Nach Amerika! Bd. 1

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Viertes Kapitel
Franz Loßenwerder.

In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches Weinhaus, in dem die wohlhabenderen Bürger abends gewöhnlich zusammenkamen und ihr Fläschchen, aus denen auch oft zwei oder drei wurden, tranken. Das Lokal war ziemlich gemütlich und, dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner Zimmerchen abgeteilt, die teils durch wirkliche Türen und Verschläge, teils durch Vorhände voneinander getrennt lagen, einzelnen Gesellschaften zu gestatten, eben einzeln zu bleiben und ihr Glas, ungestört von dem Nachbar, zu trinken.

Das Haus hieß ‚Der Pechkranz’ nach einer alten Sage, die der Wirt sehr gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem dreißigjährigen Kriege spielte. Ein über der Eingangstür in neuerer Zeit erst aus Stein gehauener Bacchus hielt auch in der einen Hand einen Thyrsusstab19 und in der anderen einen Pechkranz, in höchst wunderlicher Weise Sage und Geschäft miteinander vereinigend. Die Allegorie war aber gar nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly recht leidlich und genügend erklären lassen, denn Bacchus hatte hier schon in der Tat in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, daß es lichterloh zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte.

Der Wirt war übrigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein Rheinländer, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen und durch gute Getränke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig teuer, «aber», sagten die Heilinger, «wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen Groschen dabei ankommen, wenn er nur echt und rein ist», und Wirt und Gäste befanden sich wohl dabei.

Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem meine Erzählung beginnt, als die Gäste, die den Tag über meist auf Spaziergängen im Freien gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber und hinüber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und nach und selbst in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das Zentrum des Ganzen bildete, hatten sich schon hier und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne Gäste saßen in irgendeiner Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, um auf eigene Hand, in ungeselliger Gemütlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art, zu einer schönen Landschaft und einer guten Flasche Wein gehören mindestens zwei Personen, um beides recht und ordentlich zu genießen, die eine sich d a r ü b e r, die andere d a b e i auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß von beiden verloren. Es gibt allerdings Menschen, die sich zufriedener fühlen, wenn sie alles allein genießen können, aber denen geh aus dem Weg; es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen schuldig bist, ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehen. Nur wer niemand hat, an den er sich anschließen d a r f, wer allein und freundlos in der Welt dasteht und das Leid, das ihn drückt, allein tragen, die wenigen frohen Momente seines Lebens allein genießen m u ß, den bedaure und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von allen.

Es mochte neun Uhr abends sein, als ein Bekannter von uns, der Kürschner-meister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich überall umschauend, ob er nicht irgendeinen Freund träfe, zu dem er sich setzen könnte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah erst ein paar Sekunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen traute, und sagte dann, auf jenen losgehend und neben dem Tisch stehen bleibend:

«Hallo, L o ß e n w e r d e r , Ihr hier im Pechkranz? Na, da möchte man doch, wie die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter, Mann, und vor einer Flasche Rüdesheimer, nun, das laß ich gelten, und es freut mich wahrhaftig, daß Ihr endlich einmal auftaut und unter Menschen kommt. Aber was ist denn heute los bei Euch? – Denn einen ganz besonderen Grund muß doch d i e Festlichkeit haben!»

«Ha – ha – ha – hat sie auch, He – He – He – Herr Ke – Ke – Ke – Kellmann», sagte der kleine Mann, verlegen lächelnd und sich etwas schüchtern dabei umschauend; denn es schien ihm nicht angenehm, die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehen.

«Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen», sagte Kellmann, seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken hängend und sich neben ihn setzend, «wenn sie behaupten, Ihr tränkt nur Wasser und Sonntags höchstens einmal ein Glas Dünnbier20 – ich kriege Leibschneiden, wenn ich nur an das Zeug denke – und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem halben Taler auskommen mußtet. Alle Wetter, Mann, das ist recht, daß Ihr Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein gönnt; das hält Leib und Seele zusammen, und stärkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren müßte!» setzte er mit einem halb unterdrückten Seufzer hinzu.

