Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist

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Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist
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Jan Skudlarek

Die ganze Wahrheit und andere Lügen

Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist

Reclam

Durchgesehene und ergänzte Ausgabe 2021

2019, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961454-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011199-4

www.reclam.de

Inhalt

  Die Wahrheit über das letzte Nudelsieb

  Echte Probleme. Über Wahrheit und Echtheit

  V wie Verschwörung. Über Wahrheit und Manipulation

  Aussage gegen Aussage. Über Fakten, Wissen, Psyche

  Die realen Folgen. Über Wahrheit und Gesellschaft

  Guter Zweifel, schlechter Zweifel

  Nichts als die Wahrheit. Verteidigung eines sozialen Wahrheitsbegriffs

  Ein Ende ohne letzte Wahrheit: Abschlussbemerkungen

»Erklärungen gibt es und hat es seit ewigen Zeiten gegeben; stets weiß man für jedes menschliche Problem eine Lösung – sauber, einleuchtend, und falsch.«

Henry Louis Mencken

»Zwei mal drei macht vier,

widewidewitt und drei macht neune,

ich mach mir die Welt,

widewidewie sie mir gefällt.«

Pippi Langstrumpf

»Glaube nicht alles, was du im Internet liest.«

Ludwig Wittgenstein

Die Wahrheit über das letzte Nudelsieb

Berlin. Es ist das Jahr 2089. Ein Nuklearkrieg hat die Menschheit tragischerweise vernichtet. Alles ist in Schutt und Asche gelegt. Alles? Fast alles. Wie durch ein Wunder hat ein Nudelsieb (Edelstahl, Made in Germany) die Apokalypse halbwegs intakt überlebt. Einsam und verlassen liegt es in den Ruinen der ehemaligen Hauptstadt. Keine Menschenseele weit und breit. Es ist kalt. Staubig. Niemand macht mehr Nudeln.

Die Preisfrage dieses philosophischen Gedankenexperiments: Ist das, was da in den Ruinen liegt, überhaupt noch ein Nudelsieb? Aus unserer Perspektive: klar. Ein Nudelsieb ist ein Nudelsieb. Immer. Das Problem an der Sache: Uns hat niemand gefragt. Wie auch? Wir sind nach dem Weltuntergang ja gar nicht mehr da.

Das ist eine Tatsache.

Eine Tatsache ist allerdings auch: Objektiv betrachtet ist ein Nudelsieb nur ein Stück Metall mit Löchern. Oder verbirgt sich die Wahrheit etwa unter der Oberfläche? Gibt es eine Wahrheit jenseits der Beschreibung? Wann ist etwas tatsächlich genau so, wie es scheint? Gar nicht so einfach zu beantworten. Anscheinend.

Wir sehen: Die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit betrifft selbst ein Stück löchriges Metall, Apokalypse hin oder her.

Das Nudelsieb-Gedankenexperiment stellt uns vor ganz grundlegende philosophische Fragen:

 Was ist Wahrheit?

 Wie beschreiben wir die Wirklichkeit?

 Hängt Sinn immer von der Perspektive ab?

Fest steht: Schon heute steht anscheinend nichts mehr fest. Wir brauchen gar keine Apokalypse, um in Schwierigkeiten bei der Deutung der Welt zu geraten. Die Wahrheit steht Anfang des 21. Jahrhunderts wieder einmal unter Beschuss.

Oder scheint es nur so?

Die Meinungen gehen auseinander. Nicht primär die Meinungen über Nudelsiebe, aber über so ziemlich alles andere. Klimawandel, Migration, Visionen von Gegenwart und Zukunft. Was den einen als Fakt gilt, gilt den anderen als Verschwörungstheorie. Millionen Menschen fühlen sich von »den Medien« belogen, Millionen andere vom US-Präsidenten (oder der Bundeskanzlerin). Überall nur Lug und Trug und Unwahrheit. Vertrauen ist im 21. Jahrhundert ein knapper, wertvoller und entsprechend begehrter Rohstoff geworden.

Sie, lieber Leser, denken sich wahrscheinlich:

»Wahrheit? Nudelsiebe? Was hat das alles mit mir zu tun? Sollen die doch machen, was sie wollen. Sollen die Leute doch für wahr befinden, was sie wollen. Sollen sie lügen, dass sich die Balken biegen. Alternative Fakten sind doch auch irgendwie Fakten. Gefühlte Wahrheiten auch irgendwie Wahrheiten. Nicht wahr?«

Nein! Ich widerspreche!

