Rost

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Jakub Małecki ROST

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Rdza.

© 2017 Wydawnictwo SQN, Krakau 2017

Copyright © Jakub Małecki

Erste Auflage

© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Renate Schmidgall

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Typografische Gestaltung: Julie Heumüller, Berlin

Satz: Marco Stölk, Berlin

Herstellung: Daniel Klotz, Berlin

ISBN 978-3-905951-98-1

eISBN 978-3-905951-99-8

Für Stach, den Unsichtbaren

Inhalt

1.2002

2.63 Jahre früher

3.2002

4.62 Jahre früher

5.2002

6.61 Jahre früher

7.2002–2014

8.57 Jahre früher

9.2014–2016

10.41 Jahre früher

11.2016

12.39 Jahre früher

13.2016

14.38 Jahre früher

15.2016

16.21 Jahre früher

17.2002

18.2016

1

An jenem Tag, als alles zu Ende ging, beugte er sich über die Gleise. Seine Finger waren staubig. Die Münzen legte er in eine Reihe, so dass sie sich überschnitten. Nur ein bisschen. Er rückte die zwei mittleren zurecht, machte einen Schritt nach hinten, dann wieder nach vorn, korrigierte noch einmal. Dann hob er den Kopf und schirmte die Augen ab. Der Zug kam von der Stadt her. Ein Güterzug, sehr gut.

»Komm jetzt«, sagte Budzik von hinten.

Er trat zurück und klopfte die Hände ab. Unkraut reichte ihm bis zu den Knien, das Gras wogte sanft. Er ging wieder auf den Trampelpfad und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Sein Nacken war heiß von der Sonne.

»Vielleicht springen sie gar nicht so weit.«

Budzik nickte. Sie standen schweigend da und schauten. Die alte Lokomotive zog lauter gleiche braune Waggons hinter sich her. Es war schwül. Heiß. Wurde immer lauter.

Schließlich verkündete Budzik, im Unkraut werde er nicht suchen. In letzter Zeit bekam er Blasen von den Brennnesseln und überhaupt. Szymek hockte sich neben ihn, die Hände auf den Knien. Nur das Summen einer Hummel im Gras und das Rattern der schweren Räder waren zu hören.

Wenn er in Chojny war, kamen sie fast immer hierher. Sie brachten Metallgegenstände mit, die sie gefunden oder gestohlen hatten. Nägel, Schrauben, Münzen. Manche konnten sie danach nicht wiederfinden – unter dem Gewicht des Zuges schossen sie weit ins Gras oder Gebüsch. Doch die meisten fanden sie. Szymek hatte zwei Scharniere, die wie Schmetterlinge aussahen, viele zusammengeklebte Münzen in verschiedenen Formen, zerquetschte Schrauben und Nägel, einen gleichmäßig durchtrennten Hammerkopf, Kleckse aus zusammengeklebtem Draht und eine originell zerrissene Klinge. Am meisten liebte er ein auf dem Parkplatz vor dem Wohnblock gefundenes Kettchen, das die Lokomotive zu einer kriechenden Schlange mit rauer Haut geschmolzen hatte. Manchmal stellte er sich vor, er hätte eine Freundin und würde ihr dieses ausgefallene Teil schenken, und sie würde sich aus Dankbarkeit unsterblich in ihn verlieben. Die Sachen versteckte er in einem Baumloch in Großmutter Tosias Obstgarten. Großmutter wusste das nicht oder wollte es nicht wissen. Sicher hatte sie ab und zu bemerkt, wie er in dem alten Apfelbaum wühlte, den Arm bis zum Ellbogen im dicken Stamm.

Diesmal hatte Budzik Glück. Seine Nägel hatten sich unter der Last der Lokomotive in ein längliches, dickes Spinnennetz verwandelt. Ein Teil war gleich abgebrochen, geblieben war ein Netz, nicht größer als eine Hand. Budzik hielt die Beute unter die Sonne und schaute mit seinem Zahnlückengrinsen durch die schmalen Spalten. Von den Münzen keine Spur, sie waren weit Richtung Wald geflogen. Szymek hatte zu suchen begonnen, aber schnell aufgegeben. Ein Klebteil war nur ein Klebteil, das nächste Mal würde es klappen. Von einem fehlenden Klebteil ging die Welt nicht unter, vor allem nicht an einem Tag, wo Mama versprochen hatte, aus Warschau den neuen Asterix mitzubringen. Wer wollte an so einem Tag im Gras und in den Disteln stöbern. Alte Münzen hatte er noch ein halbes Glas. Er zuckte mit den Achseln und folgte Budzik.