«Ha – ha – ha – haben Sie a – a – a – auch wohl ni – ni – nicht nö – nö – nö –nö – nötig, be – be – be – bester He – he – he – he - he... »

«Ih nun, wer weiß, was einem noch alles bevorsteht», unterbrach ihn Kellmann, «hier, Kellner – mir auch eine Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat mir Appetit gemacht.»

«Hallo, Loßenwerder, bei einer Flasche Rüdesheimer!» rief aber jetzt noch eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, wo ein paar junge Kaufleute bei ihrem Glase zusammensaßen. «Da müssen wir auch dabei sein, Loßenwerder hat vielleicht heute seinen splendigen Tag und traktiert21 – haben Sie ‘was in der Lotterie gewonnen?»

Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, kamen mit ihrer Flasche heraus und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer verlegener werdenden kleinen Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten sich aber noch bald darauf andere zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum Besten gehalten. Verteidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; so wurde denn diese freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für Gutmütigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig gefallen ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte er unfreiwillig dadurch: daß man es endlich müde wurde, den sich nicht Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden ließ. Aber in des Verwachsenen Betragen änderte das nichts. In nur sehr wenigen Ausnahmen von allen, mit denen er in Berührung kam, abgestoßen und verhöhnt, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ging, außer den nötigen Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, fast nirgends hin und lebte so einfach, ja fast dürftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben n u r Geld ausgibt um zu existieren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch niemand gesehen, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren Zweck hatten als sich zu amüsieren, glaubten das einmal einen Abend mit dem kleinen ,Stotterberg’, wie er spottweis, seines Stotterns und Höckers wegen, genannt wurde, am besten tun zu können.

Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf nichts einlassen, ja machte sogar zwei oder drei, wenngleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, denn von allen Seiten wurde er gehalten und jeder wollte und mußte mit ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzutauen, der ungewohnte kräftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht; sein Stottern wurde mit der schwereren Zunge kaum verständlich, bis einer, im Spott eben, auf den Gedanken kam, ihm zum S i n g e n aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich erst ganz verschämt; das aber kam den anderen zu komisch vor, und mit Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner bestellten, um den Genuß würdig zu feiern, räusperte sich Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem Wein erregt und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, auf einen Stuhl.


Was aber, wie sich die Übrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden sollen, das erstarb in atemlosen Schweigen, nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch mit einer hellen, glockenreinen Stimme und Tönen, die zum innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer zuversichtlicher werdend und wie von dem Inhalt des Liedes mit fortgerissen, dieses also begann :

«Ich habe schon zu oft geschaut

In Deiner Augen Glanz, Du Holde,

Auf meine Kraft zu fest vertraut,

Viel mehr, als ich vertrauen sollte.

Doch nein, für Dich, Geliebte sind

Des Lebens schönste, reinste Blüten,

Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt,

Und was könnt’ ich dafür Dir bieten?

Nichts – gar nichts, als ein treues Herz;

Doch nimmer sollst Du es erfahren –

Ich kann, wie früher, meinen Schmerz

In tiefer, innerer Brust bewahren.

Sei glücklich! – Wenn auch ohne mich,

Ich will Dich lieben, aber schweigen,

Und mein Gebet nur soll für Dich

Empor zum Thron des Höchsten steigen.

Wenn dann mein Herz im Grabe liegt

Und ausgeträumt seine stillen Leiden,

Dann soll der Geist zum Himmel nicht

 

Entflieh’n und zu der Sel’gen Freuden. –

Ein schön’res Los werd’ ihm zu Teil :

Umschwebend Dich in trüben Tagen

Soll er, zu Deinem Schutz und Heil,

Selbst seiner Seligkeit entsagen.»

Loßenwerder war beim Schluß des Liedes ganz gerührt geworden und die Tränen standen ihm in den Augen. Während sein wirklich häßliches Gesicht durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die Schar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Atem und Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen war.

«Bravo – bravo, Loßenwerder – bravo, dacapo ! Donnerwetter, Mann, Ihr habt je eine Stimme wie eine Nachtigall und stottert nicht die Probe dabei. Wie am Schnürchen geht das!»

«Es ist erstaunlich!» rief Kellmann, vor lauter Verwunderung über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.