Stattdessen vertrete ich eine steile These. Mehrere sogar. Sie lauten: Wahrheit gibt es. Echtheit auch. Es gibt bessere und schlechtere Beschreibungen der Wirklichkeit. Und Verschwörungstheorien sind unwahr, sind gemeingefährlicher Quatsch – Quatsch, den wir ein Stück weit zu glauben veranlagt sind, aber das macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil!

Ich sage: Die Wirklichkeit bleibt nach wie vor erkennbar. Ich sage: Die Welt bleibt beschreibbar. Ich sage: Angemessen zu zweifeln kann man lernen.

Wer das Gegenteil behauptet, lügt.

Diagnose Wahrheitsschwund

Wenn jede Zeit ihre Diagnose hat, lautet die unsere wohl: Wahrheitsschwund. Die Gewissheiten vergangener Jahrhunderte lösen sich mit beeindruckender Geschwindigkeit auf – in einem antifaktischen Strudel aus Zweifeln, Un- und Halbwahrheiten. Das Vertrauen in Wissenschaft, Presse, Fakten und Experten ist heute überraschend fragil und vor allem überraschend schnell fragil geworden. Mit beängstigendem Tempo verlassen uns disziplinenübergreifend die Sicherheiten. Zumindest gefühlt.

Beispiele?

Gerne.

Beim Bau des Wiener Krankenhauses Nord kam es 2018 zu einem Eklat. Für fast 100 000 Euro war ein »Bewusstseinsforscher« engagiert worden, um das Gelände »energetisch zu reinigen«. Der Esoteriker – ein ehemaliger Autohändler – habe einen Schutzring um die Gebäude gelegt, »der verhindert, dass negative Energien des Umfelds Einfluss auf das Haus und die Menschen darin nehmen«.1

So ein Quatsch? Sicherlich. Aber kein Einzelfallquatsch.

In Deutschland wiederum wachsen laut Verfassungsschutzbericht der Einfluss und die Zahl der sogenannten Reichsbürger. Das sind Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland anzweifeln (!), die Zahlung von Steuern verweigern, auf ihren Privatgrundstücken eigene Staatsgebiete ausrufen (!!) und sich nicht selten mit mehr oder weniger rechtsextremer Gesinnung bis an die Zähne bewaffnen (!!!). Ihre Zahl geht in die Zehntausende.

In die Millionen gehen die Wähler der sogenannten »Alternative für Deutschland« (AfD). Die vermeintlich gesteuerte Presselandschaft (»Lügenpresse«), ein angeblicher Bevölkerungsaustausch durch Migration (»Umvolkung«), die militante Leugnung des Klimawandels – die rechtsnationale Partei und ihre Wähler bieten seit Jahren einer beeindruckenden Bandbreite von Verschwörungstheorien ein demokratisches Zuhause.2

Unsinn, für den man vor wenigen Jahren noch ausgelacht oder aus einer Partei geworfen wurde (oder man hat es wenigstens versucht, siehe Panikmacher Sarrazin), wird heute erschreckend selbstbewusst vertreten. Der Publikumsliebling und Hobbyverfassungsrechtler Xaiver Naidoo reimt »Volksvertreter« auf »Volksverräter«.


© Hauck und Bauer

Der Schutzpatron der aggressiven Unwahrheit heißt natürlich: Donald Trump. Kaum ein anderer Politiker in der Geschichte hat jemals so viel dafür getan, Unsagbares und Unsägliches sagbar zu machen. Ob auf Twitter oder im Interview: Wahr ist für Trump stets nur das, was Trump persönlich für wahr erklärt. Alles andere ist, aus seiner Sicht, Lüge und Verschwörung. Wer ihm widerspricht, wird zum Verräter deklariert. Die Medien? »Der wahre Feind des Volkes«, so Trump. Wirklich kein einziger Monat des Jahres 2018 verging ohne Fake-News-Tweets des Präsidenten (in 500 Tagen an der Regierung soll er mehr als 3000 Mal die Unwahrheit gesagt haben).3 Ein antifaktischer Wind weht durchs Weiße Haus.

Nicht nur die Liebe zum Antifaktischen ist ansteckend.

