Reise zum Mittelpunkt der Erde

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Reise zum Mittelpunkt der Erde
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REISE

ZUM

MITTELPUNKT

DER ERDE

JULES VERNE

MIT DEN ILLUSTRATIONEN DER ORIGINALAUSGABE


Mit den Illustrationen der

französischen Originalausgabe des

Verlages J. Hetzel & Cie.

Nach der deutschen Übersetzung des

A. Hartleben’s Verlages (1874-1911)

der neuen Rechtschreibung angepasst.

Leicht bearbeitet durch den Wunderkammer Verlag.

© 2013 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Hamburg

Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe

(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf

elektronischen Systemen, vorbehalten.

All rights reserved.

Titelabbildung: cjruslan – Fotolia.com

Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg

E-Book Erstellung: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH ISBN: 978-3-86820-953-2 www.nikol-verlag.de

1. Professor Lidenbrock

ERSTES KAPITEL Professor Lidenbrock

A

m 24. Mai 1863, eines Sonntags, kam mein Onkel, der Professor Lidenbrock, in hastiger Eile heim in sein kleines Haus, Königstraße 19, eine der ältesten Straßen des alten Stadtviertels von Hamburg. Die gute Martha musste glauben, sehr mit dem Mittagessen in Rückstand zu sein, denn es fing eben erst an, auf dem Herde zu kochen. »Schön«, sagte ich, »aber wenn mein Onkel Hunger hat, wird der ungeduldige Mann zetern.« »Da ist ja schon Herr Lidenbrock!«, rief die gute Martha bestürzt, indem sie die Tür des Speisezimmers ein wenig öffnete.

»Ja, Martha, aber das Essen darf schon noch etwas kochen, denn es hat eben erst auf der Michaeliskirche halb zwei geschlagen.« »Warum kommt aber Herr Lidenbrock schon heim?« »Er wird es uns vermutlich sagen.«

»Da ist er! Ich flüchte mich, Herr Axel, Sie werden ihn zur Einsicht bringen.« Und die gute Martha eilte wieder in ihre Küche.

Ich blieb allein. Aber einen zornigen Professor zur Einsicht zu bringen, war doch für meinen etwas schwankenden Charakter nicht möglich. Daher war ich im Begriff, mich tunlichst wieder in mein Zimmerchen hinaufzubegeben, als die Angeln der Haustür knarrten; des Hausherrn lange Beine schritten geräuschvoll über die hölzerne Treppe quer durch das Speisezimmer, hastig in sein Arbeitskabinett. Im Vorbeirennen warf er seinen Stock, der einen Nussknackerkopf hatte, in eine Ecke, seinen gegen den Strich gebürsteten Hut auf einen Tisch, und rief laut zu seinem Neffen:

»Axel, komm mir nach!«

Ich hatte noch nicht Zeit, vom Fleck zu kommen, als mir der Professor mit lebhafter Ungeduld zurief:

»Nun! Noch nicht hier?«

Ich eilte ins Zimmer meines launischen Onkels. Otto Lidenbrock war kein bösartiger Mensch, ich gebe es gerne zu; aber sofern er sich nicht ändert, was sehr unwahrscheinlich ist, so wird er als ein schrecklicher Sonderling sterben. Er war Professor am Johanneum, und hielt Vorlesungen über Mineralogie, wobei er regelmäßig ein- oder auch zweimal in Zorn geriet. Es kam ihm durchaus nicht darauf an, dass seine Schüler fleißig die Lektionen besuchten, noch dass sie aufmerksam zuhörten, noch dass sie Fortschritte machten: Diese Kleinigkeiten machten ihm wenig Sorge. Sein Vortrag war, wie die deutsche Philosophie sich ausdrückt, ›subjektiv‹ für ihn, und nicht für andere. Es war ein egoistischer Gelehrter, ein Wissensbrunnen, dessen Rolle knarrte, wenn man etwas herausziehen wollte: mit einem Wort, ein Geizhals. Es gibt in Deutschland manche Professoren dieser Art. Mein Onkel hatte leider keine leichte Aussprache, wenigstens wenn er öffentlich sprach, ein bedauerlicher Mangel bei einem Redner. Bei seinen Vorlesungen im Johanneum blieb der Professor oft plötzlich stecken; er rang mit einem störrischen Ausdruck, der nicht von seinen Lippen wollte, einem Ausdruck, der sich sträubt und aufbläht bis er endlich in der unwissenschaftlichen Form eines Fluches herauskommt. Darüber gab es arge Erzürnung. Nun gibt es in der Mineralogie viele halb griechische, halb lateinische Benennungen, die schwer auszusprechen sind, so holperig rau, dass sie für eines Dichters Lippen eine Qual darstellen. Ich will dieser Wissenschaft nichts Übles nachsagen. Aber in Bezug auf rhomboëdrische Kristallisationen, retinasphaltische Harze, von Gheleniden, Fangasiden, Molybdaten, Tungstaten und Zirkontitaniaten darf die geläufigste Zunge auch einmal fehlerhaft aussprechen. In der Stadt nun kannte man diese verzeihliche Schwäche meines Onkels, und man machte sich über ihn lustig; man lauerte ihm auf, reizte ihn zum Zorn und lachte ihn aus, was auch in Deutschland durchaus nicht als anständig gilt. Und waren die Zuhörer Lidenbrocks stets zahlreich, so kamen sie meist deshalb, um sich an dem ergötzlichen Zorn des Professors zu belustigen.


Wie dem auch sein mag, mein Onkel war – das kann ich nicht genug betonen – ein echter Gelehrter. Obwohl er manchmal bei allzu holprigen Versuchen seine Musterstücke zerschlug, verband er mit dem Genie des Geologen den Blick des Mineralogen. Mit seinem Hammer, seiner stählernen Spitzhacke, seiner Magnetnadel, seinem Lötrohr und seinem Fläschchen Salpetersäure war der Mann sehr beflissen. Er verstand jedes beliebige Metall nach dem Bruch, dem Aussehen, der Härte, der Schmelzbarkeit, dem Ton, dem Geruch oder dem Geschmack ohne viel Bedenken in die Klassifikation der 600 heute bekannten Gattungen einzureihen. Daher hatte Lidenbrocks Name in den Gymnasien und Vereinen auch einen ehrenvollen Klang. Humphry Davy und von Humboldt, die Kapitäne Franklin und Sabine, statteten ihm jedesmal auf ihrer Reise durch Hamburg einen Besuch ab. Becquerel, Ebelmen, Brewster, Dumas, Milne-Edwards, Sainte-Claire Deville befragten ihn gerne über wichtige Aspekte der Chemie. Diese Wissenschaft verdankte ihm hübsche Entdeckungen, und im Jahre 1853 war in Leipzig von Otto Lidenbrock eine Abhandlung über TRANSZENDENTALE KRISTALLOGRAPHIE in Großfolio mit Abbildungen erschienen, welche die Kosten jedoch nicht deckte. Zudem war mein Onkel Konservator des mineralogischen Museums des russischen Gesandten Struve, welches europäischen Ruf hatte. Dieser Mann war es, der mich so ungeduldig herbeirief. Ein großer, magerer Mann mit eiserner Gesundheit. Sein blondes Haar verlieh ihm jugendliches Aussehen, sodass er zehn Jahre jünger wirkte als er tatsächlich war. Er hatte große, unablässig rollende Augen hinter einer ansehnlichen Brille; eine lange feine Nase, gleich einer scharfen Klinge; böse Zungen behaupteten, sie sei magnetisch und ziehe den Eisenstaub an. Pure Verleumdung: Sie zog nur den Tabak in sich ein, und zwar, um der Wahrheit ihr Recht zu geben, in reichlichem Maße. Wenn ich noch hinzufüge, dass mein Onkel, mathematisch gemessen, drei Fuß lange Schritte machte, und ferner bemerke, dass er mit fest geschlossenen Händen – was ein heftiges Temperament bezeichnet – einherging, so kennt man ihn hinlänglich, um auf seine Gesellschaft nicht sehr erpicht zu sein. Er wohnte in der Königstraße in einem eigenen kleinen Hause, das halb aus Holz, halb aus Ziegelstein gebaut war, mit ausgezacktem Giebel; es lag an einem der Kanäle, welche in Schlangenwindungen durch das älteste Viertel Hamburgs ziehen, das von dem großen Brand im Jahre 1842 glücklich verschont blieb; sein Dach saß ihm so schief, wie einem Studenten des Tugendbundes die Mütze über den Ohren; an seine Seiten durfte man das Senkblei nicht anlegen; aber im Ganzen war es standfest, dank einer kräftigen, in die Vorderseite eingepassten Ulme, die im Frühling ihre blühenden Zweige durch die Fensterscheiben trieb.