«Nun aber auch trinken – hier, Loßenwerder – hier», riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden Trank füllend, «und dann noch ein Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt einem ordentlich durch die Adern, und klingt wie Glockenton so rein und voll! Loßenwerder, wo habt Ihr das Singen gelernt?»

«Vo – vo – vo – vo – von mi – mi – mir se – se – se – selb – bber», stotterte der kleine Mann, kaum imstande, jetzt mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied aus der Kehle wirbelten.

«Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren!» rief Kellmann wieder. «Behält die liebe Gottesgabe ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht mit niemand, trinkt und singt mit niemand, und hat eine Stimme in der Luftröhre sitzen, die einer, wer es darauf anzulegen verstände, in reines Gold verwandeln könnte.»

Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu und überschütteten ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden. – Niemand hatte sich bis jetzt um ihn bekümmert, jeder in verspottet und verhöhnt, und zum ersten Mal vielleicht seit langen, langen Jahren fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wußte sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihresgleichen anschauten.

Dem löste such auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille zu reden, so weit, daß er beginnen wollte, Geschichten zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr über die Lippen, und selbst das Singen versagte ihm zuletzt den Dienst. Die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme gesunken, als die Tür aufging und zwei Gerichtsdiener ins Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen Tisches, hatten das Haus schon verlassen.

«Hallo, was ist das?» sagte Kellmann, der die beiden Leute zuerst bemerkte. «Das ist wunderlicher Besuch – es wird doch nicht etwa in Heilingen eine Polizeistunde eingeführt?»

Aber auch der Wirt war die ,Diener der Gerechtigkeit’, wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, um sich zu erkundigen, was sie hierher geführt.

«Ein kleiner, buckliger Mann soll hier heut Abend bei Ihnen sein», sagte der Erste, «er ist aus dem Dollinger’schen Geschäft.»

«Dort sitzt er in der Ecke», sagte der Wirt vom Pechkranz, nach Loßenwerder hinüberzeigend, «hat er etwas verbrochen?»

«Ich weiß nicht», erwiderte der Zweite ziemlich kurz, «wir sollen ihn abholen.»

«Wird schwer sein», meinte der Wirt. «Sie haben ihm heut Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Übergewicht – wenn er aufsteht, kippt er wieder um.»

«Hm – da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit?»

«Ich denke, das Beste wird sein, wir führen ihn nach Haus und einer bleibt bei ihm, bis er morgen früh wieder zu Verstand kommt. Jetzt ist doch nichts mit ihm anzufangen.»

«Aber, um Gottes Willen, was ist denn vorgefallen?» frug Kellmann bestürzt. «Der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend ‘was verbrochen?»

«Noch ist nichts Gewisses bekannt», erwiderte der erste Polizeidiener. «Nur bei Dollingers ist heute Nachmittag eingebrochen, und die Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer schuldig sei.»

«Bei Dollingers eingebrochen?» riefen mehrere. «Heute Abend?»

«Nein, heut am hellen Tag», sagte der Mann.

«Alle Wetter, das muß dann gewesen sein, während sie nach dem Roten Drachen gefahren waren», sagte Kellmann rasch. «Sie kamen mit dem jungen Henkel an uns vorbei.»

«In der Zeit war’s», bestätigte der Polizeidiener. «denn wie sie nach Hause kamen, wurde es entdeckt. Hier da, Loßenwerder – Sie da – wachen Sie auf!»

«Ja, wenn Sie den stoßen wollen, bis er munter wird», lachte einer der jungen Leute, «da haben Sie Arbeit.»

«Sie – Loßenwerder – hören Sie?»

«Ja – ja», stammelte der von dem ungewohnten Wein, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken, Betäubte, «me – me – me – mehr We – we – wein; ich za – zah – zahle A – a – a – a- alles !»

«So?» sagte der Polizeidiener ruhig. «Nun für heute möcht’ es doch wohl genug sein; komm, faß ihn drüben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier. Wo ist sein Hut?»

«Hier – armer Teufel, das wir ein böses Erwachen werden.»

«Wie man sich bettet, so schläft man», sagte der zweite Polizeidiener, und den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total mißglückten Versuch machte, wieder zu singen, führten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indes die Gäste noch das ,Für und Wider’ der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Übles gehört, bei einer anderen Flasche besprachen.

