1920er Jahre. 100 Seiten

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1920er Jahre. 100 Seiten
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Jens Wietschorke

1920er Jahre. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961688-9

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020571-6

www.reclam.de

Inhalt

  Krise und Experiment

  Instabilität und Gewalt

  Schieber, Cliquen und Propheten

  Geschlechterordnungen und die »neue Frau«

  Rationalisierung und Vernetzung

  Mehr als nur Bauhaus

  Massenkultur und Unterhaltung

  Pathos, Nonsens und Sachlichkeit

  Rasante Informationen

  Die Metropole

  Ein Jahrzehnt im Rückspiegel

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zum Autor

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Mata Hari. 100 Seiten


Krise und Experiment

Im Mai 2019 wurde die dritte Staffel von Babylon Berlin abgedreht – einer Krimiserie, die auf den erfolgreichen historischen Romanen Volker Kutschers basiert und im Berlin der ausgehenden 1920er Jahre spielt. Sie zeigt eine Metropole der Spannungen und der krassen Gegensätze: »Rauschhafter Exzess und extreme Armut, Emanzipation und Extremismus« kommen in Babylon Berlin zusammen, verspricht der Sender Sky in seiner Kurzbeschreibung. »Die deutsche Hauptstadt ist eine Weltmetropole der Verlockungen und Abgründe.« Der riesige Erfolg der mehrfach preisgekrönten Serie der Regisseure Tom Tykwer, Achim von Borries und Hendrik Handloegten hat nicht nur mit dem überaus spannenden Plot zu tun, sondern auch mit der anhaltenden Faszination, die die 1920er Jahre bis heute ausstrahlen. Die kurze Periode zwischen zwei großen historischen Katastrophen, dem Ersten Weltkrieg 1914–1918 und der NS-Diktatur 1933–1945, war eine schwierige Zeit, in der viele alte Sicherheiten wegbrachen. Eben darum bot sie sich aber auch als Versuchslabor für Neues an. Wenn sich der Kommissar Gereon Rath und die Stenotypistin Charlotte Ritter in der Serie durch die Unterwelten der deutschen Hauptstadt kämpfen, dann sind die populären Bilder der Goldenen und der verruchten 1920er Jahre immer mit dabei. Aus ihrem Stoff sind die großen Erzählungen von einem Leben zwischen Aufbruchs- und Untergangsstimmung, zwischen Hoffnung und Scheitern, gemacht.


Eine Szene aus der ersten Staffel von Babylon Berlin

Die 1920er sind eigentlich immer gefragt. Und dabei sind historische Themen in meinem Fach, der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität München, bei den Studierenden nicht gerade die beliebtesten. Vielen ist das 19. Jahrhundert zu weit weg, der Nationalsozialismus zu düster, die Nachkriegszeit zu farblos. Doch wenn ich ein Seminar zu einem Thema der 1920er Jahre anbiete, fallen die Reaktionen eigentlich immer anders aus: Die Roaring Twenties wecken Interesse. Mit dieser Zeit verbinden fast alle etwas: Jazz und Swing, Cole Porter und Josephine Baker, Jean Cocteau und Gertrude Stein, Magnus Hirschfeld und Marlene Dietrich, Prohibition und Cosa Nostra, Sacco und Vanzetti, das neue Nachtleben in den Metropolen, der Rundfunk und der Tonfilm. Dada, Expressionismus und Berlin Alexanderplatz, Lenin, Hindenburg und Mussolini, die politische Mobilisierung von rechts und von links, die ganze Unruhe, Nervosität und Explosivität der damaligen Gesellschaft. Im Jahrzehnt zwischen Revolution und Wirtschaftskrise scheinen sich die sozialen Probleme und die kulturellen Möglichkeiten der Moderne zu verdichten. Innerhalb weniger Jahre wurden diverse Optionen sozialer und politischer Ordnung durchgespielt, die an die Stelle der im Ersten Weltkrieg untergegangenen Monarchien treten sollten: vom autoritären Führerstaat bis zur Anarchie, von völkischen Gemeinschaftsideologien bis zum Kommunismus. Und so intensiv wie selten prägten diese Fragen auch die Entwicklungen der Architektur und der Kunst, der Literatur und der Populärkultur.