Für einen deutschen Professor war mein Onkel reich zu nennen. Das Haus war samt Inhalt sein volles Eigentum. Zu dem Inhalt gehörte sein Mündel, Gretchen, ein siebzehnjähriges Mädchen aus den Vierlanden, die gute Martha und ich. In meiner doppelten Eigenschaft als Neffe und Waise wurde ich bei seinen Experimenten zu seinem Laborgehilfen. Ich gestehe, dass ich an den geologischen Wissenschaften Lust hatte; es floss mineralogisches Blut in meinen Adern, und ich langweilte mich nie in Gesellschaft meiner kostbaren Steine. Übrigens konnte man doch in diesem kleinen Hause der Königstraße glücklich leben, trotz der ungeduldigen Art seines Eigentümers, denn obwohl er sich etwas brutal benahm, liebte er mich doch. Aber der Mann verstand nicht zu warten und eilte sogar der Natur voran. Wenn er im April in die Fayence-Töpfe seines Salons Stöckchen Reseda- oder Windensetzlinge pflanzte, zupfte er sie jeden Morgen an den Blättern, um ihr Wachstum zu beschleunigen. Bei einem solchen Original war nichts anderes möglich, als zu gehorchen. Ich stürzte daher hastig in sein Arbeitszimmer.

2. Ein altes Dokument

ZWEITES KAPITEL Ein altes Dokument

D

ieses Kabinett war ein wahrhaftes Museum. Alle Musterstücke aus dem Reich der Mineralien fanden sich da mit Etiketten versehen in vollständigster Ordnung aufgereiht, nach den drei großen Abteilungen der brennbaren, metallischen und steinartigen Mineralien. Wie war ich mit diesem Spielzeug der mineralogischen Wissenschaft vertraut! Wie oft hatte ich, anstatt mit meinen Kameraden meine Zeit zu vertändeln, meine Freude daran, diese Graphiten, Anthraziten, Ligniten, die Kohlen und Torfe abzustauben! Und die Harze, Erdharze, organischen Salze, die vor den geringsten Stäubchen zu schützen waren! Und diese Metalle, vom Eisen bis zum Gold, deren relativer Wert vor der absoluten Gleichheit der wissenschaftlichen Gattungen verschwand! Und all die Steine, womit man das Haus an der Königstraße hätte neu aufbauen können, und noch ein schönes Zimmer dazu, worin ich mich recht hübsch eingerichtet hätte! Als ich aber in das Arbeitszimmer trat, dachte ich nicht an diese Wunder; mein einziger Gedanke war mein Onkel. Er war in seinem großen, mit Utrechter Samt beschlagenen Lehnstuhl vergraben und hielt ein Buch in den Händen, das er mit tiefster Bewunderung anschaute.

 

»Welch ein Buch! Welch ein Buch!«, rief er aus. Dieser Ausruf erinnerte mich daran, dass der Professor Lidenbrock auch ein zeitweiliger Büchernarr war; eine alte Scharteke hatte in seinen Augen nur insofern Wert, als sie schwer aufzufinden oder wenigstens unleserlich war.