Langsam gingen sie zurück und reichten sich abwechselnd den flachen Gegenstand mit den ausgefransten Rändern. Budzik sagte, eines Tages werde er alle seine Klebteile aus dem Versteck im Hühnerstall holen und auf das Regal im Zimmer legen. Was sein Vater sagen würde, sei ihm piepegal. Eines Tages werde er das tun.

Sie kamen an der Ausfahrt zur Landstraße vorbei, und Szymek hielt Ausschau nach dem blauen Uno. Er blieb stehen und wartete eine Weile in der Hoffnung, gleich würden seine Eltern hier abbiegen. Doch sie bogen nicht ab. Nur Hołowczyc flitzte in die andere Richtung, wie immer nahe an der Böschung, groß und unheimlich. Mit seinen dicken Armen schob er die Räder an und brummte etwas in seinen dichten Bart.

Szymek hoffte, die Eltern würden bald nach Hause kommen, wie versprochen, aber er kannte es bereits – bei den Eltern wusste man nie. Er war gerne bei Großmutter Tosia, doch an diesem Abend würde Bugs Bunny im Fernsehen laufen, und er hatte noch viel zu tun. Daheim erwartete ihn das langweilige Prozedere mit den Fischen: Lebendfutter aus der Tiefkühltruhe, ein bisschen trockenes aus der Tüte, Heizstab und Filter abwischen, Wasser nachgießen. Aber das Wichtigste: das Ausmalen der Kühe.

Die Kühe brachte Papa von der Arbeit mit. Sie standen auf riesigen Papierbögen, in einem kleinen Rahmen in der linken oberen Ecke. Eine Seite, die andere Seite und der dreieckige Kopf von vorne. Geister von Kühen, dünne Umrisse ohne Flecken, denn die musste man selbst ausmalen. Papa zeichnete sie auf der Arbeit ein und markierte die Stellen, die schwarz sein sollten, mit einem Kreuzchen. Szymek setzte sich an den Schreibtisch, knipste die Lampe mit dem roten Metallschirm an und malte die Flecken sorgfältig mit seinem Filzstift aus. Wenn er sich vertat, musste er das ganze Blatt mit der Kuh noch einmal machen. Entschlossen bewegte er den Stift über das Fell der Tiere und belebte eins nach dem anderen. Fast nie fuhr er über die Linien hinaus: Er war sieben Jahre alt und hatte in seinem Leben schon Hunderte von Kühen ausgemalt.

Bugs Bunny lief um 18.00 Uhr, es wäre also am besten, die Kühe schon vorher zu erledigen. Dann könnte er Mama in der Küche von den schönsten Stellen des Zeichentrickfilms erzählen. Sie wäre bei den Töpfen, an der Spüle oder mit der Backhaube beschäftigt, er würde an dem quadratischen Tisch neben dem Zeitungsstapel auf der kleinen Eckbank sitzen, den Kopf an die Holzverkleidung gelehnt, und minutiös die Abenteuer von Bugs Bunny und den anderen Helden wiedergeben. Mama lachte immer, auch wenn die Geschichten gar nicht so lustig waren.

Doch es könnte sich herausstellen, dass die Kühe zu viele wären und er sie vor dem Film nicht alle schaffen würde. Dann müsste er ein paar für später übriglassen, was bedeutete, dass nach dem Baden weniger Zeit für Asterix wäre, und Asterix muss man auf einmal lesen, das weiß ja jeder. Alles hing davon ab, wie viele Kühe Papa bringen würde. Mittwochs waren es in der Regel die meisten, denn da hatte er das größte Gebiet, aber es kam auch vor, dass er an einem Freitag mit einem großen Stapel ankam. Und die jetzigen wären ja vom Freitag: Die Eltern waren gleich nach der Arbeit nach Warschau zu einem Konzert gefahren. Szymek beschloss, wenn es sehr viele Kühe wären, würde er es riskieren, Asterix im Bett, unter der Decke zu Ende zu lesen – er hatte ein Lämpchen in Form eines Kugelschreibers, von Onkel Roch; die Eltern erlaubten zwar nicht, es nachts zum Lesen zu benutzen, aber Asterix war eben Asterix, mit dem würde er ja nicht bis zum Morgen warten.