Wenn sich die politische Geschichte so unmittelbar in der kulturellen Produktion abbildet, wird sie greifbar. Kürzlich, in einem meiner Seminare zur populären Musik der Zwischenkriegszeit, gingen die Studierenden begeistert daran, Querverbindungen zwischen den Musikstilen und Modetänzen sowie den politischen und alltagskulturellen Entwicklungen der Zeit herzustellen. Wir fragten nach den gesellschaftlichen Kontexten der populären Nonsens-Schlager der frühen Weimarer Republik oder überlegten anhand des Wandels der Singstimme und des neuen Phänomens des crooning, wie sich Geschlechterbilder innerhalb weniger Jahre merklich veränderten. Es wurde deutlich: Die 1920er sind uns erstaunlich nahe. Modern war die Welt schon vorher, aber die Moderne der 1920er Jahre spricht uns stärker an. Sie steht für die Befreiung von Konventionen, für das ironische Spiel mit den gesellschaftlichen Möglichkeiten.

Und sie steht für einen attraktiven Stil. Nicht ohne Grund feiert Max Raabe mit seinen eleganten Chanson-Remakes enorme Erfolge, wird in den Ballsälen Berlins oder Wiens Swing getanzt, werden in Anlehnung an den 1925 erschienenen Roman The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald heute Gatsby-Partys veranstaltet. In Woody Allens Film Midnight in Paris (2011) unternimmt die Hauptfigur Gil Pender alias Owen Wilson mit Begeisterung Zeitreisen in die Pariser Années folles. Auch die Warenwelt der 1920er zieht uns magisch an: Im Januar 2019 wurde angekündigt, dass das Karstadt-Kaufhaus am Berliner Hermannplatz wieder im Stil der 1920er Jahre umgebaut werden soll, mitsamt der berühmten Art-Déco-Fassade, die eine Attraktion der Weimarer Republik war. Und in dichter Folge erscheinen derzeit Bildbände und Großstadtcomics über die 1920er: etwa die Trilogie Berlin von Jason Lutes, der Bildkrimi Berlin 1931 vom spanischen Duo Felipe H. Cava und Raùl oder das Album Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger von Robert Nippoldt und Boris Pofalla.

Für alle Vintage-Fans sind die 1920er also eine wahre Fundgrube. Glanz und Glamour, eine auf Hochtouren Neues produzierende Populärkultur, ein neues Frauenbild. Gleichzeitig ist uns die Dekade aber auch in vielen Aspekten fremd, etwa mit ihrer existenziellen politischen Sprache, ihrem Pathos, der Albernheit ihrer Cabarets und der Gewalt ihrer sozialen Auseinandersetzungen. Wie soll man auf hundert Seiten eine Geschichte dieser spannenden, komplexen 1920er Jahre erzählen? Ich habe mich dafür entschieden, die 1920er als eine Zeit der Krise und des Experiments vorzustellen, als ein Versuchsfeld der klassischen Moderne. Nach der fundamentalen Krisenerfahrung des verlorenen Ersten Weltkriegs schien zunächst alles zur Disposition zu stehen. Nichts hatte mehr Bestand; eine neue Generation baute sich ein neues, wenn auch prekäres Leben auf. Die Geschwindigkeit und die Intensität dieses Lebens waren teilweise berauschend: Im rauen gesellschaftlichen Klima der Nachkriegszeit wurden viele Bereiche des Lebens in einen Sog der kulturellen Pluralisierung und der Politisierung hineingezogen.

Trotzdem sind die 1920er viel mehr als nur eine Zeit der Krise und des Experiments. Denn gleichzeitig blieben erstaunlich viele Dinge beim Alten. Das Alltagsleben der meisten Menschen hatte mit der schillernden Kulturszene nicht sonderlich viel zu tun – besonders auf dem Land oder in der Kleinstadt, wo man teilweise noch so lebte wie im 19. Jahrhundert. Und auch bei der Erneuerung der Gesellschaft griff man auf verschiedenste Rezepte zurück, die bereits im Kaiserreich entwickelt worden waren: im Bereich der Lebensreform, der Jugendbewegung, der künstlerischen Avantgarde. In vielerlei Hinsicht blieben die 1920er Jahre ein Kind der vorangegangenen Epoche.