»Aber«, sagte er, »siehst du denn nicht? Das ist doch ein unschätzbares Kleinod, das ich heute Morgen im Laden des Juden Hevelius aufgefunden habe.«

»Prachtvoll!«, entgegnete ich mit geheucheltem Enthusiasmus. Wahrhaftig, wozu so viel Lärm um einen alten Quartanten in Kalbsleder, eine vergilbte Scharteke mit verblassten Buchstaben.

Der Professor fuhr indessen fort in unerschöpflicher Bewunderung, indem er sich selbst fragte und antwortete:

»Siehst du, ist es nicht hübsch? Ja, wunderschön! Was für ein Einband! Wie leicht lässt es sich aufschlagen! Wie schön schließen die Blätter, dass sie nirgends auseinander klaffen! Und an diesem Rücken sieht man nach sieben Jahrhunderten noch keinen Riss!«

Ich konnte nichts Besseres tun, als ihn über den Inhalt zu fragen, obwohl der mich wenig kümmerte.

»Und wie ist denn der Titel des merkwürdigen Buches?«, fragte ich hastig.

»Dieses Werk«, entgegnete mein Onkel lebhaft, »ist die ›Heimskringla‹ von Snorri Sturleson, dem berühmten isländischen Chronisten des 12. Jahrhunderts! Es enthält die Geschichte der norwegischen Fürsten, die auf Island herrschten!«

»Wirklich?«, fragte ich so erfreut wie möglich. »Und gewiss eine deutsche Übersetzung?«

»Schön!«, antwortete der Professor lebhaft. »Eine Übersetzung! Und was ist mit der Übersetzung anzufangen? Wer kümmert sich um eine solche? Es ist ein Originalwerk in isländischer Sprache, dem prächtigen, reichen und zugleich einfachen Idiom!«

»Wie das Deutsche«, fügte ich schmeichelnd bei.

»Ja«, entgegnete mein Onkel mit Achselzucken, ohne zu berücksichtigen, dass die isländische Sprache die drei Geschlechter bezeichnet wie im Griechischen und die Eigennamen dekliniert werden wie im Lateinischen!

»Oh!«, rief ich, indem ich meiner Gleichgültigkeit Gewalt antat. »Und wie schön sind die Lettern!«

»Lettern! Was meinst du, Lettern? Wie? Du meinst, das sei gedruckt? Nein, Dummer, es ist ein Manuskript, ein Runen-Manuskript!«

»Runen?«

»Ja! Begehrst du nun eine Erklärung dieses Wortes!«

»Das lass ich bleiben«, entgegnete ich mit dem Ton eines Beleidigten.

Aber mein Onkel fuhr umso eifriger fort, mich gegen meinen Willen über Dinge zu belehren, die ich zu wissen gar nicht Lust hatte.

»Die Runen«, fuhr er fort, »waren Schriftzeichen, die vor uralten Zeiten auf Island gebräuchlich waren und von Odin selbst erfunden sein sollen! Aber schau doch her, bewundere doch, Gottloser, die von einem Gott ausgedachten Zeichen!«

Wahrhaftig, anstatt zu antworten, fiel ich auf die Knie, eine Antwort, die Göttern und Königen gefällt. Ein Zwischenfall gab der Unterhaltung eine andere Wendung. Ein schmutziges Pergament fiel aus der Scharteke heraus auf den Boden. Mit begreiflicher Gier fiel mein Onkel über diesen Zettel her. Ein altes Dokument, das vielleicht seit unvordenklicher Zeit in einem alten Buche lag, musste in seinen Augen unfehlbar sehr kostbar sein.

»Was ist das?«, fragte er und entfaltete zugleich sorgfältig auf dem Tisch ein fünf Zoll langes, drei Zoll breites Pergamentstück, worauf sich in Querzeilen ein unverständliches Gekritzel von Schriftzügen befand. Ich gebe hier ein genaues Faksimile derselben. Es ist mir darum zu tun, diese seltsamen Zeichen zur Anschauung zu bringen, weil sie den Professor Lidenbrock nebst seinem Neffen zu der sonderbarsten Unternehmung des 19. Jahrhunderts veranlassten!