Sie kamen am Teich vorbei, am verrosteten Anhänger des Doktors, am Bildstock und am Lebensmittelladen von Frau Duszna. Wie immer bellte hinter dem Metallgitter der kleine Hund der Nagórnys.

Die Sonne brannte. Vor ihnen, in der Ferne, verschwamm über dem Asphalt die Welt. Budzik redete. Lange und laut, wie es seine Art war. Später versuchte Szymek jahrelang, sich zu erinnern, worum es dabei gegangen war und ob sie vielleicht etwas falsch gemacht hatten. Er wusste nur noch, dass er doch ein bisschen sauer gewesen war wegen der verlorenen Münzen. Er hätte länger suchen sollen. Vielleicht lagen sie ja noch dort, gar nicht weit von den Gleisen, und es hätte genügt, sich etwas mehr Mühe zu geben?

 

Er erinnerte sich, dass sie sich mit einem normalen Kopfnicken verabschiedet hatten. Dass er noch Budziks Vater gewinkt hatte, der eine dicke Katze mit riesigem, aufgeblähtem Bauch vom Hof vertrieb. Einen Augenblick später war er dann schon vor Großmutters Haus. An der Straße standen drei Autos. Eines gehörte dem Onkel – das glänzende blaue, in dem es immer nach Vanille roch. Die anderen kannte Szymek nicht. Er öffnete das Gartentor und legte die Drahtschleife wieder über den Pfosten.

Langsam scharrte er mit den Schuhen über den Pfad mit den Gehwegplatten. Er wischte die rechte Hand ab, die immer noch mit rotbraunen Streifen bedeckt war. Er griff nach der Klinke. Und so ging alles zu Ende, die ganzen sieben Jahre, von denen er außer den Gleisen und den Kühen später nicht viel erinnerte. An jenem Tag setzte er sich nicht an den Tisch in der Küche und fütterte nicht die Fische. Er las keine einzige Seite des neuen Asterix. Nur den Zeichentrickfilm sah er, aber nicht zu Hause, nicht an seinem Lieblingsplatz auf der Couch, an einen Berg aus größeren und kleineren Kissen gelehnt. Er sah ihn bei Großmutter und erzählte danach niemandem von den schönsten Stellen, und niemand lachte über sie, obwohl sie gar nicht so lustig waren.

Er griff nach der Klinke und ging langsam hinein. Im Haus waren viele Leute. In der Ecke des Zimmers erkannte er Herrn Nagórny, der mit jemandem telefonierte. Er bemerkte, dass Herr Nagórny seine Schuhe anhatte, obwohl Großmutter sonst jeden bat, sie auszuziehen.

Er schloss die Tür, und alle hörten auf zu reden. Ein Mann in weißem Hemd lächelte ihn an und sagte nichts. Aus der Küche kam mit schnellem Schritt Großmutter Tosia auf ihn zu. Ihr Gesicht sah aus wie damals, als er mit Budzik Ninja Turtles gespielt und aus Versehen drei Eierkartons von ihr kaputt gemacht hatte. Sie beugte sich zu ihm und drückte ihm ihre langen Finger auf die Arme.

»Hör zu, Szymek.«


Von der Beerdigung wusste er fast nichts mehr.

Nur einmal fragte er, wo die Eltern seien, er wolle zu den Eltern, wo Mama sei, nur einmal, mit einem schnellen, ununterbrochenen Wortschwall: Wo ist Mama die Eltern ich will zu den Eltern wo sind die Eltern. Dann weinte er nur noch, schrie, stieß Großmutter weg, trat um sich, riss aus, schrie noch lauter, Hals und Kopf taten ihm weh, jemand hielt ihn fest an den Händen, Onkel, Tanten, Nachbarn, alle beugten sich über ihn, legten ihm die Hände auf den Kopf, drückten, küssten ihn, Szymek, Szymek, lieber Szymek.

Antworten wollte ihm keiner. Erst als er sich etwas beruhigt hatte, legte Tante Ala aus der Nummer drei, die ihm einmal ein leckeres Omelett mit Honig gemacht hatte, ihre Stirn an seine und sagte leise, mit geschlossenen Augen:

»Der Allmächtige hat sie zu sich genommen, Schatz. Sie sind jetzt beim Allmächtigen.«

Dann heulte er wieder. Großmutter Tosia sammelte ihn am Bildstock und beim Friedhof auf. Sie sagte nichts, wie es ihre Art war, nahm ihn nur fest an der Hand und guckte vor sich hin. Dann stiegen sie ins Auto, fuhren zur Eisdiele, und sie fragte, ob er Vanille oder Kakao wolle.