In Deutschland sind zwischen 2007 und 2017 etwa 190 000 Menschen an Krankheiten gestorben, gegen die man hätte impfen können.4 Geradezu virulent ist die Zahl der selbsternannten »Impfgegner«. Viele von ihnen: Knallharte Anhänger von Verschwörungstheorien. Sie machen Experten zu korrupten Scharlatanen und die Wirksamkeit medizinischer Stoffe zur Glaubensfrage. Zwischen 2016 und 2017 verdreifachten sich die Masernfälle in der EU.5 Im Januar 2019 erklärte die WHO Impfgegner zur globalen Bedrohung.6

Das Internet? Eine Echokammer der Konspiration. Auf YouTube raten medizinische Laien bei gefährlichen Krebsarten zur Rohkostdiät statt zu Chemotherapie. Kondensstreifen werden zu Giftangriffen (»Chemtrails«) umgedeutet. War vor wenigen Jahren noch der 11. September unangefochtenes Steckenpferd sämtlicher Verschwörungstheoretiker, findet sich nun zu jedem noch so kleinen Zwischenfall ein Video oder ein Blogeintrag, der sich die »offizielle Story« vornimmt. Sogar das jahrhundertealte Konzept einer kreisrunden Erde: Für die sogenannten flat earther hat die Erde noch Pfannkuchenform. Wer das Gegenteil behauptet: Teil der Verschwörung (doch bevor Sie jubeln, weil Sie mich beim Fake-News-Verbreiten erwischen: Ich gebe es zu; unser Planet ist keineswegs kreisrund; er ist oval, kartoffelförmig).

 

Für viele scheint aber mittlerweile nichts so, wie es scheint. Eine Aura der Fälschung umgibt die Gegenwart.

Selbst die Geschichte ist nicht sicher.

Literatur zur Holocaustleugnung? Bekommt man auf Amazon.7 Ein Verlag, dessen Namen man leicht mit dem eines Fußballtrainers verwechseln könnte, verdient Millionen mit dubioser Literatur über die angeblichen Machenschaften der Mächtigen. In ihrer Gedankenwelt ist Angela Merkel entweder eine Marionette, das Mastermind hinter der »Umvolkung« oder die Galionsfigur des »Merkelregimes« – oder gleich alles zusammen.

So oder so: Das Geschäft mit der Angst läuft gut. Mehr noch: Es läuft blendend.

In den Vereinigten Staaten ist Alex Jones wiederum eine der einflussreichsten Internetpersonen. Vor ein paar Jahrhunderten wäre er als verrückter Wanderprediger durch die Gegend gezogen. Heute bespielt der cholerische Lügenbaron mit seiner Mischung aus Verschwörungstheorien und Hetzkampagnen die halbe US-amerikanische Mittelschicht. Beeinflusst Wahlen. Diejenigen, die an seinen Lippen hängen, kriegen wahlweise Konstrukte serviert, wonach die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zum Beispiel einen Kinderpornoring aus einer Pizzeria heraus betreibt (»Pizzagate«), Satanisten die USA bedrohen, die Regierung das Wetter kontrolliert, diverse Terroranschläge mitverantwortet oder Amokläufe an Schulen inszeniert (mit Unterstützung einer komplizenhaften Presse); Letzteres nur, um in der Öffentlichkeit Stimmung gegen harmlose Waffenbesitzer zu machen. Und solche Kopfgeburten sind keineswegs Randerscheinungen, sondern seit Jahren tief verwurzelt im Mainstream. Donald Trump besuchte die Sendung des Königs aller Verschwörungstheoretiker Jones während des Wahlkampfes 2016 und meinte brüderlich: »Dein Ruf ist fabelhaft. Ich werde dich nicht enttäuschen.« Und so kam es. Alex Jones wurde nicht enttäuscht, sondern zum wichtigsten Megafon rechtskonspirativer Ideen in Trumps Amerika.8

Wir stellen fest: Immer weniger Menschen sind willens, geschweige denn fähig, zwischen Fakten und »alternativen Fakten« zu unterscheiden, wobei Letztere oft nicht mehr sind als eine dreiste Form der Täuschung. Wie man es auch dreht und wendet: Die Wahrheit steht unter Beschuss. Wir sehen Verschwörungstheorien an allen Ecken und Enden. Lächerliche und weniger lächerliche Unwahrheiten werden salonfähig gemacht von denen, die von diesen profitieren.

