Pfadfinder der Nacht

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Pfadfinder der Nacht
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Gisela Gebhard

PFADFINDER

DER NACHT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Weg in die Dämmerung

In die Fremde

Absprachen

Weg durch’s Gestein

Die Hausdame

Ein Tag

Marlies bittet um Feuer

Die Mauer vor mir

Schmidtke am Teich

Für eine neue Welt

Ausklang

WIDMUNG

Dieses Buch widme ich meiner lieben Freundin

Gertrud Pieske-Wood,

geb. 7. April 1919 in Lyk Ostpreußen,

gest. 13. Dezember 2013 in Toronto (Ontario, Canada).

Herzlichkeit, Lebensfreude, Mut, Schaffenskraft und stete

Hilfsbereitschaft haben ihr Leben geprägt.

In meiner Geschichte WEG IN DIE DÄMMERUNG sind

Stationen ihres erstaunlichen Lebens mit eingebaut. Ich habe

Gertrud beschrieben, wie ich sie erlebt habe.


Sie hat sich darüber sehr gefreut.

WEG IN DIE DÄMMERUNG

In die Fremde

Wer in die Fremde wandert,

will nicht wieder zurück.

Wer in die Fremde wandert,

sucht fern der Heimat das Glück.

Wer in die Fremde wandert,

geht oft aus innerer Not.

Der sucht in fernen Gestaden

Frieden, Vergessen und Brot.

Wer in die Fremde wandert,

weiß um die Schwere der Zeit,

weiß um vergebliche Mühen

und auch um die Einsamkeit.

Wer in die Fremde wandert,

den führt ein trotziger Mut,

und Vertrauen auf eine Stärke,

die in seinem Herzen ruht.

Wille, Vertrauen und Hoffnung

geben Start, Straße und Steg,

Brücke des Lebens zum neuen,

bewusst erwanderten Weg.

Teil 1:

Als er die Tür hinter sich zuschlägt, springt ihm erschreckt eine dicke, graue Katze über die Füße. Sie verschwindet schreiend unter den Büschen nahe dem Grünstreifen.

„Gut dass du nicht schwarz bist“, denkt er. „Meine Mutter hätte gemeint: Bleib stehen! Geh zurück! Einer schwarzen schreienden Katze zu folgen, bringt Unheil.“

So aber tritt er hinaus in das dämmernde Licht der Laternen, überquert die Straße, wendet sich drüben nach rechts und biegt in die Ecke zur Hauptstraße ein. Hubert geht langsam ohne sich umzusehen oder hinauf zu schauen zu der zweiten Etage, wo sie am Fenster steht.

Sie beobachtet seine Bewegungen, seine verhaltenen Schritte, hofft nicht auf einen Blick zurück. Er wird nicht wiederkommen; denn sie hat heute eine Liebe beendet, die aussichtslos war, weil er sich nie hat entscheiden können. Acht Jahre hat sie ihm geschenkt, beglückt in seinen Armen gelegen und auf die Trennung von seiner Frau gehofft. Sie weiß nicht mehr, wie oft er versprochen hat seine Ehe zu beenden. Erst die Kinder, dann die Krankheit der Frau, nun der Stress im Beruf! Jeweils ein neuer Grund zu einer Verzögerung. Josepha hat sich mehrmals von Hubert getrennt und ist doch wieder weich geworden. Dann aber hat sie in den Spiegel geschaut, die Fältchen um Mund und Augen entdeckt und gewusst, dass die Frische der Jugend trotz aller Kosmetik und Pflege langsam vergeht.

Ihre 42 Jahre sieht man Josepha nicht an. Sie ist noch immer schlank, biegsam und sportlich. Aber sie weiß um den Zyklus ihres Körpers, weiß wie lange sie noch auf eine Familie mit Kindern hoffen kann. Ihr Schock sitzt tief. Die Liebe allein zählt nicht mehr. Jetzt muss sie sich für ihn oder gegen ihn entscheiden – oder mit ihm zugleich. Dieser Gedanke hält und bewegt Josepha. Sie liebt Hubert, aber sie muss sich trennen – und trotzdem etwas von ihm mit sich nehmen in eine andere Welt. Sie, eine Krankenschwester mit der Zusatzausbildung für die Intensivstation, müsste überall gefragt sein.

