Carmilla | Ein Vampir-Roman

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Carmilla | Ein Vampir-Roman

1  JOSEPH SHERIDAN LE FANU

JOSEPH SHERIDAN LE FANU

CARMILLA

Ein Vampir-Roman

Vorwort

„Carmilla“ gilt als einer der ersten und besten Vampir-Romane überhaupt. Bram Stoker – Autor des berühmten „Dracula“-Werks – fand in diesem Buch des irischen Schriftstellers Joseph Sheridan Le Fanu entscheidende Anregungen.

Joseph Sheridan Le Fanu (1814–1873) zählt zu den bekanntesten Autoren klassischer Gruselgeschichten. Auch in seinem Werk „Carmilla“ über die gleichnamige und lesbische Vampirin zeigt sich Le Fanu in Bestform: Der Roman von 1872 ist hochspannend, düster und erotisch – kurzum: „Carmilla“ hat alles, was ein guter Vampir-Roman braucht. „Carmilla“ wurde mehrfach verfilmt (unter anderem „Draculas Tochter“ von 1936, „Gruft der Vampire“ von 1970, „Lesbian Vampire Killers“ von 2009), doch wie so oft ist das Original unübertroffen.

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Le Fanus Roman im Original-Wortlaut der Erstveröffentlichung.

Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

Auf ein Blatt Papier, welches dem folgenden Bericht beigegeben war, hat Dr. Hesselius eine ziemlich ausführliche Anmerkung geschrieben und ihr einen Hinweis auf seine Abhandlung über das merkwürdige Problem, das im Manuskript beleuchtet wird, hinzugefügt.

In der erwähnten Schrift behandelt er jenes geheimnisvolle Thema mit der ihm eigenen Gelehrsamkeit und Geistesschärfe, und zudem bemerkenswert unumwunden und präzis. Die Abhandlung wird übrigens nur einen Band der gesammelten Werke dieses außergewöhnlichen Mannes ausmachen.

Wenn ich, allein um das Interesse der "Laien" zu wecken, den betreffenden Fall hier veröffentliche, so will ich der klugen Berichterstatterin in nichts vorgreifen. Aus dem gleichen Grunde habe ich mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, von einer Zusammenfassung der Argumente des gelehrten Doktors abzusehen und auch keinen Auszug aus seiner Stellungnahme zu einem Thema beizufügen, das, wie er schreibt, "auf nicht unwahrscheinliche Weise an einige der tiefsten Geheimnisse der beiden Bereiche unserer Existenz und der dazwischenliegenden Stufen rührt".

Als ich die folgenden Aufzeichnungen entdeckte, war ich begierig, den Briefwechsel fortzusetzen, den Dr. Hesselius vor vielen Jahren mit einer so gescheiten und umsichtigen Person, wie seine Informantin es gewesen sein muß, begonnen hatte. Aber zu meinem großen Bedauern erfuhr ich, daß sie inzwischen verstorben ist.

Wahrscheinlich hätte aber auch sie dem Bericht wenig hinzufügen können, den sie - soweit ich beurteilen kann, mit größter Gewissenhaftigkeit - auf den folgenden Seiten erstattet hat.

Kapitel 1

Frühes Entsetzen

Obwohl wir keineswegs hohe Herrschaften sind, bewohnen wir ein Schloß in der Steiermark. In diesem Teil der Welt reicht ein bescheidenes Einkommen weit. Acht- oder neunhundert Pfund jährlich wirken hier Wunder. Zu Hause hätte man uns wohl kaum zu den Begüterten gezählt. (Mein Vater ist Engländer, und ich trage einen englischen Namen, obgleich ich England nie gesehen habe.) Hier jedoch, in dieser einsamen, primitiven Gegend, könnte man selbst mit unbegrenzten finanziellen Mitteln nicht bequemer, ja luxuriöser leben als wir es tun.

Mein Vater war in österreichischen Diensten. Nach seiner Pensionierung griff er auf sein väterliches Erbteil zurück und erwarb diesen Adelssitz samt dem dazugehörigen kleinen Landgut zu einem äußerst günstigen Preis.

Nichts kann malerischer und einsamer sein als unser Schloß. Es steht mitten im Wald auf einer leichten Anhöhe. Der schmale, ausgetretene Weg führt an der Zugbrücke vorbei, die, so lange ich hier gelebt habe, niemals hochgezogen worden ist, und verläuft entlang dem Burggraben, in dem Karpfen gezüchtet werden und auf dessen Wasserspiegel viele Schwäne zwischen den weißen Flottillen der Wasserlilien ihre Bahn ziehen.