Sie saßen auf einer Bank vor dem Rathaus und aßen ihr Eis, sie ein kleines, er ein mittleres, gemischtes, denn bei den mittleren und großen war der Eismann einverstanden, verschiedene Geschmäcker zu mischen. Zum ersten Mal im Leben aß Szymek ein mittleres Eis.

Sie kehrten in Großmutters Haus zurück, und am Abend brachte ihm jemand seine Spielsachen und die Hefte mit Asterix, Lucky Luke und Titus. Keinen Augenblick ließen sie ihn allein; wenn Großmutter nicht da war, dann Tante Ala, wenn nicht Tanta Ala, dann Onkel Michał oder einer der Nachbarn, alle schwirrten sie um ihn herum, fragten, drückten ihn manchmal, sogar Budziks Vater kam; der schwirrte als einziger nicht um ihn herum, fragte nicht, drückte nicht, wie Budziks Vater eben war.

Als sie ihn endlich alleinließen, weil sie dachten, er schlafe, nahm er die wichtigsten Spielsachen und trug sie ins Bad. Großmutter fragte durch die Tür, ob es ihm gut gehe und alles in Ordnung sei, er sagte, es gehe ihm gut; denn in Ordnung war ja nichts mehr. Er öffnete die Waschmaschine und versteckte alle Spielsachen darin. Mit einem Handtuch deckte er sie zu, schloss die runde Tür und ging in sein Zimmer zurück, wo sie schon warteten: Großmutter, Onkel, Großmutters Nachbarin. Dann schlief er wirklich ein, und danach gab es nur noch dieses andere Leben, ohne die Stadt, ohne die Kissenstapel auf der zerknautschten Couch, ohne Fische, ohne Comics, ohne Eltern.


Am nächsten Morgen bat Großmutter ihn, er solle mit ihr zu den Kaninchen und den Wachteln gehen. Es wäre gut, wenn er das alles lernen würde, sagte sie. Sie könne Hilfe gebrauchen. Er wolle doch gern helfen, oder?

Er wollte nicht, doch er nickte. Wachteln mochte er nicht, Kaninchen konnte er nicht ausstehen. Sie waren riesig, tückisch, einmal hatte ihn eines gebissen. Sie liefen in ihren Holzkäfigen umher, manchmal trampelten sie seltsam, manchmal rissen sie aus. Er verstand nicht, wozu Großmutter sie hielt, wozu sie sie fütterte und überhaupt, wozu das alles gut sein sollte: Wasser auswechseln, Köttel beseitigen, Körner streuen – alles sinnlos. Aber er ging mit, stand neben ihr, sah zu, wie sie es machte, hörte zu, wie sie mit ihnen sprach – wenn auch eher mit sich selbst.

Plötzlich heulte er los und setzte sich auf den Boden. Großmutter hob ihn auf und brachte ihn ins Haus, die Kaninchen waren plötzlich unwichtig. Sie machte Kakao für ihn, für sich auch, und sie setzten sich aufs Sofa und schalteten den Fernseher ein.

»Du musst jetzt ganz tapfer sein«, sagte sie nur, und dann schauten sie die Quizsendung an. Szymek trank langsam seinen Kakao, guckte abwechselnd auf den Bildschirm und auf Großmutter und wartete, dass etwas passieren würde, schließlich musste ja etwas passieren. Doch es passierte nichts, weder an jenem Morgen noch an jenem Abend, noch am Tag danach oder in der folgenden Woche. Ein Monat verging, und nichts geschah, es gab nur Großmutter Tosia, Besuch von verschiedenen Onkeln, Tanten, Nachbarn, den Friedhof, die Kaninchen, die Wachteln, den Markt, die Einkäufe in der Stadt, sonst nichts, gar nichts. Manchmal hatte er das Warten satt. Dann konnte er den ganzen Tag weinen, heulen, und nichts half. Er wollte, dass Mama ihn rief, damit er den Holzlöffel ablecken konnte, mit dem sie den Teig für den Schokokuchen rührte. Er wollte, dass Papa ihm erlaubte, am Tisch im Wohnzimmer neben ihm zu sitzen und zuzuschauen, wie er sich mit dem beschäftigte, was die Leute »das ungewöhnlichste Hobby der Welt« nannten; Szymek selbst sah darin nur Zahlenkolonnen.