Weil Josepha Englisch und auch Französisch spricht, hat sie sich auf Kanada konzentriert, Kontakte zu ausgewanderten Deutschen gesucht, und schließlich über die Botschaft ein Visum für ihren Zuzug beantragt. Das alles ist heimlich geschehen. Dann hat sie die Pille abgesetzt und gewartet. Sowie sie ihrer Schwangerschaft gewiss war, hat sie ihre Wohnung nebst Inventar zum Beginn des nächsten Quartals verkauft und ihr geringes Umzugsgut einer Speditionsfirma anvertraut. Ihre Arbeitsstelle hat sie gekündigt, ihre Koffer gepackt. Selbst ihre beste Freundin weiß nichts davon. Die wird sie vom Flughafen aus anrufen. Das Ticket für übermorgen liegt bei ihren Papieren.

Spöttisch schaut Josepha ihm nach, wischt verstohlen einige Tränen fort und überdenkt die vergangenen Stunden. Hubert ist ihre große Liebe – gewesen. Eigentlich immer noch! Gerade deshalb geht sie. Aber heute hat sie ihm noch einmal gezeigt, wie schön es hätte sein und auch bleiben können, wenn er endlich zu ihr gestanden hätte. Noch einmal hat sie ihn innig geliebt, dann ihm abrupt den Abschied gegeben. Hubert hat das für einen Scherz gehalten und gelacht. Sie hat ihn jedoch sehr ruhig betrachtet, bis dieses Lachen verschwand, sich in ungläubiges Staunen verwandelte, weil sie ihm plötzlich so fremd war.

„Du wirst mich nicht mehr hier antreffen, wenn ich zurück aus der Kur komme. Ich habe meine Stelle gekündigt. Ich ziehe fort!“, sagte sie laut in sein Erstaunen hinein. „Du wirst mich nicht mehr finden, weil ein entsprechender Vermerk in meinen Papieren eingetragen ist. Unsere Liebe wird ausgelöscht sein. Bitte geh! Zieh Dich an und geh! Ich will Deinen Körper nicht mehr sehen und Deine Stimme nicht mehr hören, weil Du mich so oft belogen hast. Dein Vertrösten war immer Lüge. Du wolltest nie von Deiner Familie fort. Du wolltest mich stets nur als Gespusi zusätzlich haben. Ich habe es satt, immer nur die zweite Wahl zu sein und zu warten, wann der gnädige Herr Zeit für mich erübrigen kann!“

Sie dachte dabei an seine Liebe zu seinen Kindern, dachte an das in ihr keimende, wachsende Leben. Dieses Kind sollte er nicht kennen lernen, nie um es wissen. Das machte sie stark und kalt, als er sie umstimmen wollte.

So schickte sie ihn fort.

„Da geht er“, denkt sie. „Da gehen acht Jahre meines Lebens, beglückende und traurige Jahre. Ich möchte sie nicht missen, aber auch nicht wiederholen, denn ich bin dabei oft sehr allein gewesen. Jetzt bin ich nicht mehr allein; denn ich trage Dein Kind in mir und Du weißt es nicht.“

Josepha steht noch lange am Fenster, sieht ihn im Geiste die Hauptstraße entlang gehen bis ins Parkhaus zu seinem Auto. Nicht ein einziges Mal hat er in all den Jahren vor ihrem Hause geparkt. Sein toller Sportwagen hätte ja auffallen und eventuell auf sie hinweisen können.

Josepha zählt seine Schritte, wandert mit ihm durch die Dämmerung bis zu seinem Wagen, steigt mit ihm ein und fährt, fährt weit, weit fort und mit ihm in die Anonymität seiner kommenden Tage.

„Hubert, fahr ab, wohin Du willst“, flüstert Josepha. „Du lebst für mich nur noch in dem Kind, in meinem Kind. Ich habe endlich wieder eine Zukunft.“

Sie geht zum Schreibtisch, löst sein Bild aus dem Rahmen und steckt es in einen Briefumschlag. Den klebt sie zu, malt darauf ein Kreuz wie für einen Verstorbenen, fügt das heutige Datum hinzu und legt den Umschlag zwischen Familienpapiere in ihrer Reisetasche. Dann duscht sie, zieht den Morgenrock über und legt sich auf die Couch. Sie ist zufrieden und müde. Schnell schläft sie ein. Erst das laute Klingeln des Weckers bringt sie um zehn Uhr in die Wirklichkeit zurück. Josepha entnimmt ihrem Kühlschrank das letzte Frühstück, filtert sich einen starken Kaffee und genießt ihre Mahlzeit nahe dem geöffneten Küchenfenster in der Morgensonne. Danach wäscht sie das Frühstücksgeschirr mit dem Geschirr des gestrigen Abends zusammen ab, trocknet die einzelnen Stücke sorgfältig und ordnet sie ein. Sie räumt Zimmer und Küche auf, hängt ihren Morgenrock ins Bad, wäscht sich und kleidet sich sorgfältig an, schminkt sich dezent. Da klingelt das Telefon. Sie hebt ab ohne sich zu melden. Als sie Huberts Stimme vernimmt, legt sie auf. Erneut klingelt das Telefon. Wieder ruft er nach ihr. Da legt sie auf und hebt sofort wieder ab, um bei der Taxizentrale zu fragen, ob sie pünktlich das Taxi erwarten kann. Es bleibt dabei. Gut! Ende! Sie legt auf, hebt aber gleich wieder ab und lässt den Hörer auf dem Tisch liegen. Nun ist sie nicht mehr erreichbar.