Darüber erhebt sich das Schloß mit seinen vielen Fenstern, seinen Türmen und seiner gotischen Kapelle.

Vom Portal aus blickt man auf eine sehr idyllische Waldlichtung. Rechter Hand spannt sich eine steile, gotische Brücke über einen Fluß, der sich in tiefem Schatten durch den Forst windet. Ich habe diesen Ort sehr einsam genannt. Beurteilen Sie selbst, ob ich recht habe. Vom Eingang der Halle aus gesehen, erstreckt sich der Wald, in dem unser Schloß steht, fünfzehn Meilen nach rechts und zwölf nach links. Das nächste bewohnte Dorf liegt ungefähr sieben englische Meilen gen Osten, das nächste bewohnte Schloß von historischem Interesse ist das des alten Generals Spielsdorf, das in entgegengesetzter Richtung fast zwanzig Meilen entfernt liegt.

Ich habe absichtlich vom nächsten bewohnten Dorf gesprochen, denn nur drei Meilen westlich, also in derselben Richtung wie General Spielsdorf Schloß, steht ein verfallenes Dorf mit einer kleinen altertümlichen Kirche, die kein Dach mehr hat und in deren Seitenschiff die Gräber der stolzen Karnsteins zerbröckeln, einer ausgestorbenen Familie, einst Eigentümer des heute ebenfalls verödeten Schlosses, das, von dichtem Wald umgeben, die stummen Ruinen des Dorfes überragt.

Eine Erklärung dafür, warum dieser eindrucksvolle, melancholisch stimmende Ort von seinen Bewohnern verlassen wurde, findet sich in einer alten Geschichte, die ich Ihnen später erzählen werde.

Jetzt muß ich Sie mit dem sehr kleinen Kreis von Menschen bekanntmachen, der in unserem Schloß lebt. Ich nehme die Dienerschaft und die in den anliegenden Gebäuden wohnenden Angestellten aus. Hören und staunen Sie! Da ist mein Vater, der gütigste Mensch auf der Welt, aber ein alternder Mann, und da bin ich. Zu der Zeit, von der ich berichten will, war ich erst neunzehn. Seitdem sind acht Jahre vergangen. Wir beide waren die einzigen Familienmitglieder. Meine Mutter, eine Steiermärkerin, starb, als ich noch ganz klein war, doch ich hatte eine gutmütige Gouvernante, die mich seit meiner frühen Kindheit betreute. Ihr dickliches, wohlwollendes Gesicht war mir von jeher vertraut: Madame Perrodon, aus Bern gebürtig, ersetzte mir mit ihrer Fürsorglichkeit und ihrem guten Herzen wenigstens zum Teil die Liebe meiner Mutter, die ich zu früh verloren hatte, um mich ihrer erinnern zu können. Madame also war die Dritte in unserer kleinen Tischrunde. Und die Vierte war Mademoiselle De Lafontaine, die sie vermutlich als Hauslehrerin bezeichnen würden. Sie sprach Französisch und Deutsch, Madame Perrodon Französisch und gebrochen Englisch, während mein Vater und ich, teils um das Englische nicht ganz und gar zu vergessen, teils aber auch aus patriotischen Gründen, uns täglich in dieser Sprache unterhielten. Die Folge war eine babylonische Sprachverwirrung, über die fremde Besucher sich amüsierten und die ich in diesem Bericht nicht wiedergeben will. Hier und da waren zwei oder drei uns befreundete junge Damen, etwa in meinem Alter, bei uns zu Gast, und gelegentlich erwiderte ich ihren Besuch.

Das also war mein täglicher Umgang. Aber natürlich sprachen bisweilen auch Nachbarn bei uns vor, die fünfzehn bis zwanzig Meilen entfernt wohnten. Trotzdem, das können Sie mir glauben, war mein Leben recht einsam.

Meine Gouvernanten hatten mich nur so weit in der Hand, wie es eben möglich ist, wenn ehrwürdige Damen es mit einem ziemlich verzogenen jungen Mädchen zu tun haben, dessen Vater ihm fast immer seinen Willen läßt.

