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Gustave Flaubert

November

Erzählung

Gustave Flaubert

November

Erzählung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021

Übersetzung: E. W. Fischer

EV: Wolff, Leipzig, 1916 (191 S.)

1. Auflage, ISBN 978-3-962818-60-9

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Inhaltsverzeichnis

No­vem­ber

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Jür­gen Schul­ze

November

Pour niai­ser et fan­tas­ti­que.

Mon­taig­ne

Ich lie­be den Herbst; sei­ne Trau­rig­keit stimmt gut zu Erin­ne­run­gen. Wenn die Bäu­me ent­laubt sind, wenn der Abend­him­mel noch in den tiefro­ten Far­ben glüht, die einen gol­di­gen Schein über das Heu wer­fen, dann sieht man mit Ent­zücken al­les ver­lö­schen, was jüngst noch im Her­zen brann­te.

Eben kom­me ich von mei­nem Spa­zier­gang über öde Wie­sen zu­rück, an kal­ten Grä­ben vor­bei, in de­nen die Wei­den sich spie­geln. Ihre kah­len Zwei­ge pfif­fen im Win­de; zu­zei­ten schwieg er: dann setz­te er plötz­lich wie­der ein; und nun er­schau­er­ten die klei­nen Blät­ter, die noch am Ge­sträuch hän­gen, das Gras neig­te sich zit­ternd zur Erde, al­les be­kam ein blei­che­res und käl­te­res Aus­se­hen; am Ho­ri­zont ver­lor sich die Son­nen­schei­be im wei­ßen Him­mel und er­füll­te ihn rings­um­her mit ei­nem Rest er­lö­schen­den Le­bens. Mich fror, und fast hat­te ich Furcht.

Ich setz­te mich in den Schutz ei­nes klei­nen Gras­hü­gels; der Wind hat­te sich ge­legt; als ich so auf der Erde saß, nichts dach­te und in der Fer­ne den Rauch von Hüt­ten auf­stei­gen sah, da stand – ich weiß nicht warum – mein gan­zes Le­ben wie ein Phan­tom vor mir, und mit dem Duft des tro­ckenen Heu­es, dem Ge­ruch der to­ten Wäl­der kam mir der bit­te­re Ge­schmack längst ver­gan­ge­ner Tage zu­rück. Mei­ne trau­ri­gen Jah­re zo­gen an mir vor­über, als feg­te sie der Win­ter in gräss­li­chem Stur­me da­hin. Ir­gend­ei­ne schreck­li­che Macht jag­te sie durch mei­ne Erin­ne­rung, wü­ten­der als der Wind, der die Blät­ter über die stil­len Pfa­de tan­zen ließ. Eine son­der­ba­re Iro­nie schi­en sie zu strei­fen und für mein Auge um­zu­wen­den, dann flo­gen alle zu­gleich da­von und ver­schwan­den an ei­nem düs­te­ren Him­mel.

Sie ist trau­rig, die Jah­res­zeit, in der wir ste­hen: man glaubt, das Le­ben will mit der Son­ne ver­schei­den. Ein Frös­teln zieht ins Herz, wie über den Leib. Alle Lau­te erster­ben. Der Ho­ri­zont wird blass; al­les will schla­fen, ver­ge­hen … Eben sah ich die Kühe heim­keh­ren, sie brüll­ten der un­ter­ge­hen­den Son­ne nach. Der klei­ne Jun­ge, der sie mit ei­ner Brom­beer­ran­ke vor sich her­trieb, zit­ter­te vor Käl­te in sei­nem Dril­lich-An­zu­ge. Beim Ab­stieg vom Hü­gel glit­ten sie im Schmutz aus und zer­tra­ten ein paar Kar­tof­feln, die zwi­schen Un­kraut ste­cken ge­blie­ben wa­ren. Hin­ter den ver­schwim­men­den Hü­geln her­vor sand­te die Son­ne letz­ten Ab­schied. Im Tal glüh­ten die Lich­ter der Häu­ser auf, und der Mond, das Gestirn des Tau­es, das Gestirn der Trä­nen, ent­schlei­er­te lang­sam zwi­schen Wol­ken sein blei­ches Ge­sicht.

Lan­ge habe ich mich lust­voll in mein ver­gan­ge­nes Le­ben ver­senkt. Mit Won­ne habe ich mir ge­sagt, dass mei­ne Ju­gend vor­über sei; denn es ist Won­ne, zu füh­len, wie die Käl­te ins Herz kriecht, und sa­gen zu kön­nen, wäh­rend man es mit der Hand an­fühlt wie einen noch rau­chen­den Herd: es brennt nicht mehr! Lang­sam habe ich mein gan­zes Le­ben an mir vor­über­zie­hen las­sen: sei­ne Ge­dan­ken und Lei­den­schaf­ten, sei­ne Tage stür­mi­scher Wal­lun­gen und sei­ne Tage der Trau­er, sein hoff­nungs­vol­les Frohlo­cken und sei­ne qual­vol­len Schmer­zen. Ich sah al­les wie­der, wie je­mand, der die Ka­ta­kom­ben be­sucht und lang­sam auf bei­den Sei­ten im­mer neue Rei­hen von To­ten er­blickt. Wenn ich die Jah­re zäh­le, so sehe ich wohl, dass ich noch nicht alt bin; aber ich habe zahl­lo­se Erin­ne­run­gen, de­ren Ge­wicht ich auf mir füh­le, wie die Grei­se die Last all der Tage füh­len, die sie ge­lebt ha­ben. Zu­wei­len scheint es mir, als sei ich seit Jahr­hun­der­ten da, und als schlös­se mein We­sen die Über­res­te von Tau­sen­den ver­gan­ge­ner Exis­ten­zen ein. Wo­her kommt das? Habe ich ge­liebt? Habe ich ge­hasst? Habe ich et­was er­strebt? Ich zweifle dar­an. Ich leb­te ab­seits von al­lem re­gen und tä­ti­gen Le­ben, still für mich, ohne Sinn für Ruhm, Ver­gnü­gen, Wis­sen und Geld.