Es kam auch vor, dass er keine Kraft mehr hatte und sich fühlte, als gäbe es ihn gar nicht mehr: Er saß vor dem Haus oder in seinem Zimmer, das eigentlich gar nicht sein Zimmer war, denn sein Zimmer war zusammen mit seinen Eltern und allem anderen verschwunden; er saß also in seinem-nicht-seinem Zimmer im Haus der Großmutter, starrte zum Fenster hinaus oder auf den Teppich oder einfach vor sich hin und verschwand; doch bald begriff er, dass er für längere Zeit so nicht verschwinden konnte.

An jenem Tag ließ Großmutter ihn vor dem Fernseher sitzen und ging zu den Kaninchen zurück. Später rödelte sie im Haus herum, telefonierte, kochte etwas, als fürchtete sie, auch nur einen Moment lang nichts zu tun. Schließlich machte sie sich ans Wäschewaschen, das heißt, sie wollte es, und dann rief sie plötzlich nach Szymek, und als er nicht kam, kam sie selbst.

»Szymek, warum hast du denn die Spielsachen in der Waschmaschine versteckt?«

Er schnellte vom Sofa auf, lief ins Bad und öffnete die Waschmaschine. Bestimmt waren sie nicht mehr da, bestimmt waren sie weg, aber nein, sie waren da.

Sie setzten sich auf die Treppe, Großmutter auf der Seite des Geländers, er an die Wand, und redeten lange. Er sagte ihr, er wolle das nicht mehr so, sie sollten zurückkommen, bitte, er werde auch brav sein. Er sagte auch, warum und vor wem er das Spielzeug versteckt hatte.


Der Doktor lag in Kleidern da, in den Händen ein zerfleddertes Buch. Seine Beine hingen über das Bett hinaus, das fast die halbe Fläche des Anhängers einnahm – ein ganz normaler Anhänger: Er hatte sich schon lange daran gewöhnt.

Am liebsten wäre er eingeschlafen, ohnmächtig geworden oder hätte sich zu Tode gesoffen. Seit der Beerdigung von Eliza und Telek hatte er kein einziges Mal getrunken, obwohl er es heute eigentlich hätte tun können, heute war sein Geburtstag. Fünfundsechzig, alles Gute, danke. Er dachte daran, zum Laden zu gehen, aber wozu. Hołowczyc würde sicher schon warten, aber Hołowczyc wartete ja immer, er hatte nichts mehr im Leben außer dem Warten vor dem Laden.

Er würde noch etwas liegenbleiben, vielleicht noch ein wenig lesen, er kannte jeden Absatz auswendig, seit mehreren Jahren verschlang er rund um die Uhr immer dasselbe Buch, dieses verdammte, schöne, gefährliche, wunderbare, unscheinbare und herrliche Buch, mit dem alles begonnen hatte.

Wieder einmal dachte er, wäre nicht dieses Buch, wäre da nicht sein idiotischer Wunschtraum gewesen, nach Berlin zu fahren, vielleicht würden Eliza und Telek noch leben. Er hätte am selben Tag fahren sollen, als sie … Nein, das war unmöglich, absurd, unsinnig, unmöglich, doch hatte er sich nicht schon längst an Unmögliches gewöhnt? Egal, was er sich selbst zu erklären versuchte – mitten in einer schlaflosen Nacht würde ihn doch wieder das Gefühl heimsuchen: Szymeks Eltern waren durch ihn verunglückt. Er legte das Buch auf den Boden und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Was wäre gewesen, dachte er, wenn er an jenem Tag nach Berlin gefahren wäre, wenn er sich den einzigen Wunsch erfüllt hätte, den er jemals hatte, wenn er dieses eine Mal etwas anderes getan hätte als das, was getan werden musste.

Er dachte darüber nach, wer er damals hätte werden können, und darüber, wer er vor langer Zeit geworden war. Er war nicht immer der Doktor gewesen. Früher hieß er Michał, und niemand nannte ihn anders. Michał, und die Mutter benutzte sogar die Koseform Michaś, ein paar Mädels übrigens auch. Jetzt war er nur noch der Doktor, wegen jenes einen, verdammten Abends.

An der Tür klopfte es.

Er erhob sich, setzte die Brille auf und öffnete.

Tosia.