Manche Unwahrheiten, Dümmlichkeiten und Manipulationsversuche haben eine irgendwie faktische Grundlage (wie unser Nudelsiebproblem, das sich ja auf ein tatsächlich vorhandenes Stück Metall bezieht). Andere sind geradewegs hirnrissig. Allen gemein ist der Kampf um die passende Beschreibung der Wirklichkeit. Deshalb ist der Kampf um Wahrheit auch ein Kampf um Worte. Weil Worte etwas bedeuten und selbst hinter ähnlichen Begriffen niemals identische Konzepte stehen.

Grundfrage dieses Buches ist konsequenterweise die Frage nach der angemessenen Beschreibung der Wirklichkeit. Wir werden ihr in verschiedenen Facetten begegnen. Sei es in Form einer philosophischen Erörterung des Begriffes der Echtheit oder sozialpsychologisch gegründeten Antworten auf die Frage, was Menschen an Verschwörungstheorien so attraktiv finden. Im Zentrum steht dabei immer die menschliche Erkenntnis sowie gleichermaßen unser Bedürfnis, an ihr zu zweifeln. Es geht um die ganze Wahrheit – und um andere Lügen.

Echte Probleme. Über Wahrheit und Echtheit
Über Leder und Polizisten

Als Martin Nilsen den Bootssteg betritt, ist es Hochsommer. Ende Juli. Am Himmel sind ein paar Wolken zu sehen. Das Wetter ist warm, aber nicht heiß. Ein ganz normaler Sommertag in Norwegen.

Ich bin hier, um auf der Insel nach dem Rechten zu sehen.

Monica Bøsei mustert den Fremden.

Mitte dreißig, ein Mann von normaler Statur. Geheimratsecken.

Frau Bøsei trägt die Verantwortung für alles, was auf der Insel geschieht, zu der die Fähre vom Bootssteg aus ablegt. Sie entscheidet, wer kommen darf. Auch an diesem Freitag.

Martin Nilsen trägt eine Polizeiuniform und wirkt ernst. Die Situation ist auch ernst. Neunzig Minuten zuvor ist eine Bombe im Osloer Regierungsviertel explodiert. Es gibt Berichte über Tote. Monica Bøsei zögert zunächst, dann gewährt sie dem Osloer Polizeibeamten die Überfahrt zur Insel.

Zu diesem Zeitpunkt findet dort ein politisches Sommercamp mit etwa 600 Teenagern statt.

Das Boot legt ab.

Die Wahrheit: Martin Nilsen ist nicht Martin Nilsen. Er ist auch kein Polizist. Der Mann, der sich als Martin Nilsen vorstellt und eine Polizeiuniform trägt, ist ein Terrorist.

Er heißt Anders Behring Breivik.

Die Bombe im Regierungsviertel war von ihm gelegt worden.

Nach der Überfahrt zur Insel tötet er Monica Bøsei sofort und ermordet weitere 68 Menschen auf der Insel Utøya. Über 100 verletzt er.

Breivik durfte die Insel Utøya betreten, weil er wie ein echter Polizist auftrat.

Wie erkennen wir, was echt ist und was nicht? Was heißt das überhaupt: »echt«?

Echtheit und Wahrheit sind zwei Früchte vom selben Baum, dem Baum der Wirklichkeit. Beide Früchte hängen mit der menschlichen Wahrnehmung zusammen. Wenn etwas echt oder unecht ist, heißt das nicht zuletzt, dass wir es als echt oder unecht erkennen. Echtheitsfragen sind Wahrheitsfragen. Deshalb spielt das Problem der Echtheit im Folgenden eine wichtige Rolle.

Fangen wir vergleichsweise einfach an.

Können Sie echtes Leder von Kunstleder unterscheiden?

Auf theoretischer Ebene sicherlich.

Die Theorie geht so: Echtes Leder ist gegerbte und mit Chemikalien haltbar gemachte Tierhaut. Sie stammt, nun ja, von einem echten Tier. Zum Beispiel von einem Rind oder einem Kalb, das, wie alle Lebewesen, durch Zeugung entstanden und durch Zellwachstum herangewachsen ist, bis es schließlich von Menschen geschlachtet und gehäutet wurde.

Kunstleder war nie Bestandteil eines Lebewesens. Deswegen können Tierfreunde es bedenkenfrei tragen. Kunstleder ist nämlich – hier kommt die Pointe – kein echtes Leder. Es besteht aus Textilien, die mit einer Kunststoffschicht überzogen werden, um wie echtes Leder zu wirken.