 

Als sie den leeren Kleiderschrank öffnet, um ihre Koffer zu holen, zittern die Hände. Josepha atmet mehrere Male tief durch. Dann nimmt sie die Koffer heraus, schließt den Schrank wieder zu und schleppt die Koffer zum Lift. Sie zieht ihren Mantel an. Ein letzter Blick in den Spiegel! Danach hängt sie ihre Tasche über die Schulter, schließt ab und fährt mit dem Gepäck nach unten. Dort wirft sie ihren Schlüssel in den Briefkasten des Hausmeisters. Josepha ist froh, dass keiner darauf reagiert.

Vor der angelehnten Haustür wartet sie auf den Fahrer. Der naht früher als erwartet, freut sich, dass sie schon bereit steht und holt ihr Gepäck aus dem Haus. Sie setzt sich neben ihn. Zu dieser Zeit kein Stau auf den Straßen. Als sie nahe dem Parkhaus vorbei kommen, fährt Hubert gerade dort ein. Ein Glück, dass der Fahrer so früh kam! Noch eine Aussprache hätte sie nicht durchgestanden. Im Flughafenhotel wird er nicht nach ihr suchen, viel eher bei Freundin Lili, aber die weiß ja nichts.

Um 6 Uhr 30 am nächsten Morgen startet der Flug nach Toronto. Josepha hat Business Class gebucht, weil sie sich nicht neben Fremde einzwängen will. Außerdem hat sie durch den Verkauf ihrer Wohnung und die Auflösung ihres Kontos keine finanziellen Sorgen. Sie betritt nicht als arme Frau ihre neue Welt. Das war Voraussetzung für ihr Verbleiben in Kanada.

Als das Flugzeug dann abhebt, kommt plötzlich Heimweh auf. Ihr Abgang ist eine Flucht. Sie hätte auch mit dem Kind bleiben können. Blödsinn! Jetzt wird sie sentimental! Ihr Fortgang ist Rache und Stolz. „Ich schaffe ein neues Leben – ohne Dich – ein besseres Leben sogar.“ Trotzdem fließen einige Tränen, rollen still über ihre Wangen. Sie schämt sich der Tränen, wischt sie verstohlen vom Kinn.

„Verlassen Sie Deutschland? Sind das Tränen des Abschied?“, fragt da jemand neben ihr freundlich. Sie nickt. Den älteren Herrn dort hat sie bisher nicht beachtet. Er lächelt:

„Ich kann das verstehen. Auch ich bin gegangen, vor Jahrzehnten schon und habe es nicht bereut. Kanada ist ein schönes Land, das für jeden offen steht, der etwas Mut mit der Hoffnung vereint. Sie sehen mutig aus trotz ihrer Tränen.“

Der Nachbar auf dem gemütlichen Sitz neben ihr wirkt väterlich, obwohl er altersmäßig bestimmt nicht ihr Vater sein könnte. Sein etwas hageres Gesicht strahlt Wärme aus. Die dunklen Augen unter den leicht ergrauten Brauen blicken mitfühlend, durchaus nicht neugierig. Sie lächelt zurück. Die Tränen sind versiegt.

„Ja“, antwortet sie. „Ich gehe tatsächlich. Ich wandere aus, um niemals zurück zu kommen. Ich lasse alles hinter mir, auch meine Freunde.“

„Sie müssen schwer wiegende Gründe dafür haben. Aber manchmal ist es besser, einen Schlussstrich zu ziehen und konsequent zu sein. Ich bin es auch einmal gewesen und habe es nicht bereut. Jetzt war ich nach fast 20 Jahren das erste Mal wieder in Deutschland.“

„Weshalb kamen Sie jetzt?“ Voll Erstaunen geht sie auf seine Worte ein.