Das erste Ereignis meines Lebens, das mir einen furchtbaren Schrecken einjagte und mir nie mehr aus dem Gedächtnis geschwunden ist, zählt zu den frühesten Vorfällen, deren ich mich überhaupt entsinnen kann. Manch einem mag es zu unbedeutend erscheinen, um in diesen Bericht aufgenommen zu werden; doch Sie werden allmählich verstehen, warum ich es erwähne. Das Kinderzimmer, das so genannt wurde, obwohl ich es allein bewohnte, war ein großer Raum im oberen Stockwerk des Schlosses, unmittelbar unter dem steilen eichenen Dachgebälk. Ich war kaum älter als sechs Jahre, als ich eines Nachts aufwachte, mich vom Bett aus im Zimmer umsah, weder die Kinderfrau noch das ihr zugeteilte Hausmädchen entdeckte und glaubte, ich sei allein. Ich fürchtete mich nicht, denn ich war eines jener glücklichen Kinder, denen man absichtlich keine Geistergeschichten, Märchen oder Sagen erzählt, und die daher den Kopf nicht unter die Bettdecke stecken, wenn plötzlich die Tür knarrt oder im Flackern einer niedergebrannten Kerze der Schatten des Bettpfostens an der Wand tanzt; ganz nahe am Kopfkissen. Aber ich war ärgerlich und beleidigt, denn ich fühlte mich vernachlässigt; ich begann zu wimmern und war nahe daran, in heftiges Geschrei auszubrechen. Da erblickte ich zu meiner Überraschung ein ernstes, aber sehr liebreizendes Gesicht, das mich vom Rand des Bettes her ansah. Es war das Gesicht einer jungen Dame, die neben mir kniete und die Hände unter die Bettdecke geschoben hatte. Ich betrachtete sie mit fast freudigem Staunen und hörte auf zu schluchzen. Sie streichelte mich zärtlich, legte sich neben mich aufs Bett und zog mich lächelnd an sich. Sofort fühlte ich mich wunderbar beruhigt und schlief wieder ein. Doch plötzlich schreckte ich hoch: mir war, als seien zwei Nadeln tief in meine Brust gedrungen. Ich stieß einen lauten Schrei aus. Die Dame richtete sich rasch auf, starrte mich an, ließ sich zu Boden gleiten und schlüpfte, wie mir schien, unters Bett.

Jetzt erst packte mich die Angst, und ich schrie so laut ich konnte. Kinderfrau, Mädchen, Haushälterin - alle stürzten ins Zimmer, hörten sich meine Geschichte an, versuchten, sie mir auszureden und mich zu beruhigen. Aber ich bemerkte, wenngleich ich noch ein Kind war, daß ihre Gesichter blaß wurden und einen seltsam ängstlichen Ausdruck annahmen, und ich sah, wie sie unters Bett schauten, sich im Zimmer umblickten, unter die Tische lugten und die Schränke öffneten. Ich hörte, wie die Haushälterin der Kinderfrau zuflüsterte: "Spüren Sie diese Vertiefung im Bett? Hier hat jemand gelegen, so wahr mir Gott helfe! Die Stelle ist noch warm." Ich weiß noch, wie das Hausmädchen mich streichelte, wie alle drei meinen Oberkörper besahen, dort, wo ich die Stiche gespürt hatte, und dann erklärten, es sei nicht das Geringste zu entdecken.

 

Die Haushälterin und die beiden fürs Kinderzimmer verantwortlichen Mädchen wachten bis zum Morgen bei mir. Und von jenem Tag bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr verbrachte stets eine Bedienstete die Nacht in meinem Zimmer.

Nach diesem Vorfall war ich lange Zeit sehr nervös. Man holte einen Arzt, einen blassen ältlichen Mann. Wie gut ich mich an sein langes, melancholisches, leicht pockennarbiges Gesicht erinnern kann! Eine Zeitlang erschien er jeden zweiten Tag und gab mir eine Medizin ein, die ich natürlich verabscheute.

Am Morgen nach der nächtlichen Erscheinung hatte mich das Entsetzen so gepackt, daß ich es nicht ertrug, auch nur einen Augenblick alleingelassen zu werden - obwohl doch heller Tag war. Ich entsinne mich, daß mein Vater heraufkam, munter plaudernd an meinem Bett stand, ein paar Fragen an die Kinderfrau richtete, über eine ihrer Antworten herzlich lachte, meine Schulter tätschelte, mich küßte und mir zuredete, keine Angst zu haben - es sei alles nur ein Traum gewesen, der mir nichts anhaben könne.

Ich aber empfand keinen Trost, denn ich wußte, daß der Besuch der fremden Dame kein Traum gewesen war. Ich hatte furchtbare Angst.