Der Professor betrachtete diese Zeichen eine Weile; dann sprach er, indem er seine Brille höher rückte:

»Es ist Runisch; diese Zeichen sind denen auf dem Manuskript Snorri Sturlesons völlig gleich! Aber was mag das nur bedeuten?«

Da es mir schien, das Runische sei eine Erfindung der Gelehrten, um die ungelehrten Leute zu hintergehen, so war es mir nicht unlieb, dass mein Onkel nichts davon verstand. Das nahm ich wenigstens aus seinen Fingerbewegungen ab.

»Es ist doch Alt-Isländisch«, brummte er in seinen Bart. Und der Professor Lidenbrock musste das wohl verstehen, denn er galt für ein Wunder von einem Sprachenkenner. Die 2.000 Sprachen und 4.000 Dialekte, die man auf der Erde kennt, verstand er nicht nur geläufig, sondern sprach davon auch einen guten Teil. Um dieser Schwierigkeit willen war er im Begriff, sich allen Stürmen seines heftigen Gefühls hinzugeben, als es auf der kleinen Uhr des Kamins zwei schlug und die gute Martha die Tür mit den Worten öffnete:

»Die Suppe ist aufgetragen.«

»Zum Henker mit der Suppe«, schrie mein Onkel, »samt der Köchin und wer sie verzehrt!« Martha entfloh, ich eilte ihr nach und befand mich, ohne zu wissen wie, an meinem gewohnten Platz im Speisezimmer. Ich wartete eine Weile. Der Professor kam nicht. Zum ersten Mal, solange ich denken kann, erschien er nicht zum Mittagessen. Und doch, welch hervorragendes Essen! Petersiliensuppe, Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbsnierenbraten mit Pflaumenkompott und zum Dessert Meerkrebschen mit Zucker und dazu ein hübscher Moselwein. Das alles versäumte mein Onkel über dem alten Papier.

Wahrhaftig, als ergebener Neffe glaubte ich mich dazu verpflichtet, für uns beide essen zu müssen. Und ich tat es gewissenhaft.

»Das habe ich noch nie erlebt«, sagte die gute Martha. »Herr Lidenbrock nicht bei Tische!«

»Unglaublich.«

»Das hat etwas Schlimmes zu bedeuten!«, fuhr die Alte mit Kopfschütteln fort.

Meines Erachtens bedeutete es nichts anderes, als eine fürchterliche Szene, wenn mein Onkel sein Essen aufgezehrt finden würde. Ich war an meinem letzten Krebschen, als mich eine laut hallende Stimme den Genüssen des Nachtisches entzog. Mit einem Sprung war ich im Kabinett des Herrn.

3. Das Pergament des Arne Saknussemm

DRITTES KAPITEL Das Pergament des Arne Saknussemm

E

s ist offenbar Runisch«, sagte der Professor mit Stirnrunzeln. »Und ich muss das Geheimnis, das dahintersteckt, entdecken, sonst ...« Und er machte eine heftige Bewegung mit der Hand.

»Setz dich dahin«, fuhr er fort, indem er auf den Tisch wies, »und schreib!« Im Augenblick war ich bereit.

»Jetzt will ich dir jeden Buchstaben unseres Alphabets diktieren, sowie er mit einem dieser Schriftzüge übereinstimmt. Wir werden sehen, was dabei herauskommen wird. Aber nimm dich wohl in Acht, dass du nichts falsch machst!«

Er fing an zu diktieren, und ich gab mir alle Mühe. Er benannte jeden Buchstaben, einen nach dem andern, und so bildeten sich folgende unverständliche Worte:


m.rnlls esreuel seecJde
sgtssmf unteief niedrke
kt,samn atrates Saodrrn
emtnael nuaect rrilSa
Atvaar .nscrc ieaabs
ccdrmi eeutul frantu
dt,iac oseibo Kediiy

Als dies fertig war, nahm mein Onkel hastig das Blatt, auf das ich geschrieben hatte.