 

Wer sich mit den 1920er Jahren in Deutschland beschäftigt, ist also immer mit einem Paradox konfrontiert: auf der einen Seite der kulturelle Glanz der Goldenen Zwanziger und eine der innovativsten Perioden der deutschen Geschichte. Auf der anderen Seite aber eine Gesellschaft zwischen Kriegen und Katastrophen, gezeichnet von Armut, Unsicherheit und Gewalt. Die soziale Ungleichheit war groß: 1919 setzte das Berliner Hotel Adlon neben der Gänseleber für 32 Mark auch eine Hafergrützensuppe für 1,50 Mark auf die Karte. Und die allermeisten Deutschen waren weit davon entfernt, sich diese Hafergrützensuppe ohne weiteres leisten zu können. Wie also passen diese beiden Entwicklungen, die schlagartige Erweiterung der kulturellen Möglichkeiten und das Elend einer ausgebluteten Gesellschaft, zusammen? Für unser historisches Bild von der Weimarer Republik ist das eine Schlüsselfrage. Man kann sie nur beantworten, wenn man Krise und Experiment zusammendenkt und auch strukturelle Gründe berücksichtigt: die Demographie, den kriegsbedingten Wandel im Geschlechterverhältnis, den Jugendüberschuss der Nachkriegszeit.

Und man kann sie nur beantworten, wenn man den Blick auf soziale Differenzen richtet. Denn für bayerische Adelsfamilien bedeuteten die gesellschaftlichen Transformationen der 1920er etwas anderes als für alleinstehende Angestellte in Leipzig, für Kleinbauern im Saarland etwas anderes als für Künstlerinnen in Berlin. Sicher, das liegt auf der Hand und gilt für alle Epochen. Es lohnt sich aber, genau hinzusehen: Wer profitierte vom rasanten Kulturgetriebe der Zeit, wer nicht? Wer hatte die Hauptlast der Inflation zu tragen, wer kam mit ihr besser zurecht? Wer nutzte die Chancen, die die neue Republik bot – und wer blieb zurück? Und schließlich auch: Wer war von den politischen und sozialen Entwicklungen der Weimarer Republik so frustriert, dass er dann im Januar 1933 sein Kreuz bei einer Partei machte, die seit zehn Jahren gegen die Republik mobil gemacht hatte: der NSDAP?

Heute stehen wir am Beginn der 2020er Jahre. Die gesellschaftliche Situation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs können wir uns nur über historische Texte, Bilder, Filme und Tondokumente erschließen; von den ZeitzeugInnen lebt niemand mehr. Was uns allerdings eine gewisse Nähe zu der Epoche vor hundert Jahren vermittelt, ist das Gefühl, selbst in einer Krisenzeit zu leben. Wir haben zwar – glücklicherweise – keinen Weltkrieg hinter uns, aber die Banken- und Finanzkrise von 2007/08 ist nicht ohne Grund mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 verglichen worden. Die Diagnose verstärkter sozialer Spannungen und Verwerfungen verbindet unsere Gegenwart mit den 1920er Jahren. Und auch die Etablierung rechtspopulistischer Parteien auf dem politischen Parkett weckt Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit, die ebenfalls eine Zeit nationalistischer Bewegungen und politischer Extremismen war. Unsere heutige Faszination für die 1920er Jahre speist sich wohl aus beiden Motiven: Einerseits aus dem Interesse an Krisenzeiten und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung. Und andererseits aus der Lust am Experiment, der Suche nach Neuem, den literarischen, musikalischen und künstlerischen Entwicklungen der Zeit und den Lebensstilen der damaligen Intellektuellen- und Angestelltenmilieus, irgendwo zwischen »Davon geht die Welt nicht unter« und »Heute Nacht oder nie«.