Von al­lem, was ich hier er­zäh­len wer­de, hat nie­mand et­was ge­wusst; die­je­ni­gen, die mich alle Tage sa­hen, eben­so­we­nig wie an­de­re. Sie wa­ren für mich wie das Kis­sen, auf dem ich ruhe, und das nichts von mei­nen Träu­men weiß. Und ist das Herz des Men­schen nicht eine un­ge­heu­re Ein­sam­keit, in die nie­mand ein­zu­drin­gen ver­mag? Die Lei­den­schaf­ten, die hin­durch­zie­hen, sind wie die Rei­sen­den der Wüs­te Sa­ha­ra; sie er­sti­cken dar­in, und ihr Schrei dringt nicht dar­über hin­aus.

Schon in der Schu­le war ich trau­rig. Ich lang­weil­te mich da; ich koch­te vor Ver­lan­gen, hat­te ein hei­ßes Seh­nen nach ei­nem tol­len, wild­be­weg­ten Da­sein, ich ge­noss die Lei­den­schaf­ten im Traum und hät­te sie alle durch­kos­ten mö­gen. Jen­seits des zwan­zigs­ten Jah­res lag für mich eine gan­ze Welt von Licht und Duft. In der Fer­ne er­schi­en mir das Le­ben in sieg­haf­tem Glanz und Klin­gen. Wie im Mär­chen tat sich ein wei­ter Saal nach dem an­de­ren auf. Dia­man­ten fun­kel­ten im Licht gol­de­ner Kron­leuch­ter. Un­ter ei­nem Zau­ber­wort dreh­ten sich die ver­wun­sche­nen Tü­ren in ih­ren An­geln, und wenn man wei­ter­ging, tauch­te der Blick in pracht­vol­le Fer­nen, vor de­ren blen­den­dem Glän­ze sich die Au­gen lä­chelnd schlie­ßen.

Ich hat­te ein un­be­stimm­tes Ver­lan­gen nach et­was Strah­len­dem, das ich we­der in Wor­ten noch in Ge­dan­ken deut­lich zu fas­sen ver­moch­te, und doch fühl­te ich ein star­kes, un­abläs­si­ges Seh­nen da­nach. Ich habe im­mer das Glän­zen­de ge­liebt. Als Kna­be dräng­te ich mich un­ter die Men­ge an der Tür der Schar­la­ta­ne, um die ro­ten Tres­sen ih­rer Die­ner und die Half­ter ih­rer Pfer­de zu se­hen. Lan­ge stand ich vor dem Zelt der Gauk­ler, um ihre Pumpho­sen und ge­stick­ten Kra­gen zu be­trach­ten. Ach, und wie habe ich die Seil­tän­ze­rin ge­liebt, mit ih­ren lan­gen Ohr­ge­hän­gen, die um ih­ren Kopf bau­mel­ten, mit ih­rer Ket­te aus di­cken Stei­nen, die auf ihre Brust schlug. Mit welch un­ru­hi­ger Gier schau­te ich sie an, wenn sie bis an die zwi­schen Bäu­men hän­gen­den La­ter­nen sprang, wenn ihr mit Gold­flit­tern be­setz­tes Kleid beim Sprun­ge klatsch­te und sich in der Luft bausch­te. Das wa­ren die ers­ten Frau­en, die ich ge­liebt habe. Mein Sinn quäl­te sich mit dem Ge­dan­ken an die­se merk­wür­dig ge­form­ten Schen­kel, die so prall in ih­ren ro­sa­far­be­nen Tri­kots sa­ßen, an die­se ge­schmei­di­gen Arme, von Span­gen um­schlos­sen, die beim Rück­wärts­beu­gen auf dem Rücken klin­gel­ten, wenn sie mit den Fe­dern ih­res Kopf­put­zes den Bo­den be­rühr­te. Das Weib, das ich mir schon vor­zu­stel­len such­te – (denn es gibt kein Le­bensal­ter, wo man nicht dar­an denkt: als Kind be­tas­ten wir mit nai­ver Sinn­lich­keit den Bu­sen der großen Mäg­de, die uns küs­sen und die uns auf ih­rem Arme hal­ten; mit zehn Jah­ren träumt man von Lie­be; mit fünf­zehn kommt sie zu uns; mit sech­zig ist sie noch nicht er­lo­schen, und wenn die To­ten un­ter der Erde et­was den­ken, so ist es: wie sie in der Tie­fe das nächs­te Grab er­rei­chen kön­nen, um das Lei­chen­tuch der Ab­ge­schie­de­nen fort­zu­zie­hen und sich ih­rem Schlum­mer zu gat­ten) – das Weib war also für mich ein lo­cken­des Ge­heim­nis, das mein ar­mes Kinder­hirn ver­wirr­te. An dem, was ich emp­fand, wenn eine von ih­nen mich an­schau­te, fühl­te ich schon, et­was Ver­häng­nis­vol­les in die­sem er­re­gen­den Blick lag, der den mensch­li­chen Wil­len schmel­zen lässt, und ich war zu­gleich ent­zückt und er­schro­cken.