»Was soll das bedeuten?«, wiederholte er mechanisch.

Bei meiner Ehre, ich hätte es ihm nicht sagen können. Übrigens fragte er mich auch nicht und sprach weiter mit sich selbst:

»Das bezeichnen wir als eine Geheimschrift«, sagte er, »worin der Sinn hinter absichtlich durcheinander gemischten Buchstaben versteckt ist, welche in gehöriger Folge geordnet, eine verständliche Phrase bilden würden. Darin steckt vielleicht die Erklärung oder Andeutung einer großen Entdeckung!«

Ich für meinen Teil dachte, es stecke gar nichts dahinter, aber ich hütete mich wohl, meine Meinung auszusprechen. Der Professor nahm darauf das Buch und das Pergament und verglich sie beide miteinander.

»Diese beiden Schriften sind nicht von derselben Hand; das Geheimschriftstück ist späteren Ursprungs als das Buch, wie ich das gleich vorne aus einem unwiderlegbaren Beweis ersehe. In der Tat, der erste Buchstabe ist ein doppeltes M, das sich in Sturlesons Buch nicht findet, denn es wurde dem isländischen Alphabet erst im 14. Jahrhundert hinzugefügt. Also liegen wenigstens zwei Jahrhunderte zwischen dem Manuskript und dem Dokument.«

Das schien mir allerdings ziemlich folgerichtig.

»Das bringt mich auf den Gedanken«, fuhr mein Onkel fort, »dass diese geheimnisvolle Schrift von einem Besitzer des Buches verfasst worden sein könnte. Aber wer zum Henker war dieser Besitzer? Sollte er seinen Namen nicht irgendwo unter das Manuskript gesetzt haben?«

Mein Onkel setzte seine Brille höher, nahm eine starke Lupe und musterte sorgfältig die ersten Seiten des Buches. Auf der zweiten Rückseite entdeckte er eine Art Flecken, der wie ein Tintenklecks aussah; aber genauer besehen unterschied man einige halb verloschene Schriftzüge. Mein Onkel begriff, dass es auf diesen Punkt ankomme; er machte sich also auf das Eifrigste darüber her und erkannte endlich mit Hilfe seiner Lupe die folgenden Runenschriftzeichen, welche er ohne Schwierigkeiten lesen konnte:


»Arne Saknussemm!«, rief er triumphierend aus. »Aber das ist ein Name und noch dazu ein isländischer, der eines Gelehrten des 16. Jahrhunderts, eines berühmten Alchimisten.«

Ich schaute meinen Onkel mit einigem Erstaunen an.

»Diese Alchimisten«, fuhr er fort, »Avicenne, Bacon, Lulle, Paracelsus waren die einzigen, die wirklichen Gelehrten dieser Epoche. Sie haben Entdeckungen gemacht, worüber wir erstaunt sein dürfen. Warum sollte nicht dieser Saknussemm in dieser Geheimschrift eine auffallende Entdeckung verborgen haben? So muss es sein. So ist es bestimmt!«

Bei dieser Hypothese erhitzte sich die Phantasie des Professors.

»Ganz gewiss«, erklärte er kühn. »Aber was konnte dieser Gelehrte für ein Interesse daran haben, eine merkwürdige Entdeckung geheim zu halten? Warum? Warum? Ja, weiß ich es? Hat es nicht Galilei ebenso gemacht in Beziehung auf Saturn? Übrigens, wir werden schon sehen: Ich werde das Geheimnis dieses Dokuments herausbekommen, und ich werde weder essen noch schlafen, bis ich es heraus habe.«

›Oh!‹, dachte ich.

»Du ebenfalls nicht, Axel!«, fuhr er fort.