Sieben politische Schlaglichter

 Ausgehend vom Kieler Matrosenaufstand kommt es im November 1918 zur Revolution im deutschen Kaiserreich. Nach der Niederschlagung linksrevolutionärer Gruppen etabliert sich die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) unter Friedrich Ebert und übernimmt die Regierungsgeschäfte. Die Monarchie ist abgeschafft.

 Der vom Völkerbund am 1. Mai 1919 ratifizierte Friedensvertrag von Versailles sieht die Rückgabe von Elsass und Lothringen an Frankreich sowie verschiedene Volksabstimmungen über Territorialfragen (Oberschlesien, Saarland etc.) vor. Deutschland wird vollständig entmilitarisiert und muss für die Schäden des Ersten Weltkriegs aufkommen.

 Im beschaulichen Weimar tritt ab Februar 1919 die zuvor gewählte verfassungsgebende Nationalversammlung zusammen. Im August wird schließlich die Weimarer Verfassung verabschiedet; das Deutsche Reich ist nun eine föderative Republik mit einem präsidialen und parlamentarischen politischen System.

 Die Zeit von 1919 bis 1923 ist von wirtschaftlicher Not und rasanter Geldentwertung geprägt (Hyperinflation). Erst die Einführung der Rentenmark 1923 und kurz darauf der Reichsmark 1924 kann den ökonomischen Absturz stoppen.

 Von rechts ist die Weimarer Republik ständigen Angriffen und Putschversuchen ausgesetzt: Der Kapp-Putsch 1920 und der Hitler-Putsch 1923 scheitern zwar, aber der anhaltende Widerstand von Alfred Hugenbergs Deutschnationaler Volkspartei (DNVP), dem paramilitärischen »Stahlhelm« und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) des arbeitslosen Kunstmalers und Kriegsgefreiten Adolf Hitler belastet die Republik.

 Nach dem Tod Friedrich Eberts wird im April 1925 der 77-jährige Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt. Hindenburg agiert zwar politisch kraftlos, aber er ist eine wichtige Symbolfigur der rechtskonservativen Szene. 1933 wird Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennen.

 Am 24. Oktober 1929 brechen die Börsenkurse dramatisch ein und lösen die Weltwirtschaftskrise aus. Eine ihrer verhängnisvollsten Folgen war eine massenhafte Arbeitslosigkeit, die zur politischen Erosion der Weimarer Republik beitrug.


Instabilität und Gewalt

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der erste und einzige verlorene Krieg, den das deutsche Kaiserreich in den fast 50 Jahren seines Bestehens erlebt hatte. Speziell in Preußen konnten sich nicht einmal die Ältesten mehr an eine militärische Niederlage erinnern. Dementsprechend erhofften sich viele PatriotInnen bei Kriegsbeginn im Herbst 1914 ein grandioses Abenteuer. Doch spätestens in den furchtbaren Stellungskriegen an der Somme und vor Verdun wurden nicht nur die deutschen Truppen, sondern auch die nationalen Gewissheiten aufgerieben. Die Zinnsoldaten, mit denen die Kinder aus bürgerlichem Hause seit den glorreichen Gefechten von 1870/71 gespielt hatten, landeten entweder in der Metallabgabe für den Krieg oder auf dem Dachboden. Die deutschen Intellektuellen, die 1914 ihre Stunde kommen gesehen und vom »Augusterlebnis« geschwärmt hatten, waren bitter enttäuscht. Was zunächst als »Kulturkrieg« gefeiert worden war, hatte die Ermordung Hunderttausender Zivilisten, die Zerstörung der weltberühmten Leuvener Bibliothek und den Einsatz von Giftgas durch deutsche Truppen mit sich gebracht.

All das hatte eine zuvor unvorstellbare Brutalisierung in Gang gesetzt, die auch die unmittelbare Nachkriegszeit prägte. Viele Familien hatten ihre Väter verloren oder mussten sie als verstörte Kriegsheimkehrer betreuen. Was sollte nun kommen? Welche politische Ordnung ersetzte die Monarchie? Diese Frage betraf nicht nur das Deutsche Reich, sondern ebenso das habsburgische Kaiserreich Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das russische Zarenreich, das bereits in der Februarrevolution 1917 untergegangen war. Überall war es zu entgrenzter Gewalt gekommen, am drastischsten in Russland und beim Genozid an den ArmenierInnen des Osmanischen Reiches. Überall waren die etablierten Ordnungen des 19. Jahrhunderts zerfallen und warteten darauf, durch neue ersetzt zu werden.