Wo­von träum­te ich wäh­rend der lan­gen Ar­beits­stun­den, wenn ich, den Arm auf mein Pult ge­stützt, den Docht der Lam­pe in der Flam­me län­ger wer­den und je­den Trop­fen Öl in das Näpf­chen fal­len sah, wäh­rend die Fe­dern mei­ner Nach­barn auf dem Pa­pier knirsch­ten, und man von Zeit zu Zeit hör­te, wie ein Buch um­ge­blät­tert oder zu­ge­klappt wur­de? Ich be­en­dig­te has­tig mei­ne Auf­ga­ben, um mich un­ge­hin­dert die­sen sü­ßen Ge­dan­ken hin­ge­ben zu kön­nen. Ich freu­te mich dar­auf, wie auf et­was, das den Reiz ei­nes wirk­li­chen Ver­gnü­gens für mich hat­te; ich rich­te­te mei­ne Ge­dan­ken so an­ge­strengt dar­auf, wie ein Dich­ter, der schaf­fen und die In­spi­ra­ti­on her­vor­ru­fen will. Ich ver­senk­te mich so tief als mög­lich in mei­nen Ge­dan­ken, ich wen­de­te ihn nach al­len Sei­ten, ging bis auf sei­nen Grund, kehr­te zum Aus­gangs­punkt zu­rück und fing von Neu­em an. Bald war es ein tol­les Da­hin­stür­men der Fan­ta­sie, ein wun­der­ba­rer Flug aus al­ler Wirk­lich­keit her­aus. Ich er­dich­te­te mir Aben­teu­er, er­sann Ge­schich­ten, bau­te Pa­läs­te, wohn­te dar­in wie ein Kai­ser. Ich höhlte alle Dia­man­ten­mi­nen aus und warf Ei­mer voll Stei­ne auf den Weg, der vor mir lag.

Und wenn der Abend ge­kom­men war, wenn wir alle in un­se­ren sau­be­ren Bet­ten mit den wei­ßen Vor­hän­gen la­gen, und wenn der Stu­dien­meis­ter im Schlaf­saal auf- und ab­ging, wie ver­kroch ich mich dann noch mehr in mich selbst, und mit wel­cher Won­ne barg ich in mei­nem In­nern den Vo­gel, der mit den Flü­geln schlug und des­sen Wär­me ich fühl­te! Ich brauch­te im­mer lan­ge Zeit zum Ein­schla­fen, ich hör­te die Stun­den schla­gen, und je län­ger sie sich dehn­ten, de­sto glück­li­cher war ich. Es schi­en mir, als ob sie mich sin­gend in die Welt führ­ten, als ob sie mir in je­dem Au­gen­bli­cke mei­nes Le­bens grü­ßend zu­rie­fen: »Wei­ter! Wei­ter! Der Zu­kunft ent­ge­gen! Ade! Ade!« Und wenn das letz­te Zit­tern ver­k­lun­gen war, wenn mein Ohr von ih­rem Klan­ge nicht mehr summ­te, sag­te ich mir: »Bis mor­gen, die­sel­be Stun­de wird wie­der­keh­ren; aber mor­gen ist es ein Tag we­ni­ger; einen Tag nä­her wer­de ich dem Zie­le sein, das leuch­tend vor mir liegt; nä­her mei­ner Zu­kunft, die­ser Son­ne, de­ren Strah­len mich über­flu­ten und die ich dann mit Hän­den grei­fen wer­de.« Und ich sag­te mir, dass das Glück recht lan­ge auf sich war­ten las­se, und fast wei­nend schlief ich ein.

 

Ge­wis­se Wor­te setz­ten mich in Ver­wir­rung, wie zum Bei­spiel »Weib« und »Ge­lieb­te«. Ich such­te die Er­klä­rung des ers­te­ren in Bü­chern, auf Sti­chen und Bil­dern. Ich hät­te die Ge­wän­der dar­auf her­un­ter­rei­ßen mö­gen, um et­was zu ent­de­cken. Als ich schließ­lich al­les ahn­te, war ich zu­erst won­ne­voll be­nom­men, wie von ei­ner höchs­ten Har­mo­nie; doch bald wur­de ich ru­hig und leb­te von da an mit mehr Le­bens­freu­de. Ich war stolz dar­auf, ein Mann zu sein, ein We­sen, das be­stimmt ist, ein Weib für sich zu be­sit­zen. Das Wort »Le­ben« war mir be­kannt. Es be­deu­te­te fast: Ein­tre­ten und et­was da­von kos­ten; mein Wunsch ging nicht wei­ter, und ich war be­frie­digt, zu wis­sen, was ich wuss­te. Eine Ge­lieb­te war für mich ein dia­bo­li­sches We­sen; un­ter dem Zau­ber des blo­ßen Wor­tes ge­riet ich in lan­gan­hal­ten­de Ver­zückun­gen. Für ihre Ge­lieb­ten rui­nier­ten sich die Kö­ni­ge, für sie er­ober­ten sie Pro­vin­zen, für sie wur­den in­di­sche Tep­pi­che ge­wirkt, wur­de Gold ge­häm­mert, Mar­mor be­hau­en, die Welt in Be­we­gung ge­setzt. Eine Ge­lieb­te hat Skla­ven, die ihr mit We­deln die Mücken weh­ren, wenn sie auf sei­den­ge­pols­ter­tem Di­van ruht. Ele­fan­ten, mit Ge­schen­ken be­la­den, er­war­ten sie beim Er­wa­chen, Palan­ki­ne tra­gen sie sanft an den Rand der Fon­tä­nen; sie sitzt auf Thro­nen in glanz­er­füll­ter, duft­ge­schwän­ger­ter Luft, weit ab von der Men­ge, die sie ver­wünscht und an­be­tet.