Wohl zum ersten Mal seit dem Unfall. Ungeduldig stand sie vor ihm, als hätte er sie schon durch etwas verärgert. Doch das hatte er nicht.

»Kommst du rein?« Er trat zur Seite und machte ihr Platz. Und sprach sie gleich an, etwas leiser: »Wie geht’s dir denn? Kann ich dir irgendwie helfen?«

Sie sagte nichts und sah ihn nur an, mit diesem typischen Blick, den er gut kannte.

»Was machst du?«, fragte sie.

»Was soll ich schon machen?«

Wieder Stille und dieser Blick, dem er am liebsten ausgewichen wäre.

»Du musst mit mir in die Stadt fahren.«

»Jetzt?«

»Ich muss eine Waschmaschine kaufen.«


Ein paar hundert Meter vom Unfallort entfernt fuhren sie auf die Umgehungsstraße, so wie sie jetzt immer aus Chojny wegfahren würden: ein paar hundert Meter vom Unfallort. Hinter der Überführung bogen sie ab in die Stadt. Erst als sie an der Tankstelle vorbeikamen, begann sie zu reden.

»Er hat Angst, dass der Allmächtige ihm die Spielsachen wegnimmt.«

»Wie bitte?«

»Szymek hat Angst. Weil er ihm die Eltern genommen hat, hat er Angst, dass er ihm auch die Spielsachen wegnimmt. Und er hat sie in der Waschmaschine versteckt. Was soll ich machen, ich werd ihn ja nicht zwingen, sie wegzuräumen. Soll er sie einfach da lassen.«

Sie fuhren an der Einfahrt zum Wood-Mizer vorbei, am Rondell bogen sie rechts ab. Hinter dem Militärfriedhof schaute er sie an und sagte:

»Verdammt, Tosia, wenn ich dir nur irgendwie …«

 

Sie winkte ab, als wollte sie ihn loswerden, die Situation loswerden, vielleicht auch alles andere, und den Rest des Weges schwiegen sie.


Die neue Waschmaschine stellten sie oben in den Flur, zwischen das Bad und das Zimmer, das sie für Szymek vorgesehen hatte. Sie trugen sie zu dritt: sie, Michał und Andrzej Budzikiewicz. Die Maschine war im Angebot gewesen, sah ähnlich aus wie die alte, nur ein bisschen rundlicher vorne. Andrzej bastelte lange am Abfluss herum, sagte, der Anschluss sei ein wenig provisorisch, aber für ein paar Wochen würde es reichen, danach müsse man einen Fachmann holen, damit es keine Überschwemmung gäbe. Sie dankte ihm, Michał gab sie einen Kuss auf die Wange, ohne ihm zu danken. Michał dankte man nicht, Michał war halt Michał.

Sie machte sich ans Waschen. Aus dem Bad holte sie die Kleider, warf sie auf den Fußboden. Alles schwarz. Sie verdeckte das Gesicht mit den Händen und atmete tief durch. Das darfst du nicht, Tosia, lass das bloß; sie winkte ab, mit der Hand, an der zwei Finger fehlten, und steckte die Sachen in die neue Waschmaschine. Sie sah auf die Uhr. Halb neun. Im Zimmer nebenan lag Szymek schon im Bett, vielleicht schlief er, vielleicht noch nicht, sie schaute hinein: Er schlief noch nicht.

Er trug eine blaue Schlafanzughose und ein Oberteil, auf dem irgendwelche Märchenhelden abgebildet waren, deren Namen sie würde lernen müssen, so wie sie vieles andere lernen musste, von dem sie keine Ahnung hatte. Er sah zum Fenster hinaus, eine Hand am Heizkörper. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, sie wollte ihn nicht an sich drücken, am liebsten hätte sie wortlos die Tür geschlossen und die Wäsche angestellt. Sie stand an der Tür und betrachtete den zarten siebenjährigen Körper.

Eigentlich hatte sie nur einen Menschen im Leben wirklich geliebt. Den Unsichtbaren, der seit langem dreiundvierzig war und nie älter sein würde. Eliza hatte sie geliebt, natürlich, aber eben, wie man eine Tochter liebt, Andrzej Budzikiewicz hatte sie etwa eine Viertelstunde lang geliebt, an jenem Tag, den sie beide scheinbar vergessen hatten und an den sie sich beide sicher immer erinnern würden. Das war alles. Und jetzt er, dieser kleine Junge, den sie wahrscheinlich mehr bedauerte als liebte, obwohl sie ihn lieben wollte, ihn lieben sollte, schließlich war er ihr Enkel.