Überblickt man die europäische Staatenwelt um das Jahr 1919, dann hatte sich in wenigen Jahren enorm viel verändert. Während Europa bei Kriegsbeginn 1914 noch aus 17 Monarchien und 3 Republiken – nämlich Frankreich, Portugal und der Schweiz – bestanden hatte, fand man nun 13 Republiken und 13 Monarchien auf der Landkarte. Doch das, was sich einerseits als Siegeszug der demokratischen Staatsform beschreiben lässt, stellt sich andererseits als prekäre Balance von demokratischen und autoritären Regierungssystemen dar. Sämtliche Siegermächte rückten – mit Ausnahme Russlands – politisch nach rechts: In Frankreich, Großbritannien und den USA etablierten sich strikt konservative Regierungen; in Italien mündete die kurze sozialistische Periode des biennio rosso (dt.: ›die zwei roten Jahre‹) 1919/20 wenige Jahre später in die Machtübernahme durch Benito Mussolinis faschistische Bewegung. 1923 etablierte sich in Spanien die Militärdiktatur von Miguel Primo di Rivera; auch Ungarn unter Miklós Horthy und István Bethlen bewegte sich in Richtung eines streng autoritären Systems mit restaurativer Zielsetzung. Das wieder unabhängig gewordene Polen erlebte ab 1926 unter der Führung Józef Piłsudskis ebenfalls ein autoritäres Regime. Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches etablierte Kemal Atatürk 1923 die Türkei als westlich orientierten, säkularen Nationalstaat, der aber – bei aller gesellschaftlichen Modernisierung – eher zur Diktatur als zur Demokratie neigte.

Als neue Weltmacht gingen die USA aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Der Historiker Bernd Stöver hat das Jahr 1919 als den »Beginn des amerikanischen Jahrhunderts« bezeichnet. Mit ihrem Kriegseintritt kurz zuvor hatten sich die Vereinigten Staaten erstmals in die politischen Verhältnisse Europas eingemischt. Die Vierzehn Punkte, die Präsident Woodrow Wilson in diesem Zusammenhang formulierte, lieferten dazu das Programm. Demnach traten die USA nun auch außerhalb ihrer Grenzen an, »die Grundsätze von Frieden und Gerechtigkeit […] gegen eigensüchtige und autokratische Macht zu verteidigen«. Nach dem Krieg setzten sich die Amerikaner für eine milde Behandlung des Kriegsverlierers Deutschland ein, um der Weimarer Republik eine Chance zu geben. Während England und Frankreich zunächst nach den Grundsätzen Hang the Kaiser und Make Germany Pay vorgingen, plädierten die USA für wirtschaftlichen Aufbau. Der Dawes-Plan von 1924 regelte die Reparationszahlungen so, dass der Weimarer Republik genügend Luft zum Atmen blieb; der relative Boom der »Goldenen Zwanziger« von 1924 bis 1929 wäre anders nicht möglich gewesen.

Mit ihrer Deutschlandpolitik stiegen die Vereinigten Staaten auch zum kulturellen Leitbild und zum Inbegriff der Modernität auf. Rationalisierung, Massenproduktion, Konsumorientierung und die sprichwörtlichen »unbegrenzten Möglichkeiten« faszinierten die Deutschen quer durch die sozialen Klassen. Zudem brachte Hollywood ein internationales Flair in die deutschen Kinos. Schriftsteller der »Neuen Sachlichkeit« griffen bevorzugt Themen im American style auf. Das rief freilich auch die Kritiker auf den Plan. Der Schriftsteller Gottfried Benn schrieb als Antwort auf eine Umfrage:

Es gibt eine Gruppe von Dichtern, die glauben, sie hätten ein Gedicht verfaßt, indem sie ›manhattan‹ schreiben. Es gibt eine Gruppe von Dramatikern, die glauben, sie manifestierten das moderne Drama, wenn sie die Handlung in einem Blockhaus in Arizona spielen lassen und wenn eine Flasche Whisky auf dem Tisch steht.