Die­ses Ge­heim­nis des Wei­bes, das au­ßer­halb der Ehe steht und ge­ra­de des­halb umso viel mehr Weib ist, reiz­te mich und nahm mich durch den dop­pel­ten Zau­ber der Lie­be und des Reich­tums ge­fan­gen. Ich lieb­te nichts so sehr als das Thea­ter, ich lieb­te es bis zum Stim­men­ge­schwirr in den Pau­sen, bis zu den Zu­gän­gen, die ich er­reg­ten Her­zens durch­eil­te, um mei­nen Platz auf­zu­su­chen. Hat­te die Vor­stel­lung schon be­gon­nen, so stieg ich eilends die Trep­pen em­por. Ich ver­nahm den Klang der In­stru­men­te, Stim­men, Bra­vo­ru­fe. Und wenn ich ein­trat, wenn ich mich setz­te, lag rings­um­her in der Luft der war­me Hauch schön­ge­klei­de­ter Frau­en, et­was, das nach Veil­chen­bu­ketts, wei­ßen Hand­schu­hen und ge­stick­ten Ta­schen­tü­chern duf­te­te. Gleich Krän­zen von Blü­ten und Dia­man­ten schie­nen die men­schen­über­füll­ten Ga­le­ri­en dort oben zu schwe­ben, um dem Ge­sang zu lau­schen. Im Vor­der­grun­de der Büh­ne stand nur die Sän­ge­rin, und ihre Brust, aus der die Töne her­vor­perl­ten, hob und senk­te sich wo­gend. Der Rhyth­mus trieb ihre Stim­me im Flug da­hin und riss sie im me­lo­di­schen Wir­bel mit. Die Ko­lo­ra­tu­ren well­ten ih­ren an­ge­spann­ten Hals wie den ei­nes Schwa­nes, un­ter der Last der Küs­se der Luft. Sie rang die Arme, schrie, wein­te, sand­te zün­den­de Bli­cke, rief je­mand mit un­sag­ba­rer Lie­be her­bei, und wenn sie das Mo­tiv wie­der auf­nahm, schi­en es mir, als rei­ße sie mit dem Klang ih­rer Stim­me mein Herz aus der Brust, um es sich in lie­ben­dem Er­schau­ern zu ver­mäh­len. Man spen­de­te ihr Bei­fall und warf ihr Blu­men zu, und in mei­ner Be­geis­te­rung ge­noss ich in ihr den Weih­rauch der Men­ge, die Lie­be al­ler die­ser Men­schen und den Wunsch ei­nes je­den von ih­nen. Von ihr hät­te ich ge­liebt wer­den mö­gen, ge­liebt mit ver­zeh­ren­der, furcht­ba­rer Lei­den­schaft, der Lei­den­schaft ei­ner Fürs­tin oder Schau­spie­le­rin, die uns stolz macht, uns so­fort den Rei­chen und Mäch­ti­gen gleich­stellt! Wie schön ist die Frau, der alle hul­di­gen und die alle er­seh­nen, die der Men­ge den fie­ber­haf­ten Wunsch für die Träu­me ei­ner je­den Nacht ein­gibt; sie, die im­mer nur im Glan­ze der Ker­zen er­scheint, strah­lend und sin­gend, die Ge­dan­ken­welt ei­nes Dich­ters er­fül­lend, als das Le­ben, das ihr zu­kommt! Und für ih­ren Ge­lieb­ten muss sie noch eine an­de­re Lie­be ha­ben, viel schö­ner als die, wel­che sie frei­ge­big den hung­ri­gen Her­zen spen­det, die sich an ihr la­ben, sü­ße­re Lie­der, tiefe­re, lei­den­schaft­li­che­re, le­ben­di­ge­re Töne! Ach, hät­te ich in der Nähe ih­rer Lip­pen sein kön­nen, de­nen sie so rein ent­ström­ten, hät­te ich die­se schim­mern­den Haa­re be­rüh­ren dür­fen, die un­ter Per­len glänz­ten! Doch die Ram­pe des Thea­ters war für mich die Schran­ke der Il­lu­si­on. Das Reich der Lie­be und Poe­sie lag jen­seits; die Lei­den­schaf­ten wa­ren dort schö­ner und hat­ten einen tiefe­ren Klang, Wäl­der und Pa­läs­te zer­sto­ben wie Rauch, Syl­phi­den schweb­ten aus den Him­meln her­ab, al­les sang, al­les lieb­te.

An all das dach­te ich, wenn ich abends al­lein saß und den Wind durch die Gän­ge pfei­fen hör­te, oder in den Pau­sen, wäh­rend die an­de­ren sich fin­gen oder Ball spiel­ten, und ich an der Mau­er ent­lang ging über die ab­ge­fal­le­nen Lin­den­blät­ter; es freu­te mich, wenn mei­ne Schrit­te sie ra­schelnd auf­wühl­ten und vor sich her­trie­ben.