In der Theorie ist der Unterschied einfach zu erkennen.

In der Praxis sieht das schon ganz anders aus.

Kennt man sich nicht so gut aus, ist es nicht einfach, echtes Leder von Kunstleder zu unterscheiden. Zumindest nicht auf Anhieb. Stellen wir uns eine Fußgängerzone vor: Zehn Passanten laufen vorbei. Sie tragen Jacken, Handtaschen, Schuhe, Gürtel. Manche davon aus echtem Leder, die anderen nicht. Von nahem sieht das geschulte Auge den Unterschied. Wer sich dafür nicht so interessiert, wird den Unterschied eher nicht erkennen.

Und genau das ist der Sinn der Sache!

Im Ladengeschäft verhält sich das dann wieder anders. Der Kenner weiß nämlich: Echtes Leder ist teuer. Weil es eben aufwendig ist, ein Tier zu züchten und dessen Haut fachgerecht zu Lederstoffen weiterzuverarbeiten. Kunstleder ist da billiger. Auch die Haptik ist anders. Leder und Kunstleder fühlen sich unterschiedlich an. Der Unterschied ist sogar zu riechen (Kunstleder riecht oft chemisch).

Was lernen wir vom Leder?

Es kommt auf die Umstände an. Den Gesamtkontext. Wie nah sind wir dran? Was können wir überhaupt erkennen? Was wissen wir? Echtheit und Unechtheit erfassen wir mit den Sinnen. Wir sehen, fühlen, riechen. Ziehen Schlüsse auf Grundlage dieser Eindrücke. Das Erkennen der Wirklichkeit ist ein körperliches und ein gedankliches Erkennen.

Stoffliche und soziale Echtheit

Es geht um Schein und um Sein. Und es geht nicht nur um Leder. Das Prinzip, das sich beim Unterschied zwischen Leder und Kunstleder zeigt, ist das Prinzip der stofflichen Echtheit. Ein Ding X ist das, was es ist, weil es stofflich so beschaffen ist, die Definition von X zu erfüllen. Nur weiterverarbeitete Tierhaut ist Leder, so will es unsere Definition. Der echte Stoff eben.

Genug geledert.

Stoffliche Echtheit gilt für allerlei Dinge. Ein Diamantring mag auf dich und mich wie ein Diamantring wirken – ein echter Diamant ist es nur dann, wenn der Stein ein natürlich entstandenes Mineral ist, eine bestimmte Dichte und Härte aufweist, seltene optische Eigenschaften verkörpert und so weiter. Strass, also kunstvoll geschliffenes Glas, kann für Laien aussehen wie Diamant.

Oder denken wir an Gold. Gold ist nur dann Gold, wenn es die von uns anerkannten Gold-Eigenschaften besitzt – also nicht nur die typische Farbe, sondern einen Schmelzpunkt bei 1064 °C usw. Es ist bekanntlich nicht alles Gold, was glänzt (es gibt eine eigene Debatte in der Philosophie, ob das, was wir auf fremden Planeten für Wasser halten, tatsächlich Wasser ist und warum).

Als ersten Punkt können wir festhalten: Zwischen »echt« und »unecht« besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung. Wenn wir ein Ding X (fälschlicherweise) für ein Ding Y halten, dann deswegen, weil zwischen Ding X und Ding Y eine augenscheinliche Ähnlichkeit besteht. Diese Ähnlichkeitsbeziehung bedingt die Verwechslungsgefahr. Wir verwechseln z. B. Plastikpflanzen mit echten Pflanzen. Weil sie sich ähnlich sehen und weil sie sich ähnlich sehen sollen. Dinge, die sich nicht ähnlich sehen, verwechseln wir nicht (z. B. verwechselt niemand einen Schlüsselbund mit einem Stuhl oder eine Waschmaschine mit einem Zeppelin). Doch: Schein und Sein liegen bisweilen nah beieinander.

Auf der Suche nach dem Wesen der Echtheit stellen wir fest: Optische Ähnlichkeit reicht allein nicht aus. Was echt aussieht, ist es nicht unbedingt auch.

Diese Einsicht ist weniger trivial, als man vielleicht meint. Immerhin beurteilen wir sehr vieles im Leben erst mal nach dem Aussehen. Man soll aber ein Buch nie nur nach seinem Umschlag bewerten – das kann bitteres Erwachen bedeuten, wenn der Schein trügt.

