sich denken, und ein Diebstahl in ihrem eigenen Zimmer verliert, diesen Tatsachen gegenüber, an Wahrscheinlichkeit, wenn er auch nicht eben zu einer Unmöglichkeit gehörte. Das Menschenherz ist schwach, und mancher schon ist geringerer Verführung erlegen.»

«Hm, hm, hm», sagte Kellmann vor sich hin, «das ist ja eine recht, recht böse Geschichte, und der arme Teufel da am Ende ganz und gar unschuldig in sein Verderben gesprungen.»

«Ja, und eine Sache, die mir selber schon manche schlaflose Nacht gemacht hat», sagte der Aktuar, «denn ich k a n n den Gedanken nicht los werden, welchen Anteil ich selber daran gehabt, den Unglücklichen dahin zu treiben – obgleich ich eben nicht mehr als meine Pflicht getan und an einen solchen verzweifelten Schritt nicht denken konnte. War er unschuldig, hätte sich das ja bald in der Untersuchung herausgestellt.»

«Ja, und die Untersuchung rechnet Ihr Herren vom Gericht eben für nichts», sagte Kellmann finster, «aber wenn das sein erspartes, und Gott weiß dann w i e mühsam erspartes Geld war, wird es doch auch seinen Erben nicht vorenthalten werden können.»

«Die Untersuchung ist noch nicht ganz abgeschlossen», sagte der Aktuar, «aber ich glaube auch nicht, daß irgend jemand anderes einen Anspruch darauf wird geltend machen können. Diese Schwester erwähnte er überhaupt mehrmals in seinen Notizen, und hat sie auch dann und wann unterstützt. Das Geld wir ihr später allerdings zugesprochen werden.»

«Und keine Spur ist sonst von dem möglichen, von dem w i r k l i c h e n Dieb aufgefunden?»

«Keine – die Dienstboten sind alle mehrmals scharf inquiriert und auf das Genaueste die ganze Zeit beobachtet, zu sehen, ob eins von ihnen vielleicht größere Ausgaben als gewöhnlich mache, oder sich durch irgendetwas anderes verraten würde; ja, die Leute haben untereinander fast ebenso scharfe Wacht gehalten, den Verdacht von sich abzuwälzen und den Schuldigen aufzufinden, aber es hat sich bis jetzt nicht das Mindeste herausstellen wollen. Mit Geld ist das eine böse Sache, und wenn der Dieb die Juwelen nur vorsichtig ein paar Jahre an sich hält, und dann vielleicht noch gar außer Landes schafft, wer soll ihn da aufspüren, allwissend sind wir auch nicht.»

«Das weiß Gott», sagte Kellmann, «wie damals mit der Pelzdecke, die mir jemand von der Ladentür weggestohlen, und die ich zwei Jahre später ganz gemütlich im Polizeibüro beim Polizeidirektor selber in der Stube wiederfand, da hört denn doch alles auf! Aber mir ist wahrhaftig jetzt nicht wie spaßen zumute, der Anblick des armen Mädchens hat einen wehmütigen Eindruck auf mich gemacht. Lieber Himmel, was es doch für Elend auf der Welt gibt, und still und bewußtlos gehen wir meist daran vorüber.»

«Und die Musik da drinnen, während das arme Kind dort allein und freudlos seine Straße geht und trotzdem jetzt noch glücklich ist gegen den Augenblick, wo es das Furchtbare doch erfahren m u ß. Mich leidet’s heute nicht länger hier draußen, Kellmann», brach er kurz ab. «Ich mag die Tanzmusik nicht hören – wollen wir zurück in die Stadt gehen? Es ist überdies schon spät.»

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