Bald fass­te mich die Lust zu lie­ben. Ich wünsch­te die Lie­be mit gren­zen­lo­ser Be­gehr­lich­keit her­bei. Ich träum­te von ih­ren Qua­len, war­te­te je­den Au­gen­blick auf einen tie­fen Schmerz, der mich mit Won­ne er­füllt hät­te. Meh­re­re Male glaub­te ich der Er­fül­lung nahe zu sein. In Ge­dan­ken nahm ich die ers­te bes­te Frau, die mir schön er­schi­en, und sag­te: »Die lie­be ich!« Doch die Erin­ne­rung, die ich hät­te von ihr mit­neh­men mö­gen, ver­blich und er­losch, an­statt sich zu ver­tie­fen. Auch fühl­te ich, dass ich mich zu Lie­be zwang, dass ich mit mei­nem Her­zen Ko­mö­die spiel­te, wo­durch es sich nicht täu­schen ließ. Und dies Fias­ko mach­te mich lan­ge Zeit trau­rig; fast trau­er­te ich um die Lie­be, die ich nicht emp­fun­den hat­te, und dann träum­te ich von ei­ner an­de­ren, die mei­ne See­le er­fül­len soll­te.

Be­son­ders am Mor­gen nach ei­nem Ball oder ei­nem Thea­ter­abend, oder wenn ich aus zwei, drei Fe­ri­en­ta­gen zu­rück­kam, er­träum­te ich mir eine Lei­den­schaft. Ich stell­te mir die Frau mei­ner Wahl vor, so wie ich sie ge­se­hen hat­te: im wei­ßen Kleid, in den Ar­men ei­nes Ka­va­liers, der sie stützt und ihr zu­lä­chelt, im Wal­zer da­hin­schwe­bend, oder auf die samt­be­zo­ge­ne Brüs­tung ei­ner Loge ge­lehnt und ihr kö­nig­li­ches Pro­fil zei­gend. Die Wei­sen der Kon­ter­tän­ze, der Glanz der Lich­ter ver­folg­ten und blen­de­ten mich noch eine Zeit lang; dann schmolz zu­letzt al­les in der Ein­tö­nig­keit ei­ner schmerz­li­chen Träu­me­rei zu­sam­men. So habe ich tau­send klei­ne Ge­füh­le ge­habt, die acht Tage oder einen Mo­nat an­hiel­ten und de­nen ich die Dau­er von Jahr­hun­der­ten hät­te ge­ben mö­gen. Ich weiß nicht, wel­ches ihr In­halt war, noch worin alle die­se un­be­stimm­ten Wün­sche zu­sam­men­flos­sen. Ich glau­be, es war das Be­dürf­nis nach ei­nem neu­en Ge­fühl und eine Sehn­sucht nach et­was Ho­hem, des­sen Gip­fel ich nicht sah.

Die Rei­fe des Her­zens geht der des Kör­pers vor­aus. Noch lag mir Emp­fin­den nä­her als Ge­nie­ßen, mein Sinn stand mehr nach Lie­be als nach Wol­lust. Heu­te ver­mag ich mir die Lie­be des ers­ten Jüng­lings­al­ters nicht ein­mal mehr vor­zu­stel­len. Die Sin­ne spie­len in ihr kei­ne Rol­le, und das Unend­li­che al­lein gibt ihr den In­halt: als ein Über­gang zwi­schen Kind­heit und Ju­gend lie­gend, ent­schwin­det sie so schnell, dass man sie ver­gisst.

Bei den Dich­tern hat­te ich so viel von Lie­be ge­le­sen und mir das Wort so oft wie­der­holt, um mich an sei­nem süßem Klang zu be­rau­schen, dass ich bei je­dem Stern, der in mil­der Nacht am blau­en Him­mel glänz­te, bei je­dem Wel­len­mur­meln am Ufer, bei je­dem Son­nen­strahl im Tau­trop­fen sag­te: »Ich lie­be, ach, ich lie­be!« Und das mach­te mich glück­lich und stolz. Ich war be­reit zu den höchs­ten Op­fern, und be­son­ders, wenn eine Frau mich im Vor­über­ge­hen streif­te oder mir ins Ge­sicht sah, hät­te ich sie noch tau­send­mal mehr lie­ben, noch mehr für sie er­dul­den mö­gen und ge­wünscht, dass mein biss­chen Herz­klop­fen mir die Brust spreng­te.

Erin­ne­re dich, Le­ser, der Le­bens­zeit, wo man un­be­stimmt lä­chelt, als ob die Luft vol­ler Küs­se wäre: das Herz ist ganz ge­schwellt von duf­ten­dem Hauch, das Blut pulst heiß in den Adern, es wallt wie schäu­men­der Wein in ei­ner Scha­le von Kris­tall. Beim Er­wa­chen ist man glück­li­cher und rei­cher, als man am Abend vor­her war, zit­tern­der von Le­ben und Er­re­gung. Süße Strö­me stei­gen und fal­len und durch­trän­ken uns himm­lisch mit be­rau­schen­der Wär­me. Sanft nei­gen die Bäu­me ihre Wip­fel un­ter dem Win­de, die Blät­ter er­schau­ern an­ein­an­der, als wenn sie flüs­ter­ten, Wol­ken zie­hen und ge­ben den Him­mel frei, von dem der Mond her­ablä­chelt und sein Spie­gel­bild in den Fluss wirft. Wenn man auf abend­li­chem Spa­zier­gan­ge den Duft des fri­schen Heu­es ein­at­met, den Kuckuck in den Wäl­dern hört und die Stern­schnup­pen fal­len sieht, dann ist ge­wiss das Herz rei­ner, von Luft, Licht und Azur tiefer durch­tränkt als der fried­li­che Ho­ri­zont, wo Erde und Him­mel sich in sanf­tem Kus­se zu ver­mäh­len schei­nen. Ach, wie das Haar der Frau­en duf­tet! Wie zart die Haut ih­rer Hän­de ist, wie ihre Bli­cke ins Herz drin­gen!