Jenseits stofflicher Echtheit gibt es weitere wichtige Fälle von Echtheit und Unechtheit. Fälle, in denen die rein physische Beschaffenheit nicht ausschlaggebend ist wie etwa bei Gold.

Ich spreche von sozialer Echtheit.

Einen echten Juristen z. B. erkennt man nicht daran, dass er besonders groß oder klein ist oder einen Schmelzpunkt von 1064 °C hat. Du bist ein echter Jurist, wenn du die in deinem Land übliche juristische Ausbildung erfolgreich absolviert hast. Die verantwortlichen Institutionen verleihen dir den Status »Jurist«.

Ganz ähnlich ist es mit anderen sozialen Rollen. Vor allem Berufe haben Echtheitskriterien. Für viele von ihnen gelten klare Regeln, wer sich wann wie nennen darf. Polizist, Arzt, Ingenieur, Richter, Psychologe, KFZ-Mechaniker – alles Berufe, bei denen die Gesellschaft regelt, wer unter welchen Umständen so auftreten und sich so nennen darf.

Der Zusammenhang von Sein und Schein ist bei sozialer Echtheit mehrdeutiger als bei stofflicher. Einerseits gibt es Merkmale, die uns darauf hinweisen, mit wem wir es zu tun haben. Nicht immer, aber durchaus häufig. Polizisten tragen Uniform, Richter eine Robe, Ärzte oft Weiß. Andererseits ist der Status (also das echte Sein) nicht an den Schein gebunden. Ein Polizist ist immer noch ein Polizist, wenn er seine Uniform auszieht, der Arzt ein Arzt, wenn er im Schwimmbad ist, der Richter ein Richter, wenn er keine Robe trägt, sondern ein Nachthemd. Anders herum bin ich noch kein echter Polizist, Arzt oder Richter, nur weil ich die entsprechende Kleidung trage. Uniformen repräsentieren die Rollen und Funktionen. Sie sind es nicht.

Ohne Regeln, die soziale Echtheit garantieren, könnte ich heute aufstehen, einen Kittel anziehen und mich »Arzt« nennen. Das könnte jedoch üble Konsequenzen haben: Ich könnte Menschen verletzen, ja, für ihren Tod verantwortlich sein. Bevor also jemand zu Schaden kommt, sollten wir lieber auf solche Experimente verzichten. Doch nicht alle halten sich an gesellschaftliche Echtheitsregeln (trotz hoher Strafen für Amtsanmaßung, Betrug usw.).

Immer wieder kommt es zu spektakulären Fällen von Betrug und Hochstapelei. So arbeitete Gert P., gelernter Postzusteller aus Bremen, in den 1980er und 1990er Jahren bei mehreren Arbeitgebern als leitender Arzt. Mit einer Mischung aus angelesenem Wissen, Urkundenfälschung und dreister Lüge gelang es ihm, sich gegen andere, angemessen qualifizierte Bewerber durchzusetzen. Er war jeweils mehrere Monate lang als Facharzt für Psychotherapie tätig, sogar als Oberarzt; er schrieb Rezepte und Gutachten. Durch sein selbstsicheres Auftreten dauerte es, bis jemand Verdacht schöpfte.

 

Zu keinem Zeitpunkt war Gert P. ein echter Arzt.

Auch wenn er sich zeitweise so verhielt.

Er verhielt sich wie ein echter Arzt.

Zwei Fälle von (Un-)Echtheit

Rachel Dolezal war bis 2015 Lehrbeauftragte für afroamerikanische Studien an der Eastern Washington Universität und darüber hinaus aktiv in der schwarzen Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Es kam zu einer Kontroverse, als die Öffentlichkeit erfuhr, dass Dolezal – eine sympathisch wirkende Frau mit hellbrauner Haut, die stets behauptete, einen schwarzen Vater und eine weiße Mutter zu haben – keinerlei »echte« schwarze Abstammung vorweisen kann. Ihre Eltern sind beide weiß. Ihre Haut: offenbar gebräunt. Sich als Afroamerikanerin auszugeben, ohne eine solche zu sein, kostete sie ihren Lehrauftrag und ihre Rolle in der afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisation. Ein Shitstorm in den sozialen Medien war die Folge, und Dolezal wurde zur Persona non grata. Rachel Dolezal bleibt bis heute bei ihrer Behauptung, sie sei »eigentlich schwarz«.