Dank der kulturellen Vorbildfunktion der USA verbreitete sich indessen auch die spezifisch amerikanische Ideologie von Liberalismus, Leistung und Erfolg. Nach dem Ende der Monarchie wurde der »Selfmademan« auch in Deutschland zu einer Leitfigur, die das ökonomische Denken der 1920er Jahre mitbestimmte.

Doch zurück zur Politik: In Deutschland übernahm nach 1918 zunächst die politische Linke die Macht – gleich zu Beginn in Bayern, wo für kurze Zeit eine Räterepublik existierte. Auf Reichsebene war es die gemäßigte Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert, die den Ton angab. Als Übergangskanzler und Reichspräsident führte Ebert zügig das allgemeine Wahlrecht, das Tarifvertragsrecht und den Achtstundentag ein. Andererseits setzte er entschieden auf die etablierten bürgerlichen Ordnungen, ließ die linksradikalen Aufstände der Spartakisten unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg niederschlagen und verschärfte damit die Spaltungen innerhalb der Linken. In Weimar wurde am 11. August 1919 eine neue, liberale und demokratische Verfassung verabschiedet. Von einer »Weimarer Republik« war allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre die Rede, als besagte Republik in die Krise geriet. Das verschaffte dieser Formulierung einen negativen Beiklang; für die Nationalsozialisten wurde »Weimar« dann erst recht zu einem politischen Feindbild.

Unsicherheit, Unordnung und Krise bestimmten das Lebensgefühl in der Weimarer Republik. Mehr als die Jahrzehnte des Kaiserreichs waren die 1920er Jahre denn auch eine Zeit ausgeprägter politischer Gewalt. Einer ganzen Gesellschaft steckte der Krieg in den Knochen, überall sah man Kriegsversehrte: nervenkranke, Menschen mit Prothesen oder entstellten Gesichtern. Der Brutalisierungsschub der Kriegszeit setzte sich mit den politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit fort. Und so kam die Republik vor allem in ihren ersten Jahren kaum zur Ruhe: Revolution und Straßenkämpfe, Kapp-Putsch, Aufstände in Oberschlesien und im Ruhrgebiet, »Deutscher Oktober« in Sachsen, Thüringen und Hamburg, Hitlerputsch, Ruhrkrise. Dazu kamen reihenweise politische Morde: der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger, der Publizist Maximilian Harden und Reichsaußenminister Walther Rathenau waren die prominentesten Opfer. Wenn der englische Journalist George Eric Rowe Gedye die frühe Weimarer Republik als Revolver Republic bezeichnete, so traf er dieses Gewaltszenario recht genau. Und nach einigen Jahren der relativen Ruhe setzten die Kämpfe infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 wieder ein: der berüchtigte »Blutmai« von 1931 in Berlin-Wedding ist nur eines von vielen Ereignissen.

 

Ihre ungeheure Spannung bezog die Zeit unter anderem daraus, dass immer die ganz große Frage im Raum stand: US-amerikanischer Liberalismus oder sowjetischer Kommunismus? Wer beides ablehnte, schloss sich vielleicht einer der deutschnationalen und rechtsextremen Bewegungen an, die sich zunehmend radikalisierten und die Reste des zerschlagenen Militärs um sich scharten. Die einen befürchteten, Berlin könnte wie Chicago werden, während die anderen eher Angst hatten, Berlin könnte wie Moskau werden. Beides stand, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, für die Herausforderungen der modernen Massengesellschaft. Ob als kapitalistische Konsumgesellschaft oder als kommunistisches Kollektiv: Die »Masse« wurde zu einem der wichtigsten Schlagworte der Zeit. Der Filmkritiker Siegfried Kracauer sprach vom Ornament der Masse. Der Schriftsteller Elias Canetti begann Anfang der 1920er Jahre mit den umfangreichen Vorstudien zu seinem Buch Masse und Macht. Über seine Erfahrungen während der Demonstrationen am Wiener Justizpalast 1927 schreibt Canetti: »Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Und auch der Spanier José Ortega y Gasset arbeitete an einer Abhandlung über das Problem der Masse: 1930 erschien La Rebelión de las Masas (Der Aufstand der Massen). Diese Bücher waren auch Reflexionen über einen alltäglichen Zustand: Überall traf man auf Menschen, in den Städten, den Häusern, den Hotels und Cafés, den Kinos, den Boulevards, den Sportstadien, den Stränden. Die breite Bevölkerung hatte sich ihre Freiräume erobert. Der 1918 endlich durchgesetzte Achtstundentag und die neuen Konsummöglichkeiten sorgten dafür, dass viel mehr Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen konnten, als es noch im Kaiserreich der Fall gewesen war. Und bald sollte das ausdrücklich auch für die Frauen gelten.