»Schläfst du noch nicht, Szymek?«

Er schüttelte den Kopf.

»Weißt du, ich hab eine neue Waschmaschine gekauft, aber die alte lasse ich natürlich da, du kannst dann – na ja, wie du willst. Ich wollte dich fragen, ob es dich nicht stört, wenn ich jetzt die Waschmaschine anschalte. Etwa für eine Stunde.

Sie dachte, er werde nicht antworten. Er sah immer noch zum Fenster hinaus, als wäre sie gar nicht da; als würde man mit sieben Jahren nicht auf die hören, die über siebzig sind.

»Ich glaub nicht.«

»Dann schalte ich sie an. Falls sie dich stört, dann ruf mich, und ich mach sie aus. So wichtig ist Sauberkeit auch wieder nicht.«

Den Satz bereute sie sofort, denn er klang nicht witzig, er klang nach gar nichts, im Übrigen hatte sie noch nie Humor gehabt. Doch Szymek nickte und lächelte ein wenig, wohl zum ersten Mal, seit sie zu zweit waren. Sie lächelte zurück, ging nach unten und schloss sich in dem kleinen Zimmer neben der Treppe ein. Und dann ganz schnell: Couch, Kissen. Sie heulte und schämte sich dafür. Dann ging sie wieder nach oben und machte die Wäsche. Als sie sich endlich ins Bett legte, zählte sie die Tage an den Fingern ab, und ihr wurde klar, dass Michał heute Geburtstag hatte, seinen fünfundsechzigsten.

Fünfundsechzig Jahre. Das konnte doch nicht sein. Sie war doch mit ihm spazieren gegangen, als er gerade sprechen lernte, hatte ihm mit dem Nachtkrabb gedroht, wenn er nicht brav war, hatte mit ihm Kartoffelpuffer gebacken, wenn die Eltern nicht da waren. Sie konnte sich an seinen blonden Schopf erinnern und daran, dass er bei jedem Geräusch am Fenster mit den Achseln gezuckt und gesagt hatte: »Vielleicht ein Smetterlin, vielleicht ein Vodel.«

So ein Junge konnte nicht fünfundsechzig sein, das war erstens albern und zweitens ungerecht. Sie selbst war einundsiebzig, und auch das war ungerecht, einundsiebzig waren alte Damen, aber doch nicht sie. Sie war schließlich ein Kind und lief übers Bett, als die Bomben fielen; sie war ein Mädchen und floh ins Haus des alten Bergbauern Kłoda und kam später zurück, im Heu auf dem Wagen versteckt; sie war eine Frau und lag nackt neben dem einzigen Menschen, den sie im Leben je liebte und dem sie ins Ohr flüsterte: »Mit dir könnte ich sterben.«

Doch plötzlich stand alles Kopf: Der Unsichtbare war verschwunden, dafür war Eliza erschienen, dann kamen Falten, Probleme und Asphalt auf den Straßen von Chojny, ein Mensch nach dem anderen schwand dahin, die Gesundheit und die Kräfte schwanden, an der Wand im Salon verschwand ein Stück Putz, schließlich verschwand auch Eliza, und nur dieser zarte siebenjährige Junge war noch da.


Abends trieb sich der Allmächtige ums Haus herum. Szymek hörte, wie er in den Bäumen rauschte, wie er über das Dach schlurfte, wie er den kleinen Hund der Nagórnys neckte. Er kam nicht jeden Tag. Lange warme Abende mied er. Er mochte lieber schlechtes Wetter. Wind, Regen, am besten Gewitter. Dann tobte er. Er ging ums Haus herum, zerrte an den Dachrinnen, zerbrach Zweige und schlug gegen den Fenstersims. Er wusste, wo Szymeks Zimmer lag. Manchmal hörte der Junge, wie er das Fenster einzudrücken versuchte. Wütend peitschte er den Regen.