***

Was haben einige Gemälde von Max Ernst, Heinrich Campendonk und Fernand Léger miteinander gemein? Sie wurden alle vom selben Maler gemalt. Wolfgang Beltracchi. Besser gesagt: Gefälscht. Der als »Jahrhundertfälscher« geltende Beltracchi hatte über Jahre hinweg nahezu perfekte Bilder in den Stilen bekannter Maler gefälscht – und natürlich leicht verkauft. Insbesondere die verantwortlichen Experten und Gutachter waren fest davon überzeugt, unentdeckte oder verschollene Bilder wichtiger Künstler vorliegen zu haben. Die Wahrheit: Beltracchi malte alles selber, ergaunerte sich auf diese Weise Millionen. Schlussendlich flog alles auf, weil er versehentlich einen Weißton benutzt hatte, der modernes Titanweiß enthielt und somit nicht in die angegebene Entstehungszeit passte. Der echte Kunstfälscher Beltracchi, der einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursachte, wurde 2011 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Mittlerweile ist er aus der Haft entlassen. Durch die Kombination aus seinem beachtlichen handwerklichen Können und seinem Ruf als ehemaliger Meisterfälscher ist heute ein »echter Beltracchi«, also ein ungefälschtes Bild von ihm selbst, ordentlich viel Geld wert.

Die Ähnlichkeitsbeziehung, die den Unterschied zwischen »echt« und »unecht« macht, lag in diesem Fall auf der Verhaltensebene. Weil ich mich wie ein Arzt verhalte, bin ich noch lange keiner. Zur sozialen Echtheit gehört, dass ich die Herkunftskriterien erfülle, die zur jeweiligen Rolle gehören. Soll heißen: Die Geschichte. Für den Fall des Mediziners heißt das: Der Mediziner gilt deshalb als echter Doktor, weil er ein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hat, Arzt im Praktikum war, sein zweites Staatsexamen abgelegt und vielleicht sogar eine Doktorarbeit geschrieben, also den Anforderungen entsprochen hat, die man erfüllen muss, um den Titel tragen zu dürfen. Das ist seine berufliche Geschichte. (»Echter Doktor« bin ich übrigens auch, und wenn Sie diese Zeilen lesen, befinden Sie sich ja offensichtlich bereits in meiner Behandlung.)

Wir sehen: Soziale Echtheit hat institutionelle Aspekte.

Es ist sogar denkbar, dass ein unechter Arzt im Ausnahmefall seine Patienten besser behandelt als ein echter. Sehr unwahrscheinlich, weil die jahrelange Ausbildung zum Arzt (oder Anwalt oder Polizist) natürlich keine Schikane ist, sondern notwendiges Fachwissen vermittelt. Dennoch können wir uns einen Einzelfall vorstellen, in dem ein Hochstapler, der ein paar medizinische Bücher gelesen hat, beispielsweise eine seltene Krankheit – sei es aus Zufall oder Talent – richtig diagnostiziert.

Kuriose Ausnahmen von dieser Regel gab es mehrfach auch in Wirklichkeit: Ein gewisser Ferdinand Waldo Demara war als falscher Schiffsarzt während des Koreakrieges im Militäreinsatz und offensichtlich so dreist (und irgendwie talentiert), verwundete Soldaten mit Hilfe eines quasi als Spickzettel aufgeschlagenen Fachbuchs zu operieren – und erstaunlicherweise ist niemand gestorben. Die Endstufe des learning by doing, quasi. Irgendwann landete Demara dennoch im Gefängnis.

Durch eine erfolgreiche Behandlung oder auch durch Monate oder Jahre erfolgreicher Behandlungen wird ein Betrüger allerdings niemals zum echten Arzt. Für eine solche soziale Echtheit reicht es nicht aus, Handlungen so auszuführen, wie sie auch ein echter X ausführen würde. Entscheidend ist nämlich auch und vor allem die Herkunft bzw. der geschichtliche Kontext. Gemeint ist die Ausbildungsgeschichte der Menschen und die Geschichte des institutionellen Beiwerks ebenjener Ausbildung (Zeugnisse usw.). Lange Rede, kurzer Sinn: Echte Zeugnisse kommen von Universitäten. Nicht aus meinem Drucker.

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