Und es w a r ein böses Erwachen für den Mann. Von dem Weindunst betäubt, schlief er wie ein Toter bis zum lichten Tag, und als er die Augen aufschlug und ihn der Kopf zum Zerspringen schmerzte, fiel sein erster Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, den er einen Moment bestürzt anstarrte und dann die Augen, wie vor einem unangenehmen Traumbild, wieder schloß.

«Nun, Loßenwerder, ausgeschlafen?» sagte der Mann aber, froh, endlich einmal zu einem Resultat zu kommen. «Das hat lange gedauert. Kommen Sie, stehen Sie auf und ziehen Sie sich an.»

Die Stimme war k e i n Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? – Wie war er hierher gekommen? Er drückte sich mit beiden Händen die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm über den ganzen Körper aus. Er w u ß t e nicht mehr, was gestern alles geschehen, und die unheimliche, finstere Gestalt vor ihm füllte sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jähem Strom zurücktrieb.

Wie ein schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdeckten Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm laste. Die nächste Stunde lag dazu wie ein Alp auf seiner Seele. Ein anderer Polizeibeamter visierte bei ihm und fand nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches unter dreifachem Schloß ein Päckchen mit zweihundert Talern in Fünfundzwanzig-Taler-Kassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke. Dann kam seine Abführung nach dem Dollinger’schen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte, den Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen, und so betäubt war er von dem allen, daß er kein Wort zu seiner Verteidigung sagen, ja nicht einmal eine an ihn gerichtete Frage beantworten konnte.

In dem Dollinger’schen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn Dollingers Zimmer hinaufgeführt, und der alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sofas, das rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, über das hin er den Gefangenen aufmerksam betrachtete.

Loßenwerder war bleich wie ein Toter – jeder Blutstropfen hatte sein Antlitz verlassen, und bei dem Versuch, den er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.

«Loßenwerder», sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend, «ein böser Mensch ist gestern während unserer Abwesenheit in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Sekretär schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?»

«He – he – he – he – he – he – rr Do – Do – Do …. »

«Schon gut, Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir schwer; beschränke Dich auf ein einfaches Ja und Nein.»

«Ja – a !»

«In dem Z i m m e r meiner Töchter?»

«J – a – a, aber i – i – i – ich wo – wo – wollte…. »

«Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?» sagte Herr Henkel jetzt ruhig.

Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so weiß als vorher; er nickte nur, zur Bestätigung des eben Gesagten mit dem Kopfe.

«Loßenwerder», sagte Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und dicht zu dem kleinen Mann herantretend, wobei er die Hand auf dessen Schulter legte. «Loßenwerder, noch gestern würde ich ebenso leicht geglaubt haben, daß eins von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher sprechenden Tatsachen in meinem Glauben an Dich w a n k e n d gemacht haben.»

«He – he – he – he – herr Do – Do – Do – Dollinger…. »

«Ich will Dir klar und einfach unsern ganzen Verdacht vorlegen», sagte der alte Herr, um dem Angeklagten jedes unnütze Wort zu ersparen. «Gestern, während unserer Abwesenheit, ist der Sekretär meiner Töchter erbrochen und das Dir bekannte Geld entwendet worden – drüben über der Straße hat Dich ein Mädchen gesehen, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehen zu haben, wie Du hättest das Haus durch die nach dem Hofe zu führende Tür verlassen wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, zurückgefahren und dann auch nicht über den Hof gekommen wärst. Das Stubenmädchen, das keine Ahnung davon haben konnte, daß Geld in dem Sekretär lag, ist bereit, den schwersten Eid abzulegen, daß sie wenige Minuten später, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die Vorsaaltür nicht mehr aus den Augen gelassen und gewiß wäre, daß niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe lassen allerdings das Schlimmste fürchten. Loßenwerder – ich brauche Dir nicht zu sagen, wie weh – wie weh mir das gerade von D i r tut, und ich wollte die doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es n i c h t geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das noch in Deinen Kräften steht, wieder gut; gestehe, was Du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch alles tun, was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein anderer Erdteil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit geben, Deinen Fehltritt zu bereuen und das wieder zu werden, für was ich Dich, selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe.»

Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipal gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verriet, daß er lebe, jetzt aber brach er in die Knie, und zum erstenmal vielleicht mit dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage, oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt – denn wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und in den totenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen das Richtige lesen ? – Umfaßte er die Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte, ihn nicht unglücklich zu machen, nicht so Schreckliches von ihm zu denken.

 

«Ein aufrichtiges Geständnis, Loßenwerder», entgegnete darauf Herr Dollinger, «ist das einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Übeltäter.»

«A – a – a – a – aber ich bi – bi – bin ni – ni – ni – nicht schu – schu – schuldig », stotterte der Unglückliche. «Ich we – we – we – weiß vo – vo – von ni – ni – nichts!»

«Du weißt von n i c h t s, Loßenwerder?» sagte Herr Dollinger leise mit dem Kopf schüttelnd. «Und woher ist das Geld, das man bei Dir gefunden, woher die Fünfundzwanzig-Taler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?»

«Ge – spa – pa – pa – partes Geld, e – e – e – e – ehrlich ge – ge – gespartes G – g – g – Geld!» stammelte der arme Teufel.

Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herrn Dollinger zu, dem er ein paar Worte ins Ohr flüsterte und dann, während dieser leise und traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung fühlte, daß man ihn fortführen, in ein Gefängnis bringen werde, ergriff wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand und bat ihn um Gottes, um seiner Seligkeit willen – so weit es ihm die jetzt in der Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete – daß er ihm nur das nicht antun, daß er ihn in kein Gefängnis möge führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich, darin nichts tun zu können, denn wenn er nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.

«Hab’ ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen», stotterte der Unglückliche, «so bin ich gebrandmarkt mein Leben lang.»

Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Tür öffnete sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte:

«Wenn’s gefällig wäre.»

Loßenwerder zuckte zusammen, als ob er einen Schlag bekommen, und wandte sich noch einmal, wie Hilfesuchend, an Herrn Dollinger; aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus.

Gerade als er durch die Tür schritt, begegnete ihm, noch auf der Schwelle, Frau Dollinger, und rasch beiseite tretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen Blick zu und ging an ihm vorüber.

Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf hob, sah er am anderen Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch dort mußte er vorbei. Das war zu viel, und wie unschlüssig blieb er stehen und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht suche.

«Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten», sagte aber, ihm ermunternd die Schulter klopfend, der Polizeidiener. «Es ist alles ein Übergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.»

Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig betrachtete.

«Etwas über zweihundert Taler hat man schon bei ihm gefunden», flüsterte der junge Henkel ihr leise zu. «Ich hoffe, daß Vater Dollinger das andere auch noch wiederbekommen soll.»

«Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das getan?» sagte Clara leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorüberging.

«U – u –u – und Si – si – si – sie g – g – g – glauben d – d – das a – a – a – auch?» rief Loßenwerder, und die großen, hellen Tränen standen ihm dabei in den Augen. Aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn leise an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder folgte ihm wie in einem Traum.

Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt von dort entfernt, und stand an der anderen Seite einer kleinen steinernen Brücke, die über den mitten durch die Stadt und häufig überbrückten kleinen Fluß führte. Als sie hinunter auf die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen los, um kein Aufsehen zu erregen, und flüsterte ihm zu, nur ruhig neben ihm herzugehen. Loßenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn er sah verstört zu ihm auf und dann um sich her, und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf sich geheftet. Sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges bewußt, der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab und ging mit krampfhaft zusammengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, die neugierig die Ankommenden betrachteten. Loßenwerders Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben spottend rief :

«Hoho, hoho – Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!»

Die anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die scheu auseinander stiebenden Buben um; Loßenwerder aber fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen Stirn – «hat gestohlen!» schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem, wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten Sprung über die niedere Balustrade hin in den unten vorbeirauschenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Körpers war aber zu groß, als daß er es mit einer Hand hätte aufhalten können, ja er mußte sogar loslassen, um nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und der Unglückliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche er im nächsten Augenblick verschwand.

Der Fluß war indes hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehrere Leute, die unterhalb der Brücke ins Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, um den niedertreibenden Körper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefaßt, und von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopfe verletzt – die Wunde blutete stark, und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die Polizei und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen Arztes, in die Charitè.

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