Es half auch nicht viel, daß das Hausmädchen mir versicherte, es habe in der Nacht nach mir gesehen und sich zu mir aufs Bett gelegt. Offenbar hätte ich im Halbschlaf ihr Gesicht nicht erkannt. Obwohl die Kinderfrau das alles bestätigte, gab ich mich mit dieser Erklärung nicht zufrieden.

Ich weiß noch, daß am selben Tag ein ehrwürdiger alter Mann in schwarzer Soutane von der Kinderfrau und dem Mädchen ins Zimmer geführt wurde, sich kurz mit beiden unterhielt und sich dann freundlich an mich wandte. Er hatte ein mildes, gütiges Gesicht. Er sagte, er wolle jetzt mit uns beten, ergriff meine Hände, legte sie zusammen und bat mich, leise vor mich hin zu sagen: "O Herr, erhöre alle, die für uns bitten, um Jesu willen." Ich glaube, das waren genau die Worte, denn ich habe sie in Gedanken oft wiederholt, und meine Kinderfrau achtete jahrelang darauf, daß ich sie meinen Gebeten zufügte.

Ich kann mich lebhaft an das nachdenkliche, milde Gesicht jenes weißhaarigen alten Mannes erinnern, der in seiner schwarzen Soutane in dem strengen, hohen, braunen Raum mit dem schwerfälligen Mobiliar im Stil der Zeit vor dreihundert Jahren stand, einem Raum, dessen Düsterkeit nur spärlich von dem durch das kleine vergitterte Fenster dringenden Licht erhellt wurde. Er und die drei Frauen lagen auf den Knien, und er betete - sehr lange, wie mir schien - mit ernster, bebender Stimme. Alles, was ich vor diesem Tag erlebt hatte, habe ich vergessen, und auch, was in der darauffolgenden Zeit geschah, ist versunken. Die Szenen aber, die ich gerade geschildert habe, sehe ich klar und deutlich vor mir, wie die unzusammenhängenden Bilder einer aus dem Dunkel aufsteigenden Phantasmagorie.

Kapitel 2

Ein Gast

Was ich Ihnen jetzt berichten werde, ist so seltsam, daß Sie es nur glauben werden, wenn Sie meiner Wahrhaftigkeit voll vertrauen. Meine Geschichte ist wahr, mehr noch, ich habe sie selbst erlebt.

Es war ein milder Sommerabend, und mein Vater forderte mich wieder einmal zu einem Spaziergang in der herrlichen Waldlichtung auf, die, wie ich bereits erwähnt habe, direkt vor dem Schloßtor beginnt.

"General Spielsdorf kann nun doch nicht so bald zu uns kommen, wie ich gehofft hatte", sagte mein Vater, während wir dahinschritten.

Der General hatte geplant, uns für einige Wochen zu besuchen, und wir hatten ihn bereits am folgenden Tag erwartet. Er wollte eine junge Dame mitbringen, Fräulein Rheinfeldt, seine Nichte und zugleich sein Mündel. Ich kannte sie nicht, hatte aber gehört, sie sei ein reizendes Mädchen, und hatte mich auf viele schöne Tage in ihrer Gesellschaft gefreut. Ich war tiefer enttäuscht, als eine in der Stadt oder in einer belebten ländlichen Gegend wohnende junge Dame sich vorstellen kann. Seit vielen Wochen hatte ich mir diesen Besuch und die neue Bekanntschaft in meinen Tagträumen ausgemalt.

"Wann wird er denn kommen?" fragte ich.

"Nicht vor dem Herbst. In zwei Monaten wahrscheinlich", erwiderte mein Vater. "Und ich bin jetzt sehr froh, daß du Fräulein Rheinfeldt nie kennengelernt hast."

"Warum?" fragte ich betroffen und neugierig zugleich.

"Weil die arme junge Dame tot ist. Ich vergaß beinahe, daß ich es dir noch nicht erzählt habe, aber du warst nicht im Zimmer, als ich heute abend den Brief des Generals erhielt."

Ich war entsetzt. General Spielsdorf hatte in seinem ersten Brief, vor sechs oder sieben Wochen, zwar erwähnt, daß sie sich nicht wohlfühle, aber nichts hatte auf die geringste Gefahr gedeutet.

"Hier ist der Brief des Generals", sagte mein Vater und gab mir das Schreiben. "Ich fürchte, er ist völlig verstört. Er muß den Brief in großer Verwirrung geschrieben haben."