„Ich kam zu einer Beerdigung. Nur deshalb!“

„Nur zu einer Beerdigung? Nicht mehr? Das kann ich nicht glauben!“

„Doch! Ich habe meine erste Frau beerdigt und damit das letzte Stück meiner Vergangenheit“, antwortet er ruhig. „Ich habe die guten und die schlechten Tage beerdigt und trotz sehr vieler schlechter Tage ‚danke‘ gesagt. Das hat auch mir selber sehr gut getan.“

„Aber sie hat es nicht mehr gehört. Es war zu spät.“

„Das glaube ich nicht. Schwingungen stehen im Raum. Sie erreichen auch die Verstorbenen.“

„Sind Sie Esoteriker?“ Josepha betrachtet ihn kritisch.

Er schüttelt den Kopf. „Nein“, antwortet er – und nach leichtem Zögern, „Ich bin Chiropraktiker mit einer Ausbildung in Psychologie. Ich kann, wenn ich mich konzentriere, Schwingungen empfinden. Das ist alles.“

„Oh, da muss man sich aber vor Ihnen in Acht nehmen!“

„Keineswegs. Ich habe nur empfunden, dass Ihre Tränen ein wirklicher Abschied waren. Ich wollte Ihnen darüber hinweg helfen.“

„Danke“, sagt sie leise und nickt ihm zu. Er hat ihr geholfen. Nun sind sie schon in den Wolken, sehen die Erde nicht mehr. Das Ziel liegt vor ihr. In reichlich sieben Stunden wird sie ein neues Land betreten und den Kampf um die Zukunft aufnehmen. Ihr Nachbar überlässt sie jetzt ihren Gedanken.

Später ergeben sich über Belanglosigkeiten neue Kontakte. Die Gespräche intensivieren sich. Sie sprechen abwechselnd in Englisch und Deutsch miteinander. Er heißt Franz Mullbeck und wohnt in Etobicoke verhältnismäßig nahe dem Flughafen. Man hat Toronto wegen seiner weiten Ausdehnung seit einiger Zeit ganz offiziell wieder in Ortsteile aufgeteilt, die ihren ursprünglich einheimischen Namen auch in der Anschrift der Post wieder tragen. Das ist ihr, die sich nun als Josepha Hollmann vorstellt, auch schon vertraut. Sie hat sich über Internet mit der evangelisch lutherischen Gemeinde St. Georgs Church in Verbindung gesetzt und gute Kontakte zu ausgewanderten Deutschen erhalten, hat oft auch telefoniert. So wurde ihr eine preisgünstige Pension in Scarborogh in der Sheppard Ave East empfohlen. Dort hat sie sich fürs Erste eingemietet. Mrs. Wood, die in der Nähe wohnt, will ihr bei der Eingewöhnung behilflich sein.

„Da haben Sie eine lange Anfahrt“, meint Franz Mullbeck, „mindestens eine Stunde, wenn nicht länger. Aber die Schnellstraßen sind breit gefächert und gut, deshalb ein Stau, wenn wir ankommen, unwahrscheinlich. Auf die Taxifahrer ist Verlass. Sie rechnen nach einer Kilometerpauschale ab. Haben Sie schon kanadische Dollars?“

„Ja, ich habe einiges eingewechselt. Das andere wurde auf mehrere Konten überwiesen.“

„Sehr gut! Man hat Sie offensichtlich gut beraten.“

Zum Mittagessen gibt es Hühnchen oder Pasta mit Salat und einer Nachspeise. Josepha hat wenig Appetit, wählt deshalb Pasta, die ihr dann aber so gut schmeckt, dass sie tatsächlich alles aufisst. Beide haben sich Rotwein zum Essen bestellt. Franz M. hebt sein Glas und lächelt ihr zu, als er sagt: „In Kanada reden sich alle nur mit dem Vornamen an, auch wenn sie sich eben erst kennen gelernt haben. Ich bin also Franz. What’s your name?“

Sie hebt ihr Glas und lächelt zurück:

„I’m Josepha. You may tell me Josa, that’s better. Okay?”

„Josa is nice, stay at this name. People will like it.”

Damit bleiben sie nun im Englischen. Das Hin und Her ihres Gesprächs wird locker und fröhlicher, streift weitgehend den Alltag Torontos und seiner Umgebung. Ontario muss bezaubernd sein mit seinen Seen und Wäldern. Josa freut sich über die Einführung.