Wer der »Masse« partout nichts Positives abgewinnen konnte, redete lieber vom »Volk«. Dieser Begriff schien die Einheitssehnsüchte der Zeit zusammenzufassen: Das »Volk« war die geordnete, sozial gegliederte und von fremden Einflüssen gereinigte Masse, mehr Gemeinschaft als Gesellschaft. Als politisch enorm aufgeladene Begriffe geisterten »Volk« und »Masse« durch die Publizistik der Weimarer Republik, und wenn man die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit verstehen will, kommt man um diese beiden Konzepte nicht herum. Nicht zuletzt bereitete sich in diesem Spannungsfeld auch der Aufstieg der Nationalsozialisten vor, bei denen »Volk« und »Volksgemeinschaft« geradezu als religiöse Erlösungsformeln fungierten. In diesem politisch aufgeheizten Klima gewann die öffentliche Rede an Bedeutung – auch, weil sie ab Mitte der 1920er Jahre dank des Mikrofons und des Rundfunks viel größere Zuhörermengen erreichen konnte als zuvor. Während die politischen RednerInnen der Revolutionszeit 1918/19 noch regelrecht brüllen mussten, konnten Hitler und Goebbels später die Resonanzen des Lautsprechers für ihre Reden nutzen, was eine ganz andere Rhetorik und Dramaturgie ermöglichte.

Welche Generationen prägten die 1920er Jahre? Welchen Erfahrungshorizont hatten die jungen Leute, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf die Arbeitsmärkte drängten und sich ihren Platz in einer instabilen, verwilderten Gesellschaft suchen mussten? Was die Biographien der Männer betrifft, war da zunächst die Frontgeneration: Männer, die 1914 mit 20 oder 25 Jahren in den Krieg gezogen waren und nun zurückkehrten, um das überalterte Establishment des Kaiserreichs herauszufordern und ihren Anspruch auf die wichtigen Posten in der Gesellschaft geltend zu machen. Dann waren da aber auch noch die Jüngeren, die den Krieg nur von zu Hause aus erlebt hatten. Ernst Glaeser hat 1928 den definitiven Roman über diese Generation geschrieben und einen Sensationserfolg damit erzielt. In Jahrgang 1902 schildert Glaeser die Erfahrungen einer Jugend, deren Pubertät in die Kriegszeit 1914–1918 fiel. Für die Kriegsteilnahme waren sie zu jung, von den schlimmen »Kohlrübenwintern« 1916 und 1917, dem Elend, der Kriegsniederlage und dem Massensterben während der Spanischen Grippe wurden sie geprägt.

Die Angehörigen des Jahrgangs 1902 wurden 1920 18 Jahre alt. Sie gehörten zu denen, die fast aus dem Nichts heraus eine neue gesellschaftliche Ordnung aufbauen mussten, hatten aber beim Gerangel um Jobs oft das Nachsehen. Gleichzeitig mussten sie erst einmal den Bruch mit den Leitbildern ihrer wilhelminischen Kindheit verarbeiten: Als 12-Jährige hatten sie noch den Soldaten zugejubelt, die in Richtung Belgien und Frankreich abfuhren, vier Jahre später waren ihre naiven Kriegsträume geplatzt, ohne dass sie eigentlich dabei gewesen waren. Sie und die noch Jüngeren, in etwa die Jahrgänge 1900 bis 1910, bildeten die chancenlose Jugend der Weimarer Republik. Gesellschaftliche Stabilität kannten sie kaum; erwachsen wurden sie in einer Zeit permanenter Unsicherheit. Auch spätere NS-Verbrecher der ersten Reihe wie Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler, Hans Frank, Adolf Eichmann und Odilo Globocnik gehörten zu dieser »verlorenen Generation«.