Wir ließen uns unter herrlichen Linden auf einer klobigen Bank nieder. Am bewaldeten Horizont sahen wir die Sonne in melancholischer Pracht sinken, und im Fluß, der am Schloß vorbeifließt, von der bereits erwähnten alten, steilen Brücke überspannt wird und sich dann, fast zu unseren Füßen, zwischen zahlreichen prächtigen Baumgruppen hindurchschlängelt, spiegelte sich der verblassende Purpur des Abendhimmels. General Spielsdorfs Brief war so außergewöhnlich, so heftig und stellenweise so widerspruchsvoll, daß ich ihn zweimal las - das zweite Mal laut -, ihn aber auch dann noch unerklärlich fand, es sei denn, man unterstellte, daß der Kummer den Geist des Generals verwirrt hatte.

"Ich habe", so begann er, "meine geliebte Tochter verloren, denn als meine Tochter habe ich sie betrachtet. Während der letzten Krankheitstage meiner lieben Bertha war ich nicht fähig, Ihnen zu schreiben. Vorher hatte ich keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebte. Ich habe sie verloren, und jetzt sollen Sie alles erfahren - zu spät! Sie starb in dem Frieden, den die Unschuld gewährt, und in der wunderbaren Hoffnung auf eine gesegnete Zukunft. Der Unhold, der unsere liebevolle Gastfreundschaft mißbraucht hat, ist an allem schuld. Ich glaubte, mein Haus der Unschuld und Heiterkeit geöffnet und meiner dahingegangenen Bertha zu einer reizenden Gefährtin verholfen zu haben. Himmel! Was für ein Narr bin ich gewesen! Ich danke Gott, daß meine Tochter starb, ohne die Ursache ihrer Leiden zu kennen. Sie verschied, ohne zu ahnen, welcher Art ihre Krankheit war, ohne um die verfluchte Leidenschaft jenes Wesens zu wissen, das für unser ganzes Elend verantwortlich ist. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, ein Ungeheuer aufzuspüren und zu vernichten. Ich habe erfahren, daß mein gerechtes und barmherziges Unterfangen nicht aussichtslos ist. Gegenwärtig jedoch ist kaum ein Lichtstrahl zu entdecken, der mir den rechten Weg weisen könnte. Ich verfluche meine überhebliche Ungläubigkeit, mein verabscheuungswürdig überlegenes Gehabe, meine Blindheit, meine Verbohrtheit - alles - zu spät. Ich kann jetzt weder vernünftig schreiben noch klar denken. Ich bin verwirrt. Sobald ich mich etwas erholt habe, werde ich Nachforschungen anstellen, die mich möglicherweise bis nach Wien führen werden. Irgendwann im Herbst, in zwei Monaten, oder, falls ich dann noch lebe, auch früher, werde ich sie aufsuchen - vorausgesetzt, daß es Ihnen genehm ist. Dann werde ich Ihnen alles erzählen, was ich jetzt nicht dem Papier anzuvertrauen wage. Leben Sie wohl. Beten Sie für mich, lieber Freund."

Mit diesen Worten schloß das seltsame Schreiben. Obwohl ich Bertha Rheinfeldt nie begegnet war, trieb mir die unerwartete Nachricht die Tränen in die Augen. Ich war bestürzt und gleichzeitig zutiefst enttäuscht.

Die Sonne war untergegangen, und Dämmerlicht umgab uns, als ich meinem Vater den Brief des Generals zurückgab.

Es war ein milder, klarer Abend. Wir gingen langsam nach Hause, über die Bedeutung der wilden, unzusammenhängenden Sätze nachsinnend, die ich soeben gelesen hatte. Wir mußten eine Meile zurücklegen, bis wir den Weg vor dem Schloß erreichten. Inzwischen glänzte der Mond am Himmel. An der Zugbrücke sahen wir Madame Perrodon und Mademoiselle De Lafontaine stehen, die ohne Kopfbedeckung ins Freie gekommen waren, um den herrlichen Mondschein zu genießen.

Während wir uns der Zugbrücke näherten, hörten wir die beiden angeregt plaudern. Wir gesellten uns zu ihnen und bewunderten gemeinsam das schöne Panorama.

Die Lichtung, die wir gerade durchquert hatten, lag vor uns. Zu unserer Linken wand sich der schmale Weg zwischen einzelnen majestätischen Baumgruppen hindurch und verlor sich im Waldesdickicht. Zu unserer Linken führte dieser Weg über die steile, malerische Brücke, in deren Nähe ein verfallener Turm stand, von dem aus früher der Paß bewacht wurde. Und hinter dieser Brücke erhob sich schroff ein bewaldeter Berg mit efeubewachsenen Felsen.