Als der Jumbo langsam zur Landung ansetzt, überreicht ihr Franz M. seine Visitenkarte mit der Bitte, ihn anzurufen, wenn sie irgendwelche Hilfe braucht. Er freut sich aber auch, wenn sie nur „guten Tag“ sagt und ihre Anschrift mitteilt. Eventuell kann er sogar in seiner Praxis eine Krankenschwester gebrauchen, selbst wenn sie überqualifiziert ist. Josa nickt und verspricht sich zu melden.

Nachher geht alles sehr schnell. Er wartet noch bei Einreise und Zoll auf sie und bringt sie mit ihren Koffern zur Taxe. Ein freundliches „goodbye“. Dann rauscht sie ab und staunt über den ihr unheimlichen Verkehr, der in beiden Richtungen vierbahnig, teilweise sogar in fünf Bahnen fließt, sich teilt, über und unter anderen Schnellstraßen hinweg führt und doch besser als in Deutschland geregelt ist, weil die Beschilderung sehr genau die Himmelsrichtungen angibt, die weiten Ziele und die nahen, für die man sich schon zeitig einordnen muss.

Der Fahrer verwickelt sie in ein Gespräch. Er möchte wissen, wo sie herkommt, wen sie hier besucht und wie lange sie bleiben wird. Als er hört, dass sie einwandert, ist er total happy und verweist sie auf jedes wichtige Gebäude oder die hohen Kaufhäuser mit den verbindenden Brücken im vierten oder sechsten Stockwerk oder noch höher, damit man im Winter von einer Mall in die andere gut gehen kann, ohne durch den Schnee zu stapfen. Er zeigt stolz auf den Fernsehturm und vieles andere, was sie in der Schnelligkeit des Vorbeifahrens kaum erfassen kann.

Nach einer langen Fahrt verlassen sie die Schnellstraße, reihen sich rechts ein, biegen bei der nächsten Ampel nach links, erreichen kurz darauf eine breite Straße mit Hochhäusern und flachen Bauten.

„We are here!“, strahlt der Fahrer und hält vor einem etwas älteren Gebäude mit einer Fahne und dem einladenden Schild SHEPPARDS HOME. Das Haus gefällt ihr. Der Fahrer zeigt auf seine Preistafel. Sie zahlt, rundet zu seiner Freude gut auf und steigt aus. Er trägt ihr die Koffer ins Haus bis zur Rezeption, drückt da die Klingel, wünscht ihr „good luck“ und entschwindet.

Kurz darauf erscheint in Lockenwicklern eine freundliche ältere Dame. Die hat sie erwartet, freut sich, Josepha, genannte Josa, kennen zu lernen, bittet um Eintragung und Pass. Dann ruft sie ihren Sohn Fredy, einen kräftigen jungen Mann Anfang zwanzig, der sie ebenso freundlich begrüßt und sie mit ihren Koffern in die dritte Etage bringt. Dort öffnet er ihr Apartment. Das besteht aus zwei gut eingerichteten Räumen nebst Kühlschrank, Kochecke und Badezimmer. Josa ist angenehm überrascht. Die gut auf einander abgestimmte Einrichtung gefällt ihr, ebenso der begehbare Kleiderschrank und vor allem der Blick auf den kleinen Garten mit dem Seerosenteich. Fredy erklärt die Induktionsplatte der Kochecke, die Schalter für die verschiedenen Lichtquellen, den Fernseher und die sehr modernen Armaturen des Badezimmers. Auf einem Tischchen neben dem Bett steht das Telefon, außerdem eine Flasche Mineralwasser nebst einem Glas. An dem angelehnt liegt ein Begrüßungskärtchen von Mrs. Wood. In der Ablage darunter entdeckt sie das Telefonbuch von Toronto.

„Perfekt“, sagt Josa und bedankt sich.

„Das freut uns“, antwortet Fredy in Deutsch. „Das Frühstück können Sie zwischen 7 Uhr 30 und 10 Uhr unten im Gemeinschaftsraum einnehmen. Es ist einfach, aber für gewöhnlich ausreichend und im Preis des Apartments mit eingeschlossen. Den Gemeinschaftsraum können Sie auch sonst jederzeit benutzen, ebenso die Bücherei. Zwei Tageszeitungen und einige Journale stehen da zu Ihrer Verfügung.“

Auf ihren erstaunten Blick hin fügt er hinzu: „Wir sind gebürtige Deutsche. Ich bin zwar hier geboren, spreche aber mit meinen Eltern meist deutsch, außerdem besuchen wir regelmäßig den Deutschen Club. Daher auch der gute Kontakt zu Mrs. Wood, zu Gertrud. Die freut sich schon auf Sie.“