Doch schon war es nicht mehr der ers­te blen­den­de Glanz der Kind­heit, wa­ren es nicht mehr die auf­re­gen­den Erin­ne­run­gen der ver­gan­ge­nen Nacht; ich trat im Ge­gen­teil in das wirk­li­che Le­ben ein, wo ich mei­nen Platz hat­te, in eine wei­te Har­mo­nie, wo mein Herz einen Hym­nus sang und in präch­ti­ger Schwin­gung vi­brier­te. Ich ge­noss voll Won­ne die­ses ent­zücken­de Er­blü­hen, und das Er­wa­chen mei­ner Sin­ne hob mei­nen Stolz. Wie der ers­te Mensch der Schöp­fung hob ich mich von lan­gem Schlum­mer, und an mei­ner Sei­te sah ich ein mir ähn­li­ches, doch ab­wei­chend ge­stal­te­tes We­sen. Das rief zwi­schen uns eine tau­mel­er­re­gen­de An­zie­hung her­vor, und zu­gleich hat­te ich für die­se neue Ge­stalt ein neu­es Ge­fühl, das mich stolz mach­te, wäh­rend die Son­ne hel­ler schi­en, die Bäu­me sü­ßer als je duf­te­ten und die Schat­ten woh­li­ger und lo­cken­der wa­ren.

Zu glei­cher Zeit fühl­te ich täg­lich die Ent­wick­lung mei­nes Geis­tes fort­schrei­ten. Sie hielt mit der mei­nes Her­zens glei­chen stand. Ich weiß nicht, ob mei­ne Ge­dan­ken Ge­füh­le wa­ren, doch hat­ten sie alle die Glut ei­ner Lei­den­schaft. Die in­ne­re Freu­de, die ich in der Tie­fe mei­nes We­sens spür­te, ström­te auf mei­ne Mit­menschen über und hüll­te sie für mich in den Glanz der Üb­er­fül­le mei­nes Glücks. Bald rühr­te ich an die Er­kennt­nis höchs­ter Won­nen, und wie ein Mann an der Tür sei­ner Ge­lieb­ten, ver­weil­te ich ab­sicht­lich lan­ge, vol­ler Sehn­sucht, um eine zu­ver­sicht­lich win­ken­de Hoff­nung zu ge­nie­ßen und mir zu sa­gen: »Gleich wer­de ich sie in mei­nen Ar­men hal­ten, sie wird mein sein, ganz mein, es ist kein Traum!«

Son­der­ba­rer Wi­der­spruch! Ich floh die Ge­sell­schaft der Frau­en, und ich emp­fand ein zau­ber­haf­tes Ver­gnü­gen in ih­rer Nähe. Ich tat, als ob ich mir nichts aus ih­nen mach­te, wäh­rend ich in al­len leb­te und das We­sen ei­ner je­den in mich hät­te auf­neh­men mö­gen, um mich mit ih­rer Schön­heit zu ver­ei­ni­gen. Schon ihre Lip­pen lu­den mich zu an­de­ren Küs­sen als de­nen ei­ner Mut­ter. In Ge­dan­ken hüll­te ich mich in ihr Haar, lag zwi­schen ih­ren Brüs­ten, um in gött­li­chem Er­sti­cken zu ver­ge­hen. Ich hät­te das Hals­band sein mö­gen, das ih­ren Hals um­schlang, die Agraf­fe,1 die nach ih­rer Schul­ter zün­gel­te, das Ge­wand, das ih­ren Kör­per ver­hüll­te. Auf den Klei­dern sah ich nichts mehr, dar­un­ter aber lag eine Unend­lich­keit von Lie­be – ich ver­lor mich in Ge­dan­ken dar­an.

 

Die­se Lei­den­schaf­ten, die ich mir er­sehn­te, stu­dier­te ich in Bü­chern. Das Le­ben be­weg­te sich für mich um zwei, drei Ge­dan­ken, um zwei, drei Wor­te, um die sich al­les üb­ri­ge dreh­te, wie Pla­ne­ten um ih­ren Fix­stern. So hat­te ich mei­ne Welt mit ei­ner An­zahl gol­de­ner Son­nen be­völ­kert. In mei­nem Kop­fe dräng­ten sich die Lie­bes­ge­schich­ten ne­ben die schö­nen Re­vo­lu­tio­nen, die schö­nen Lei­den­schaf­ten stell­ten sich den großen Ver­bre­chen ge­gen­über. Ich träum­te zu­gleich von den ster­nen­hel­len Näch­ten der hei­ßen Län­der und von dem Feu­er­schein bren­nen­der Städ­te, von den Lia­nen der Ur­wäl­der und dem Pomp ver­gan­ge­ner Kai­ser­rei­che, von Grä­bern und von Wie­gen. Ge­mur­mel der Wo­gen im Bin­sen­ge­strüpp, Gir­ren von Tur­tel­tau­ben im Schla­ge, Myr­ten­wäl­der und Duft der Aloe, Klir­ren von Schwer­tern auf Rüs­tun­gen, stamp­fen­de Ros­se, leuch­ten­des Gold, glit­zern­des Le­ben, To­des­rö­cheln Verzwei­fel­ter, – al­les sah ich mit den­sel­ben wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen an, wie einen Amei­sen­hau­fen, der sich zu mei­nen Fü­ßen reg­te. Doch von die­sem äu­ßer­lich reich­be­weg­ten Le­ben, das von so man­nig­fal­ti­gen Stim­men wi­der­hall­te, drang ein un­ge­heue­rer Schmerz em­por als sei­ne Syn­the­se und sei­ne Iro­nie.