Über die Talwiesen stahlen sich dünne Nebelschwaden und hüllten alles in einen zarten Schleier. Hier und da konnte man den Fluß im Mondlicht schimmern sehen.

Es war ein unvergleichlich friedvoller, beglückender Anblick. Er stimmte mich, da ich noch unter dem Eindruck jenes Briefes stand, zwar recht melancholisch, doch der ruhigen Heiterkeit und dem fast unwirklichen Zauber dieser Szenerie konnte auch ich mich nicht entziehen. Zusammen mit meinem Vater, den das Malerische stets entzückt hat, sah ich schweigend in die nächtliche Landschaft hinaus. Hinter uns unterhielten sich die beiden Erzieherinnen über das Panorama und ergingen sich in Betrachtungen über den Mond.

Madame Perrodon, beleibt, in mittleren Jahren und romantisch veranlagt, gab poetische Ergüsse und Seufzer von sich, Mademoiselle De Lafontaine - die echte Tochter eines Deutschen, der, wie es hieß, in der Psychologie und Metaphysik bewandert und selbst so etwas wie ein Mystiker war - erklärte, daß der Mondschein von solcher Intensität spirituellen Vorgängen bekanntlich ungemein förderlich sei. Die Auswirkungen eines derart gleißenden Vollmondes seien vielfältig. Er beeinflusse Träume ebenso wie mondsüchtige und nervöse Menschen, und stehe in wunderbarem Zusammenhang mit dem Leben auf der Erde. Mademoiselle erzählte, ihr Cousin, Matrose auf einem Handelsschiff, sei in einer Nacht wie dieser auf Deck eingeschlafen, auf dem Rücken liegend, das Gesicht dem Mond zugekehrt, und habe geträumt, eine alte Frau habe sich in seine Wange verkrallt. Als er erwachte, sei sein Gesicht furchtbar verzerrt gewesen, und bis heute habe es sein Ebenmaß nicht ganz zurückgewonnen.

"Der Mond", sagte sie, "hat heute nacht starke odylische und magnetische Kräfte. Sehen Sie nur, wie die Schloßfenster in seinem Silberglanz funkeln und blitzen! Ist es nicht, als hätten unsichtbare Hände die Zimmer für Gäste aus dem Elfenreich erleuchtet?"

Es gibt Augenblicke, in denen wir uns nicht aufraffen können, an einer Unterhaltung teilzunehmen, in denen jedoch die Gespräche anderer unserem trägen Geist wohltun. So sah ich, während ich der angenehm plätschernden Konversation der Damen lauschte, stumm in die Nacht hinaus.

"Ich bin heute abend wieder einmal recht trübsinnig", sagte mein Vater nach langem Schweigen, und dann zitierte er Shakespeare, aus dessen Werken er uns vorzulesen pflegte. damit unser Englisch intakt blieb.

"Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht: Ich bin es satt; ihr sagt, das seid ihr auch. Doch wie ich dran kam, wie mir's angeweht ..."

"Wie es weitergeht, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich das Gefühl, als läge großes Unheil in der Luft. Wahrscheinlich hat der traurige Brief des Generals etwas damit zu tun."

In diesem Augenblick vernahmen wir vom Weg her den ungewohnten Klang von Wagenrädern und Pferdehufen.

Er schien sich von der Anhöhe hinter der Brücke zu nähern, und tatsächlich konnten wir kurz darauf eine Equipage erkennen. Zuerst sprengten zwei Reiter über die Brücke, dann erschien eine von vier Pferden gezogenen Karosse, der wiederum zwei Reiter folgten.

Das Gefährt war offenbar die Reisekutsche einer Persönlichkeit von Rang. Gebannt beobachteten wir das seltene Schauspiel. Wenige Augenblicke später wurde es noch dramatischer: Gerade als die Kutsche den höchsten Punkt der Brücke passiert hatte, scheute eines der Leitpferde, die anderen wurden von Panik ergriffen, schlugen ein paarmal wild aus, das ganze Gespann verfiel in Galopp, raste mit donnernden Hufen an den Vorreitern vorbei und wie ein Wirbelsturm auf uns zu. Aus der Kutsche drangen die gellenden, langgezogenen Schreie einer Frauenstimme und machten die Szene noch erregender.