„Das ist ja eine Überraschung! Ich werde mich jetzt frisch machen und umziehen. Dann werde ich mich bei Mrs. Wood melden.“

Als sie allein ist, lässt sich Josepha in den nächsten Sessel fallen und streckt die Beine aus. Sie ist geschafft. „.Ich bin jetzt Josa“, denkt sie, „ich muss mich eingewöhnen und anpassen. Der veränderte Vorname soll mir ein neues Leben aufschließen. Ich bin noch jung genug. Ich muss es schaffen, muss und will all meine Kraft in diesen Neubeginn legen. Mit dem Flug nach Westen habe ich sechs Stunden gewonnen. Es ist ja erst Nachmittag (5 p.m. wie es hier heißt). Der Tag ist noch lang. Lieber gleich anrufen und mich melden als vielleicht einschlafen, verschlafen und einen schlechten Eindruck machen.“ Sie geht also ins Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett und trinkt ein Glas Wasser. Dann wählt sie die Nummer. Es klingelt einige Male. Jemand hebt ab, meldet sich: „Hy!“ …

„Mrs.Wood“, meint sie schüchtern, „hier ist Josepha Hollmann, genannt Josa. Ich bin in SHEPPARDS HOME angekommen, sitze in meinem Zimmer und habe Ihr Begrüßungskärtchen gefunden.“

„Okay, my dear, fine. How are you? Much tired I think. Ruh’ Dich aus, Mädchen. Komm morgen nach dem Frühstück so gegen 11. Wir werden uns später ein paar Eier in die Pfanne hauen und sehen, wie es weiter geht. Du weißt, ich wohne Unit 412, das heißt vierter Stock Nummer 12. Drück die Klingel. Dann fährst Du mit dem rechten Lift. Da hast Du es näher. Die Wohnungen liegen um einen großen Innenhof, meine genau in der nächsten Ecke, wenn Du nach rechts gehst. Anders herum findest Du auch. Aber da dauert es länger.“

„Ich werde es finden, habe ja Zeit“, antwortet Josa, „dann bin ich bestimmt ausgeschlafen, Mrs Wood.“

„Sag Gertrud zu mir!“ – „Danke, Gertrud.“ – „Schlaf gut Josa, good night!“

Nun kann sie entspannen. Sie ist verschwitzt und erschöpft. Nach einem erholsamen Bad kriecht sie ins Bett und schläft erstaunlich rasch ein.

 

Als sie erwacht, fühlt sie sich gestärkt und zu neuen Taten bereit. Aber draußen ist Nacht. Ihr Wecker zeigt erst 3 Uhr 10. Sie hat fast 8 Stunden geschlafen. Ihr Rhythmus liegt noch in der deutschen Zeit. Nun räkelt sie sich, erfrischt sich mit einem Schluck Wasser und döst vor sich hin. Viel ist geschafft. Aber das Entscheidende liegt vor ihr! Also raus aus dem Bett! Die Koffer stehen geöffnet im Raum. Gestern hat sie nur ihre Nachtwäsche und die Kulturtasche ausgepackt. Alles andere blieb liegen, schreit nun nach Ordnung. Sie schlüpft in ihre Hausschuhe, tastet sich zum Schalter fürs Oberlicht, geht ins Wohnzimmer und lässt auch da die Lichter aufflammen. Noch im Schlafanzug packt sie aus, verteilt ihre Sachen auf Kleiderschrank und Schubladen. Ein Safe im Fußboden des begehbaren Kleiderschranks ist fast unauffällig in einer Ecke verankert. Da kommen ihre Papiere und der Umschlag mit Huberts Bild hinein. Anschließend betrachtet sie zufrieden ihr Werk. Die neue Ordnung gefällt ihr.

Jetzt hat sie Hunger! Oh, schon kurz vor 7 Uhr! Also duschen und anziehen! Sie wählt ihr helles Kostüm mit einem leichten Pullover, hängt die Jacke nur lose über die Schultern und fährt im Lift runter zum Frühstück. Die Wirtin glänzt jetzt in blonder Lockenpracht, ist begeistert, dass Josa schon erscheint und stellt sich nun als Lotte Bauknecht vor. „Sag Lotte zu mir!“

Dann erklärt sie das aufgebaute Buffet. Jeder kann sich bedienen. Wenn etwas fehlt, wird nachgeliefert. Auf einen besonderen Wunsch wird sie, wenn er nicht zu ausgefallen ist, immer eingehen.