Die Generationserfahrungen der Frauen folgten in vielerlei Hinsicht der gleichen Logik. Viele Frauen der Kriegsgeneration rückten in neue Berufe und verantwortungsvollere öffentliche Positionen auf, als die wehrfähige männliche Bevölkerung ab 1914 eingezogen wurde, mussten aber nach Kriegsende wieder für die heimkehrenden Männer Platz machen. Die Chancenlosigkeit der nach 1900 Geborenen traf auch die Frauen, die dazu noch in vielen Fällen die Familie über Wasser halten sowie sich um Kinder und Geschwister kümmern mussten. Mehr aber als bei den Männern zeichneten sich die Konturen einer kommenden neuen Frauengeneration ab. Stellvertretend für viele schrieb die Journalistin und erfolgreiche Tennisspielerin Paula von Reznicek 1928:

Die Frau hat eine andere Stellung als früher, sie ist beruflich oder sportlich tätig, sie ist nicht mehr behütet, im Haushalt gefesselt, ihr Wissen, ihre Interessenssphären sind erweitert, sie ist Kamerad, Frau, Geliebte, Mutter in einer Person. Sie hat das Recht und die Sehnsucht nach mehr Freiheit als früher. Ob sie sie ausnutzt, und wie weit – ist ihre Sache.

Stand also die deutsche Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Monarchie vor einem kompletten Neuanfang? War 1918 eine »Stunde null«? Sicher nicht. Bei aller Faszination für den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel darf man weder übersehen, dass schon die Zeit vor 1914 eine überaus dynamische Periode gewesen war, noch darf man die weitreichenden Kontinuitäten unterschätzen, die das Kaiserreich mit der Weimarer Republik verbinden. Das wird selbst an der Spitze der alten Gesellschaftsordnung deutlich, dem Adel. Zwar war das Ansehen der deutschen Adelsfamilien durch das Ende der Monarchie und das Abtreten der Hohenzollern stark beschädigt, allerdings konnten viele Adelige ihre Privilegien und Netzwerke durchaus in die neue Zeit hinüberretten. In Militär, Diplomatie, Politik und der höheren Verwaltung – also im Staatsdienst der Weimarer Republik – waren sie nahezu unverändert präsent, und auch ihren Landbesitz konnten sie in den meisten Fällen halten. Überhaupt blieb die soziale Struktur der deutschen Gesellschaft erstaunlich intakt. Schließlich wusste niemand, in welche Richtung das politische Pendel als Nächstes ausschlagen würde.

Kaiser Wilhelm II., der am 9. November 1918 überstürzt in die Niederlande ausgereist war, residierte unterdessen in Haus Doorn bei Utrecht, schimpfte über die »Saurepublik« und wartete noch lange auf die Gelegenheit, die Monarchie in Deutschland wiederherzustellen. Gemeinsam mit seinem Sohn, Kronprinz Wilhelm, war er der Auffassung, dass zunächst »ein Diktator den Karren aus dem Dreck ziehen« müsse, bevor die Hohenzollern wieder als Monarchen herrschen könnten. Der alte Kaiser und das rechtskonservative Establishment der Republik – allen voran der ab 1925 amtierende Reichspräsident Hindenburg – sahen daher in aller Ruhe zu, wie die Nationalsozialisten immer mehr an Zuspruch gewannen. Und sie vertraten 1933 die fatale Auffassung, dass ein Reichskanzler Hitler ihrer Sache mehr dienen würde als eine Fortsetzung der prekären Koalitionspolitik der frühen 1930er Jahre.

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