›Teufel!‹, dachte ich, ›da ist es ja gut, dass ich die doppelte Mahlzeit gegessen habe.‹

»Und ernsthaft«, sagte mein Onkel, »gilt es, die Sprache dieser Chiffre herauszufinden. Das kann doch nicht so schwer sein.«

Bei diesen Worten hob ich lebhaft den Kopf. Mein Onkel fuhr fort, mit sich selbst zu sprechen:

»Es gibt nichts Leichteres. Dieses Dokument enthält 132 Buchstaben, davon 79 Konsonanten und 53 Vokale. In diesem Verhältnis stehen die Buchstaben auch in den südlichen Sprachen, während die Idiome des Nordens wesentlich mehr Konsonanten aufweisen. Es handelt sich also um eine Sprache des Südens.«

 

Diese Schlussfolgerungen waren richtig.

»Aber was für eine Sprache ist es?«

»Dieser Saknussemm«, fuhr er fort, »war ein gelehrter Mann; wenn er also nicht in seiner Muttersprache schrieb, musste er der unter den gebildeten Köpfen des 16. Jahrhunderts geläufigen Sprache den Vorzug geben, der lateinischen nämlich. Irre ich darin, so kann ich mit dem Spanischen, dem Französischen, Italienischen, Griechischen oder Hebräischen den Versuch unternehmen. Aber die Gelehrten des 16. Jahrhunderts schrieben im Allgemeinen lateinisch. Ich darf also als selbstverständlich annehmen, es sei Latein.«

Ich sprang von meinem Stuhl auf. Meine Erinnerungen aus der Lateinschule sträubten sich gegen die Behauptung, diese Gruppe seltsamer Worte könne der sanften Sprache Vergils angehören.

»Ja! Latein!«, fuhr mein Onkel fort. »Aber verworrenes Latein.«

»Das mag wohl sein!«, sagte ich. »Wenn du es entwirrst, lieber Onkel, bist du ein feiner Kopf.«

»Untersuchen wir es genauer«, sagte er, und nahm das von mir beschriebene Blatt wieder zur Hand. »Hier ist eine Gruppe von 132 Buchstaben, die wir in vollständiger Verworrenheit finden. Da sind Worte, worin nur Konsonanten vorkommen, wie das erste ›m.rnlls‹, andere dagegen, worin die Vokale überwiegen, z. B. das fünfte: ›unteief‹, oder das vorletzte: ›oseibo‹. Nun ist diese Gruppierung offenbar nicht so zusammengesetzt worden; sie wurde durch ein uns nicht bekanntes Verhältnis, nach welchem die Aneinanderreihung dieser Buchstaben bestimmt wurde, mathematisch angegeben. Ich halte es für sicher, dass die ursprüngliche Phrase regelmäßig geschrieben und dann nach einem System, das man herausfinden muss, umgebildet wurde. Wer den Schlüssel dieser Chiffre besäße, würde sie leicht lesen können. Aber was ist das für ein Schlüssel? Axel, kennst du ihn?«

Auf diese Frage wusste ich nicht zu antworten; und das aus gutem Grund. Meine Blicke waren auf ein reizendes Porträt, das an der Wand hing, geheftet, das Porträt Gretchens. Das Mündel meines Onkels befand sich damals in Altona bei einer Verwandten, und ich war über ihre Abwesenheit sehr betrübt, denn, jetzt kann ich es gestehen, die hübsche Vierländerin und der Neffe des Professors liebten sich mit echt deutscher Herzlichkeit und Inbrunst. Wir hatten uns ohne Wissen unseres Onkels verlobt, der allzu viel Geologe war, um für solche Gefühle etwas übrig zu haben. Gretchen war eine reizende Blondine mit blauen Augen, von etwas abgeklärtem Charakter und ernstem Sinn; aber sie liebte mich darum nicht minder. Ich meinerseits betete sie an, sofern dieser Begriff im Altdeutschen existiert! Das Bild meiner kleinen Vierländerin versetzte mich also auf einmal aus der wirklichen Welt in die Welt der Träume, der Erinnerungen. Ich erblickte in diesem Bild die treue Genossin meiner Arbeiten und Freuden. Sie half mir tagtäglich die köstlichen Steine meines Onkels zu ordnen und mit Etiketten zu versehen. Fräulein Gretchen war in der Mineralogie sehr bewandt! Sie hätte darin mehr als ›einen‹ Gelehrten ausstechen können. Sie befasste sich gerne damit, schwierige Fragen der Wissenschaft zu ergründen. Welch süße Stunden hatten wir mit gemeinsamen Studien verbracht! Und wie oft beneidete ich die gefühllosen Steine um das Glück, von ihren reizenden Händen betastet zu werden! Danach, wenn die Erholungszeit kam, wandelten wir miteinander durch die belaubte Alsterallee und besuchten zusammen die alte beteerte Mühle, die sich am Ende des Sees so gut ausnimmt; unterwegs plauderten wir Hand in Hand. Ich erzählte ihr Dinge, worüber sie herzlich lachte. So kamen wir bis zum Elbufer, und nachdem wir den Schwänen, die zwischen den großen weißen Seerosen schwimmen, gute Nacht gesagt hatten, begaben wir uns mit dem Dampfboot wieder zum Kai. Als ich in meinem Träumen hier ankam, wurde ich von meinem Onkel durch einen Faustschlag auf den Tisch gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen.