Josa wählt Fruchtsaft, Joghurt, Kakao und gebutterten Toast mit einer aromatischen Kirschmarmelade. Dieses Frühstück genießt sie. Erst als sie sich zum Aufstehen entschließt, erscheint ein älteres Ehepaar, Touristen von der Ostküste. Die beiden stellen sich als Jeanette und Paul Marcuse vor. Sie sprechen französisch und freuen sich, dass Josa spontan darauf eingeht. Das ist ihnen in Toronto selten passiert. Als sie dann erfahren, dass ihre neue Bekannte eine deutsche Einwandernde ist, finden sie das merveilleuse und möchten Josa am liebsten auf ihre Tour nachher mitnehmen. Aber die entschuldigt sich wegen ihres Treffens mit Gertrud Wood. Das ist ein herrlicher Grund zu entfliehen.

In ihrem Apartment entnimmt sie den zurechtgelegten Geschenken zwei Pakete gemahlenen Kaffee und zwei Tafeln deutsche Schokolade. Sie weiß, dass deren besonderer Geschmack hier erfreut. Alles verpackt sie hübsch in dafür mitgebrachtem Papier und verstaut das Päckchen in ihrer Umhängetasche. Es ist noch zu früh für den Besuch. Aber Sonnenschein und Umgebung locken hinaus zu einer ersten Erkundung.

Die Straße entlang wandernd sucht sie das große Gebäude mit der Nummer 1580. Das hat eine erstaunliche Höhe und nimmt fast einen ganzen Block ein. Es liegt schätzungsweise nur 200 Meter weiter links auf der anderen Straßenseite. In der Richtung nach rechts werden die Häuser niedriger, nehmen europäische Maße in einer mittelgroßen Stadt ein und weisen auf die Außenbezirke hin. Eine breite Straßenbrücke führt über einen Bach, der gut befestigt, tief unter ihr liegt. Zu Hause hätte das auf einen Stadtgraben hingewiesen. Die Gegend eignet sich gut zum Spazierengehen. Sie setzt sich auf eine Bank und genießt den Morgen. Kurz vor 11 Uhr wandert sie zurück zu Nummer 1580 und drückt auf den Klingelknopf. Kurz darauf tönt es: „Hallo!“ Sie meldet sich und der Summer ertönt. Sie öffnet die Eingangstür. Ein kurzer, breiter Gang führt zu den Aufzügen. Alles wurde ihr gut beschrieben. So wählt sie den Aufzug ganz rechts, steigt in der vierten Etage aus und findet schon kurz darauf die Eckwohnung Nummer 12. In der offenen Tür steht lächelnd Mrs. Wood, Gertrud, blond, klein in geblümtem Morgenrock. Ihr Alter könnte man zwischen 50 und 60 einschätzen. Josa weiß, dass Gertrud bereits 72 Jahre alt ist. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Backenknochen wirkt gepflegt. Geschminkt ist sie nicht. Den rechten Arm trägt sie hochgebunden in einer offenen Gipsmanschette.

„Hallo, my dear, komm rein!“, tönt es der Besucherin entgegen. Sie umarmen sich trotz Gertruds Behinderung.

„Ich freue mich sehr. Danke, dass ich herkommen durfte“, flüstert Josa gerührt. Die Augen werden ihr feucht. Sie zeigt auf Gertruds Arm:

„Was ist passiert?“

„Ach, wieder mal was gebrochen, aber fast schon verheilt. Ich kann Dich hier gut gebrauchen.“

„Das freut mich“, antwortet Josa während sie die Diele betreten. Sie stellt ihre Tasche ab und zieht das Jackett aus.

„Wo kann ich anfangen?“

„So schnell nicht, my Deern. Wir wollen uns erst mal beschnuppern. Da drüben steht Gebäck und ein Aprikosenlikör. Zum Kennenlernen ist das genau der richtige Einstieg. Hinterher könnte uns ein starker Kaffee sicher gut tun.“

Gertrud geht geradeaus in ein großes Zimmer, dem sich ein breiter Wintergarten anschließt. An einem Tischchen bei zwei Sesseln lässt sie sich nieder. Josa folgt mit ihrer Tasche und öffnet die.

„Für einen starken Kaffee wird das wohl reichen“, sagt sie und legt Gertrud ihr Päckchen in den Schoß. Die entfernt sorgfältig das hübsche Geschenkpapier und freut sich über die Gaben.