 

Von Neugier und Entsetzen gepackt, liefen wir ein Stück vorwärts, mein Vater schweigend, wir anderen schreiend.

Das spannende Schauspiel fand ein jähes Ende. Kurz vor der Zugbrücke steht an der einen Seite des Weges eine herrliche Linde, an der anderen ein altes Steinkreuz. Als die rasenden Pferde dem Kreuz ausweichen wollten, gerieten die Wagenräder auf die knorrig aus dem Erdboden ragenden Wurzeln.

Ich ahnte, was nun geschehen würde. Um es nicht mit ansehen zu müssen, hielt ich mir die Augen zu und wandte mich ab. In diesem Moment hörte ich meine Begleiterinnen, die weitergelaufen waren, aufschreien.

Die Neugier bewog mich hinzusehen. Das Durcheinander war unbeschreiblich. Zwei Pferde waren gestürzt, die Kutsche war umgekippt, zwei Räder ragten in die Luft. Die Männer versuchten, die Pferde auszuschirren. Eine Dame von imposanter Statur und Haltung stand neben dem Gefährt, rang die Hände und führte immer wieder ihr Taschentuch an die Augen. Dann wurde die regungslose Gestalt eines jungen Mädchens aus der Kutsche gehoben. Mein guter alter Vater war bereits an der Seite der älteren Dame, hatte den Hut gezogen und bot ihr offenbar seine Hilfe und Gastfreundschaft an. Sie jedoch schien seine Worte nicht zu hören; sie hatte nur Augen für das schlanke Mädchen, das jetzt an der Uferböschung niedergelegt wurde. Ich ging langsam auf die Gruppe zu. Die junge Dame lebte, schien jedoch einen schweren Schock erlitten zu haben. Mein Vater, der sich für einen halben Arzt hielt, fühlte gerade ihren Puls und versicherte der anderen Dame, die sich als die Mutter des Mädchens ausgab, er könne ihn spüren, wenn auch schwach und unregelmäßig. Daraufhin faltete sie die Hände und blickte, wie von Dankbarkeit überwältigt, gen Himmel. Aber sofort verfiel sie wieder in jene theatralische Attitüde, die meiner Meinung nach bestimmten Menschen angeboren ist.

Für ihr Alter war sie eine gutaussehende Frau und früher dürfte sie sogar hübsch gewesen sein. Sie war hochgewachsen, aber nicht hager, trug schwarzen Samt, sah ziemlich blaß aus und hatte stolze, herrische Züge, die jetzt allerdings Erregung verrieten.

"War jemals ein Mensch so vom Unglück verfolgt wie ich?" sagte sie und rang die Hände. "Ich befinde mich auf einer Reise, bei der es um Leben und Tod geht. Eine einzige Stunde verlieren heißt vielleicht alles verlieren. Wann meine Tochter wohl gesund genug sein wird, um die Fahrt fortzusetzen, ist ungewiß. Ich muß sie zurücklassen, denn ich kann und darf nicht säumen. Können Sie, mein Herr, mir sagen, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist? Ich muß sie dort unterbringen, und dann werde ich meinen Liebling drei Monate lang nicht sehen, ja, nicht einmal von ihm hören."

Ich zupfte meinen Vater am Rock und flüsterte ihm aufgeregt zu: "Papa, frag´ doch, ob wir sie hierbehalten dürfen - es wäre herrlich! Bitte, frag´ sie doch!"

"Falls Madame ihr Kind der Pflege meiner Tochter und ihrer Gouvernante, Madame Perrodon, anvertrauen und erlauben wollten, daß die junge Dame bis zu Madames Rückkehr Gast unseres Hauses, unter meiner Obhut, ist, würden wir uns geehrt fühlen und ihr die Fürsorge angedeihen lassen, die einem so teuren Schützling zusteht."

"Dem kann ich unmöglich zustimmen, mein Herr, denn das hieße, Ihre Güte und Ritterlichkeit schamlos ausnutzen", erwiderte die Dame verwirrt.