»Sehen wir«, sagte er, »die erste Idee, die sich dem Geist darbietet, um die Buchstaben einer Phrase aus ihrer Ordnung zu bringen, besteht, dünkt mir, darin, dass man die Worte, anstatt horizontal, vertikal schreibt. Wir müssen uns anschauen, was dabei herauskommt. Axel, schreib irgendeinen Satz auf diesen Zettel; aber anstatt die Buchstaben nebeneinander zu stellen, setze sie in vertikalen Reihen einen nach dem andern, und zwar in Gruppen von fünf bis sechs.«

Ich begriff, wie es gemeint war und schrieb sogleich von oben nach unten:


»Gut!«, sagte der Professor, ohne es gelesen zu haben. »Jetzt schreibe diese Worte in eine horizontale Zeile!«

Ich gehorchte und bekam folgende Phrase:

Iermtt chdzeech lilise ichinGn ehchgr! be,ue.

»Ganz recht so«, sagte mein Onkel und riss mir den Zettel aus der Hand. »Das sieht schon aus wie das alte Dokument: Die Vokale stehen so wie die Konsonanten in der nämlichen Unordnung gruppiert; da sind selbst Anfangsbuchstaben sowie Kommas in der Mitte der Worte, ganz wie in dem Pergament des Saknussemm!«

Ich konnte nicht umhin, diese Bemerkung für recht sinnreich zu halten.

»Nun«, fuhr mein Onkel fort. »Um die Phrase, welche du geschrieben hast und deren Inhalt ich nicht kenne, zu lesen, brauche ich nur zuerst den ersten Buchstaben jedes Wortes aneinanderzureichen, dann jeden zweiten, danach den dritten usw.«

Und mein Onkel las zu seinem und meinem größten Erstaunen:

›Ich liebe dich herzlich, mein gutes Gretchen!‹

»Oho!«, sagte der Professor.

Ja, unversehens hatte ich als verliebter Tölpel diese verräterische Zeile geschrieben!


»So! Du liebst Gretchen?«, fuhr mein Onkel in echtem Vormundston fort.

»Ja ... Nein ...«, stotterte ich.

»Du liebst also Gretchen!«, wiederholte er wie eine Maschine. »Nun, wenden wir mein Verfahren auf das fragliche Dokument an.«

Mein Onkel war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht. Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Händen nahm er das alte Pergament wieder vor. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig und diktierte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammennahm, die folgenden Gruppen:

messunka Senr A.icefdok segnittamurtn

ecertserrette, rotaivsadua, ednecsedsadne

lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek

meretarcsiluco YsleffenSnI

Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden, in Gemütsbewegung. In diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden stattlich eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen. Aber wer hätte das gedacht? Ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte empor spritzte und die Feder meinen Händen entfiel.

»Das ist es nicht!«, schrie mein Onkel. »Das macht keinen Sinn!«

Darauf stürzte er schnell wie eine Kugel durch das Kabinett, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königstraße und entfloh mit schnellen Schritten.

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