„Wer hat Dir das geflüstert?“

„Deine Nichte aus Unna!“

„Ich habe den Eindruck, Du bist gut vorbereitet. Nun weiter! Da stehen die Gläser. Schenke uns ein, damit wir auf Deine Zukunft hier trinken können!“

So lässt sich der erste Tag nun gut an. Gertruds Deutsch mit englischen Brocken dazwischen wirkt erfrischend. Die ostpreußischen Seen südlich von Königsberg sind ihre Heimat. Die Betonung von dort klingt immer noch an. Josa fühlt sich bei Gertrud daheim. Man versteht sich. Mit dem Aprikosenlikör fließen die Worte. Gertrud hat Mut bewiesen, ging ohne Englisch zu sprechen nach England, hätte dort bleiben können, vertrug aber das Klima nicht und musste zurück. Als dann Kanada die ersten Deutschen rief, war sie dabei, kannte dort keinen, arbeitete, was sich ihr bot, belegte Kurse, begann stundenweise als Putzfrau und wurde schließlich Aushilfslehrerin, die man in die verschiedensten Schulen rief, wenn jemand ausfiel.

„Das habe ich auch noch gemacht, als ich verheiratet war“, erklärt Gertrud stolz. „Mr. Thomas Wood, ich nannte ihn immer Vally, war meine Prämie. Den habe ich beiläufig am Strand kennen gelernt, als ich mit Freundinnen da herumtollte. Er, der beste und liebste Mensch, war nur wesentlich älter als ich. Vor elf Jahren ist er in meinen Armen gestorben. Das ging so schnell, dass ich nicht mal den Arzt rufen konnte. Aber für ihn war es gut. So hatte er sich das immer gewünscht. Er arbeitete bei der Post. Wie viel Geld er besaß, habe ich erst gemerkt, als wir verheiratet waren. Val war nicht geizig, aber er brauchte für sich selbst nicht viel, fuhr kein tolles Auto und sprach auch nicht laut oder viel, nur das, was ihm nötig schien. Er freute sich, wenn er zuhören konnte. Ich bin immer gesprächig und kontaktfreudig gewesen. Sonst hätte ich mich sicher auch nicht auf Deine Mail an unsere Gemeinde gemeldet. Du hast um eine Verbindung mit ausgewanderten Deutschen gebeten.“

Damit legt sie ihre linke Hand auf Josas Rechte, schaut die freundlich an und meint: „Es wäre noch mehr zu erzählen. Aber nun zu Dir. Du hast Dich in Deutschland nicht mehr wohl gefühlt, soviel weiß ich. Du meintest, in der Mitte des Lebens sei eben noch Zeit, neu zu starten. Dafür gibt es Gründe. Einer allein wird nicht ausreichen. Du hast einen gescheiten Beruf. Kotzt der Dich an?“

„Eigentlich nicht. Die Verantwortung zählt, und ich war oft sehr allein in dieser Verantwortung. Das macht einsam. Wenn dann nichts hinter Dir steht, was Dich aus der Einsamkeit reißt, zählst Du Deine Jahre. Ich habe sie gezählt. Verwandte habe ich nicht, Freunde ja, aber nur wenige. Die kann man einladen oder auch mit ihnen telefonieren. Eine große Hilfe sind sie nicht.“

„Das kann nicht alles sein, meine Liebe. Du machst nicht den Eindruck einer Schnecke im Schneckenhaus. Du wirkst nicht so. Darin kenne ich mich aus.“

Gertrud betrachtet ihr Gegenüber kritisch, zwinkert mit einem Auge und fragt sehr langsam: „WAS IST MIT MÄNNERN?“

Josa zuckt mit den Schultern. „Nichts Besonderes“, sagt sie.

„Das glaube ich nicht. Du bist bestimmt nicht als Jungfrau hier eingereist!“ Jetzt muss die so Angeredete doch lachen:

„Bestimmt nicht. Das wäre ja traurig.“

Sie grinsen sich an und lachen nun beide.

„Also, was ist?“ Gertrud bleibt bei dem Thema, lässt nicht locker, erscheint dabei aber nicht neugierig, sondern wirklich besorgt. Josa fühlt, dass sie vertrauen kann. Sie spricht von ihrer Liebe und ihrer Enttäuschung.

„Ich musste gehen, um nicht immer wieder weich zu werden“, meint sie schließlich, „eigentlich ein Entschluss aus Entschlusslosigkeit.“

Gertrud betrachtet sie lange, schüttelt schließlich den Kopf:

„Wie konntest Du Dir das so lange gefallen lassen? Solche Verblendung! Ist der Kerl denn so toll? Hast Du keine Fehler an ihm entdeckt?“

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