An Win­ter­aben­den blieb ich vor den er­leuch­te­ten Häu­sern ste­hen, in de­nen ge­tanzt wur­de, und hin­ter ro­ten Vor­hän­gen sah ich Schat­ten vor­über­schwe­ben. Ich hör­te die Mu­sik des Lu­xus: Glä­ser klirr­ten auf Ser­vier­bret­tern, Sil­ber­zeug klap­per­te in den Schüs­seln, und ich sag­te mir, dass es nur von mir ab­hing, an die­sem Fes­te teil­zu­neh­men, zu dem man sich dräng­te, an die­sem Ban­kett, wo alle schmaus­ten. Ein un­ge­sel­li­ger Stolz hielt mich fern da­von; denn ich fand, dass mei­ne Ein­sam­keit mich gut klei­de­te und dass mein Herz rei­cher war, wenn es al­les, was die Freu­de der Men­schen aus­macht, mied. Ich setz­te mei­nen Weg durch die ver­las­se­nen Stra­ßen fort, wo die La­ter­nen sich trau­rig beim Knir­schen ih­rer Rol­len, schau­kel­ten.

Ich er­leb­te träu­mend die Schmer­zen der Dich­ter, ich wein­te mit ih­nen ihre schöns­ten Trä­nen. Sie ka­men mir vom Grun­de mei­nes Her­zens; ich war er­grif­fen, zer­ris­sen. Zu­wei­len schi­en es mir, als ma­che mich die Be­geis­te­rung, die sie mir mit­teil­ten, zu ih­res­glei­chen, und als hebe sie mich an ihre Sei­te. Stel­len, die an­de­re kaltlie­ßen, be­rausch­ten mich und ver­setz­ten mich in se­he­ri­sche Ra­se­rei. Es war ein won­ni­ges Wü­ten im Geist. Ich re­zi­tier­te sie laut am Mee­res­ufer, oder ich ging ge­senk­ten Haup­tes über die Wie­sen und sprach sie mit der ver­lieb­tes­ten und zar­tes­ten Stim­me vor mich hin.

Un­glück­lich der Mensch, der sich nie einen tra­gi­schen Zorn ge­wünscht hat, der kei­ne Lie­bes­lie­der aus­wen­dig weiß, um sie im Mon­den­licht her­zu­sa­gen! Wun­der­voll ist solch ein Le­ben in ewi­ger Schön­heit, wenn man den Fal­ten­wurf der Kö­ni­ge an­nimmt, Lei­den­schaft in ih­rer höchs­ten Stei­ge­rung emp­fin­det und die un­s­terb­li­chen Ge­stal­ten des Ge­ni­us liebt.

Von nun an leb­te ich nur noch in schran­ken­lo­sen Idea­len. Frei und nach Her­zens­lust um­her­schwär­me­nd wie die Bie­ne, sam­mel­te ich über­all zu mei­ner Nah­rung und mei­nem Le­ben. Im Rau­nen der Wäl­der und der Flu­ten klan­gen mir Stim­men, für die an­de­re taub wa­ren, und weit öff­ne­te ich mein Ohr, um die Of­fen­ba­run­gen ih­rer Har­mo­nie zu ver­neh­men. Wol­ken und Son­ne wur­den mir zu ge­wal­ti­gen Bil­dern, die kei­ne Spra­che ma­len kann, und eben­so be­merk­te ich plötz­lich in den mensch­li­chen Hand­lun­gen Be­zie­hun­gen und Ge­gen­sät­ze, de­ren licht­vol­le Klar­heit mich blen­de­te. Zu­wei­len schie­nen Kunst und Poe­sie ihre gren­zen­lo­sen Wei­ten zu öff­nen und ein­an­der mit ih­rem Glän­ze zu be­strah­len. Ich bau­te Pa­läs­te aus rot­fun­keln­dem Kup­fer, ich stieg ewig auf ei­ner Trep­pe von dau­nen­wei­chen Wol­ken in einen Him­mel voll Glanz.

Der Ad­ler ist ein stol­zer Vo­gel, der auf den höchs­ten Fel­sen­gip­feln wohnt; in den Tä­lern, tief un­ter sich, sieht er die Wol­ken wo­gen; sie füh­ren die Schwal­ben mit. Er sieht den Re­gen auf die Tan­nen fal­len, die Mar­mel­stei­ne im Gieß­bach rol­len; er sieht den Hir­ten, der sei­nen Zie­gen pfeift, und die Gem­sen, die über Ab­grün­de sprin­gen. Mag der Re­gen flie­ßen, der Sturm Bäu­me kni­cken, mö­gen Bergströ­me schluch­zend her­ab­brau­sen, mag der Was­ser­fall rau­chen und sprit­zen, der Don­ner to­ben und Berg­gip­fel los­rei­ßen: ru­hig schwebt er dar­über und regt sorg­los die Flü­gel; das To­sen der Ber­ge be­hagt ihm, er stößt Freu­den­schreie aus, kämpft mit den da­h­in­ja­gen­den Wol­ken und steigt hö­her in den un­ge­heu­ren Him­mels­raum.

Auch mich be­lus­tig­te das To­ben der Un­wet­ter und das un­deut­li­che Sum­men der Men­schen, das bis zu mir em­por­drang; ich leb­te in Hö­hen, wo mein Sinn sich mit rei­ner Luft tränk­te, wo ich Lau­te des Tri­um­phes aus­stieß, um die Un­lust mei­ner Ein­sam­keit zu ban­nen.