"Ganz im Gegenteil! Sie würden uns damit einen großen Gefallen erweisen, und zwar gerade in einem Augenblick, da wir seiner dringend bedürfen. Meine Tochter ist heute bitter enttäuscht worden; ein grausames Mißgeschick hat sie um einen Gast gebracht, auf dessen Besuch sie sich seit langem gefreut hat. Es wird ihr ein großer Trost sein, wenn Sie uns die junge Dame anvertrauen. Das nächste Dorf auf Ihrer Route ist weit entfernt und hat kein Gasthaus, in dem Sie Ihre Tochter einquartieren könnten. Ihr jetzt eine längere Fahrt zuzumuten, wäre gefährlich. Wenn Sie sich wirklich keine Unterbrechung leisten können, müssen Sie sich noch heute nacht von ihr trennen, und nirgends wird ihr eine liebevollere Pflege zuteil werden als bei uns."

Das Auftreten und die Erscheinung der Dame hatte etwas so Distinguiertes, ja Achtunggebietendes, daß man, selbst wenn man die vornehme Equipage nicht gesehen hätte, sicher gewesen wäre, eine Persönlichkeit von Rang und Namen vor sich zu haben.

Inzwischen stand die Kutsche wieder auf den Rädern, die Pferde hatten sich beruhigt und waren wieder angeschirrt.

Die Dame warf ihrer Tochter einen Blick zu, der mir nicht ganz so liebevoll vorkam, wie es nach dem Vorausgegangenen zu erwarten gewesen wäre. Dann winkte sie meinen Vater zu sich und redete ernst und bestimmt auf ihn ein - ganz anders als zuvor.

Ich war sehr erstaunt, daß mein Vater diese Wandlung nicht zu bemerken schien, aber auch unbeschreiblich neugierig, zu erfahren, was sie ihm so eilig zugeflüstert hatte.

Das Ganze dauerte zwei, höchstens drei Minuten, dann wandte sie sich ab und ging hinüber zu ihrer Tochter, die, von Madame Perrodon gestützt, noch immer auf der Erde lag. Die Dame kniete einen Augenblick bei ihr nieder und flüsterte ihr etwas zu, das Madame für einen kurzen Segenswunsch hielt. Dann küßte sie sie hastig, bestieg die Kutsche, die Wagentür wurde geschlossen, die Lakaien in ihren prächtigen Livreen sprangen hinten auf, die Vorreiter gaben den Pferden die Sporen, die Kutscher ließen die Peitschen knallen, die Pferde stampften, preschten los, als wollten sie sofort wieder in wilden Galopp fallen, und die Karosse jagte davon, gefolgt von den beiden Nachreitern.

Kapitel 3

Wir tauschen Erinnerungen aus

Wir sahen der Dame und ihrem Gefolge nach, bis sie im nebligen Wald verschwunden waren, und lauschten dem Klang der Hufe und Räder, bis er sich in der Nacht verlor.

Der einzige Beweis dafür, daß wir dieses Abenteuer nicht nur geträumt hatten, war die junge Dame, die in diesem Moment die Augen aufschlug. Ihr Gesicht war mir abgewandt, aber ich sah, wie sie den Kopf hob, offenbar um sich zu orientieren, und hörte sie mit sanfter, klagender Stimme fragen: "Wo ist Mama?"

Unsere treue Madame Perrodon beschwichtigte sie in liebevollem Ton.

Dann hörte ich das Mädchen fragen:

"Wo bin ich? Warum liege ich hier?" Und dann: "Wo ist die Kutsche? Und wo ist Matska?"

Madame beantwortete ihre Fragen, soweit sie ihr verständlich waren. Allmählich erinnerte sich die junge Dame des unglückseligen Vorfalls und zeigte sich erfreut darüber, daß weder die Insassen der Kutsche noch die Bediensteten verletzt waren. Als sie erfuhr, daß die Mutter sie bis zu ihrer Rückkehr in drei Monaten hier zurückgelassen hatte, begann sie zu weinen.

Ich wollte zu ihr gehen, um sie gemeinsam mit Madame Perrodon zu trösten, doch Mademoiselle De Lafontaine hielt mich zurück.

"Geh´ nicht hin! Sie darf jetzt nicht zuviel sprechen. Die geringste Erregung könnte ihr schaden." "Sobald sie ruhig im Bett liegt", dachte ich bei mir, "gehe ich hinauf und besuche sie."

Inzwischen hatte mein Vater einen Diener beauftragt, zum Arzt, der etwa sechs Meilen entfernt wohnte, zu reiten. Im Schloß wurde bereits ein Schlafzimmer für die junge Dame hergerichtet. Nun erhob sich die Fremde und ging, auf Madames Arm gestützt, langsam über die Zugbrücke und durchs Schloßtor. In der Halle standen Bedienstete bereit, um sie zu ihrem Zimmer zu begleiten.

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