Zum ersten Mal war er nach dem Begräbnis der Eltern gekommen. Szymek hörte ihn schon kurz nach Einbruch der Dämmerung. Er schlief nicht und hörte ihn die Mauer entlangstreichen. Der Allmächtige zog leicht am Fenstersims, wie zur Probe, dann schlappte er übers Dach. Szymek hatte Angst, unter der Decke hervorzukriechen, zu schreien, nach Großmutter zu rufen. Reglos lag er da und versuchte nicht zu atmen. Er kniff die Augen zu und horchte. Als die Geräusche verstummten, griff er nach dem Heizkörper und hielt sich daran fest, bis er einschlief. Am nächsten Morgen holte er sich aus der Garage ein Stück weiße Schnur vom Mähbinder; seither band er vor dem Schlafen immer das Bein an einer der dicken, kalten Rippen fest. Es kam vor, dass er nachts aufwachte, wenn die Schnur ihn ins Fleisch schnitt – dann machte er sie im Halbschlaf ab und kroch wieder unter die Decke. Doch meistens schlief er die ganze Nacht durch, angebunden, in Sicherheit.

Ganz deutlich zeigte sich der Allmächtige nie. Szymek nahm ihn aus dem Augenwinkel wahr, oder er sah ihn in der Ferne durch die schwarzen Bäume im Obstgarten huschen. Der Allmächtige war dunkel und hatte keine deutlichen Konturen. Einmal erinnerte er an einen Stachelbeerstrauch, ein andermal wand er sich dicht an der Erde, im wogenden Gras verborgen.

Morgens war er dann weg. Morgens wurde Szymek vom Geräusch der Kaffeemühle geweckt. Großmutter saß mit der Mühle im Sessel, in der Nähe der Treppe; sie drehte wie verrückt, und das Rattern erfüllte das ganze Haus. Den ersten Kaffee trank sie immer draußen, auf der seit Jahren nicht fertiggestellten Terrasse. Aufrecht stand sie auf dem Betonrechteck, den Blick auf die Birken, das Gemüsebeet und den Kaninchenstall gerichtet. Manchmal stellte sie den Kaffee an der Tür ab und stapfte langsam durchs Gras, um sich einen der verdrehten Apfelbäume anzusehen. Dann ging sie zurück und trank weiter. So machte sie es jeden Tag.

Später frühstückten sie. Er musste aufstehen, trotz Ferien. Also stand er auf, doch zum Frühstück musste man angezogen sein, nicht wie zu Hause – zu Hause durfte er eine Weile im Schlafanzug bleiben, und wenn er wollte, und das war immer, bekam er Hefezopf mit Nutella. Hier war nichts zu machen, Nutella gab es nicht, weil ungesund, es gab höchstens verschiedene Marmeladen, alle furchtbar sauer, und so aß er sein Brot mit Wurst oder Pastete, was fast genauso furchtbar schmeckte.

Nach dem Frühstück fuhren sie zum Friedhof. Vor dem Tor kaufte Großmutter zwei Grablichter. Sie tauschte sie gegen die vorherigen aus, auch wenn die noch brannten. Immer rückte sie einen Kranz oder ein Band zurecht, wenn auch nur einen Zentimeter. Sie betete nicht, schloss nur die Augen und stand da, ohne etwas zu sagen. Szymek guckte auf die zwei weißen Schilder, auf denen die Namen Eliza und Telesfor standen, wandte den Blick ab und sah dann rasch, unerwartet wieder hin, aber die Namen auf den Schildern waren immer noch dieselben. Eliza, Telesfor. Wenn sie gingen, wobei sie ihn vor sich herschob, brummte Großmutter vor sich hin:

»Morgen kommen wir wieder.«

Auf dem Heimweg hielten sie manchmal an, um ein Eis zu essen. Sie sprachen nicht viel. Von einigen belauschten Gesprächen wusste Szymek schon, was geschehen war. Er wusste, dass seine Eltern, aus Warschau kommend, kurz vor der Abfahrt von der Hauptstraße aus unbekannten Gründen gegen einen Baum gefahren waren. Er wusste: eine Tragödie, so jung, die Einzige aus Chojny mit einer Ausbildung im Ausland, guter Gott, so ist das Leben.

Wenn sie das Eis gegessen hatten, fuhren sie heim. Großmutter zog sich um und ging zu den Kaninchen. Er mit ihr, weil sie es so wollte. Das musst du lernen, erklärte sie, wenn er sagte, er will nicht, er mag nicht. Er stand hinter ihr, wenn sie immer mit den gleichen Dingen beschäftigt war: Köttel, Körnerfutter, Wasser, Heu, manchmal ein halber Salatkopf, manchmal das Versetzen eines Kaninchens in einen anderen Käfig, um es gleich darauf wieder herauszuholen.

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