Schnell kam mir ein un­über­wind­li­cher Wi­der­wil­le ge­gen al­les Ir­di­sche. Ei­nes Mor­gens fühl­te ich mich alt und voll Er­fah­run­gen über tau­send un­er­prob­te Din­ge. Ich war gleich­gül­tig ge­gen die ver­lo­ckends­ten und voll Missach­tung für die schöns­ten. Für al­les, was der an­de­ren Lust aus­mach­te, hat­te ich nur Mit­leid, und ich sah nichts, was auch nur der Mühe ei­nes Wun­sches lohn­te. Vi­el­leicht war mei­ne Ei­tel­keit der Grund, dass ich über die ge­wöhn­li­che Ei­tel­keit er­ha­ben war, und mei­ne In­dif­fe­renz war nur das Über­maß ei­ner gren­zen­lo­sen Be­gier­de. Ich glich je­nen neu­en Bau­ten, auf de­nen sich schon Moos bil­det, ehe sie fer­tig sind. Die lau­ten Ver­gnü­gun­gen mei­ner Ka­me­ra­den lang­weil­ten mich, ich zuck­te die Ach­seln, wenn ich ihre sen­ti­men­ta­len Al­bern­hei­ten sah. Ei­ni­ge ho­ben ein Jahr lang einen al­ten wei­ßen Hand­schuh oder eine ver­trock­ne­te Ka­me­lie auf, um ihre Küs­se und Seuf­zer dar­an zu hän­gen. An­de­re schrie­ben an Mo­dis­tin­nen oder tra­fen sich mit Kö­chin­nen. Die einen er­schie­nen mir dumm, die an­de­ren gro­tesk. Und dann lang­weil­te mich die gute Ge­sell­schaft eben­so­sehr wie die schlech­te. Den From­men ge­gen­über gab ich mich zy­nisch und den Frei­geis­tern mys­tisch, so­dass mich nie­mand lieb­te.

Zu je­ner Zeit war ich noch un­schul­dig und fand Freu­de dar­an, die Pro­sti­tu­ier­ten zu be­trach­ten. Ich ging durch die Stra­ßen, die sie be­woh­nen, ich schwärm­te um die Orte, an de­nen sie pro­me­nie­ren. Zu­wei­len re­de­te ich sie an, um mich selbst in Ver­su­chung zu brin­gen, folg­te ih­nen, be­rühr­te sie, trat in ih­ren Dunst­kreis. Da ich frech war, glaub­te ich kalt zu sein. Ich fühl­te im Her­zen eine Lee­re, doch die­se Lee­re war ein Ab­grund.

Ich lieb­te es, mich im Stru­del des Stra­ßen­le­bens zu ver­lie­ren. Zu­wei­len ver­fiel ich auf dum­me Zer­streu­un­gen, wie etwa je­den Vor­über­ge­hen­den starr an­zu­bli­cken, um auf sei­nem Ge­sicht Las­ter oder her­vor­ste­chen­de Lei­den­schaf­ten zu le­sen. Alle die Köp­fe glit­ten ei­lig an mir vor­über: die einen lä­chel­ten oder pfif­fen im Wei­ter­ge­hen, wäh­rend der Wind ihr Haar zaus­te; an­de­re wa­ren blass, an­de­re wie­der rot, noch an­de­re erd­fahl; sie zo­gen schnell an mir vor­über, sie glit­ten ei­ner nach dem an­de­ren vor­bei, wie Aus­hän­ge­schil­der, an de­nen man im Wa­gen vor­über­fährt. Oder ich be­trach­te­te auch nur die Füße, die in al­len Rich­tun­gen da­hin­eil­ten, und ich ver­such­te, je­dem Fuße einen Kör­per, dem Kör­per einen Ge­dan­ken, al­len Be­we­gun­gen ein Ziel zu ge­ben. Und ich frag­te mich, wo­hin alle die­se Schrit­te steu­er­ten, und warum alle die­se Leu­te gin­gen. Ich sah die Equi­pa­gen in die hal­len­den Säu­len­gän­ge ein­bie­gen und den schwe­ren Wagen­tritt mit Kra­chen auf­ge­hen. Die Men­ge dräng­te sich in die Ein­gän­ge der Thea­ter. Ich sah Lich­ter durch den Ne­bel glän­zen, und dar­über stand der schwar­ze, ster­nen­lo­se Him­mel. An ei­ner Stra­ßen­e­cke spiel­te ein Or­geldre­her, Kin­der in Lum­pen san­gen, ein Obst­händ­ler schob sei­nen Kar­ren, den eine rote La­ter­ne be­leuch­te­te. Man lärm­te in den Cafés, die Spie­gel glänz­ten im Schei­ne der Gas­flam­men, die Mes­ser klan­gen auf den Mar­mor­ti­schen, am Ein­gan­ge reck­ten sich die Ar­men, vor Käl­te zit­ternd, um die Rei­chen ta­feln zu se­hen. Ich misch­te mich un­ter sie, und mit den­sel­ben Bli­cken be­trach­te­te ich die Glück­li­chen des Le­bens. Ich be­nei­de­te sie um ihre ba­na­le Lust; denn es gibt Tage, wo man so trau­rig ist, dass man sich noch trau­ri­ger ma­chen möch­te. Dann ist die Verzweif­lung wie ein be­que­mer Weg, den man mit Won­ne wählt. Das Herz ist von Trä­nen ge­schwol­len, und man regt sich selbst zum Wei­nen an. Oft habe ich mir ge­wünscht, elend zu sein und Lum­pen zu tra­gen, von Hun­ger ge­pei­nigt zu wer­den, eine Wun­de blu­ten zu füh­len, zu has­sen und auf Ra­che zu sin­nen.

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