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1. KAPITEL
Ich wurde in eine Welt hineingeboren, die mir bereits von meinem ersten Schrei an feindlich gesinnt war. Jenem ersten Schrei, den ich vermutlich in einem Wald wie diesem hier tat, fern jeder Menschenseele.
Menschen wie ich waren keine Seltenheit.
Menschen… ich wusste nicht einmal, ob ich tatsächlich jenem Volk angehörte, da ich nichts über meine Vorfahren wusste. Doch zumindest dem Aussehen nach glich ich den Menschen, hatte die Statur eines kräftigen Mannes, schlanke Beine, die sowohl lange Märsche als auch schnelles Laufen und das Erklimmen niedriger Mauern gewohnt waren, große Hände, die den Schwertgriff fest umschlossen oder den Bogen spannten, eine muskelbepackte Brust, die von Narben überzogen war, Ohren, die das leiseste Geräusch wahrnahmen, das dunkle Haar der Südländer, leicht gebräunte Haut, einen Mund, der selten sprach, und Augen, die hinter den verzerrten Fratzen der Stadtbürger die dunklen Seiten der Seele zu erkennen vermochten.
Menschen wie ich waren keine Seltenheit.
Wie viele Kinder mögen wohl jedes Jahr in den Wäldern fernab der Siedlungen ausgesetzt werden? Zwar war das Ausstoßen von Kindern unter Androhung der Todesstrafe verboten worden, doch wenn ein Vater nicht genügend Korn für das Brot erntete und die Brust der Mutter durch die vielen Kinder bereits ausgezehrt war, wurde das jüngste Kind – das den Winter ohnehin nicht überstanden hätte – nach wie vor auf diese Weise seinem eigenen Schicksal überlassen.
Nur sehr wenige dieser Kinder überstanden die ersten paar Nächte im Freien. Wenn überhaupt, war das nur in der warmen Jahreszeit möglich, weshalb ich das Licht der Welt wohl im Frühsommer erblickt haben musste.
Ein Kind konnte nur überleben, wenn sich ein Fremder – meist waren es Reisende – seiner annahm. Der Kaiser hatte ein Gesetz erlassen, demzufolge ein jeder Findling aufgenommen werden musste. Ob es befolgt wurde, konnte jedoch nie wirklich kontrolliert werden, und so appellierte es an jene, die ohnehin Erbarmen mit einem solchen Kind hatten. Diese Findlinge oder Ausgestoßenen, wie man meinesgleichen abwertend nannte, erfuhren nicht viel Liebe, und sobald sie laufen und selbstständig essen konnten, wurden sie fortgeschickt – oft hatten die Familien, die sich ihrer angenommen hatten, nicht einmal genügend Nahrung, um den Sohn eigenen Blutes durchzufüttern.
Ein Ausgestoßener gehörte dem niedrigsten Stand an, wurde weniger geachtet als Knechte und Diener. Es wurde allgemein auch stillschweigend geduldet, wenn man einen von meiner Herkunft quälte, misshandelte oder gar tötete.
Die Mädchen und Frauen schlugen sich meist mit Prostitution durch. So kann man annehmen, dass die jüngsten der Huren, die kaum mehr als elf Winter zählten, Ausgestoßene waren. Eine solche Dirne wurde nicht selten gebrandmarkt oder verstümmelt, und verspürte ein Freier den Drang, dem jungen Weib Gewalt anzutun, so musste er nicht fürchten, für diese Tat von den Stadtwachen zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Als Mann erwartete einen ein etwas besseres Schicksal. Blieb man in der Stadt, so war man vor feindlichen Soldaten geschützt und hatte zu essen und einen Schlafplatz, aber da sie nur harte körperliche Arbeit angeboten bekamen, starben viele Männer schon in jungen Jahren.
Die meisten Ausgestoßenen mieden jedoch die Städte und lebten am Land, in den Wäldern oder arbeiteten auf kleinen Höfen. Auch ich war einer von denen, die nie in einer Stadt gelebt hatten.
Ein junges Mädchen hatte mich einst als Säugling, keinen Tag war ich alt gewesen, gefunden. Sie hatte in der Nacht zuvor – so erzählte sie mir später – ein totes Kind geboren und war in den Wald gegangen, um es zu begraben. Als sie mich fand, habe sie sofort gewusst, dass ich ein Geschenk der Gottheiten sei.
Sie gab mir die Brust und kümmerte sich liebevoll um mich. Ich habe kaum Erinnerungen an jene Tage, doch die Nächte waren kalt und manchmal – so schien mir – war ich allein gewesen.
Das Mädchen musste mich immer wieder verlassen, um in der Stadt zu arbeiten. Ich vermutete, dass auch sie eine Ausgestoßene war – obwohl ich nie eine Brandmarkung an ihr erblickt habe. Während ich durch den Wald streifte und mich auf das Sammeln von Beeren und genießbaren Blättern verstand, folgte sie ihrem vorherbestimmten Schicksal, der Prostitution. Wenn sie genügend Geld zusammengespart hatte, kam sie zu mir in den Wald zurück. Auf geheimnisvolle Weise schien sie immer zu wissen, wo ich war, und wenn ich mich in Gefahr befand, tauchte sie stets aus dem Nichts auf, um mir beizustehen.
Im Laufe der Zeit wurden ihre Besuche seltener und ich begann mich an das Leben als Einsiedler zu gewöhnen. Ich war inzwischen flink genug, um erfolgreich zu jagen, und ich versuchte mein Wissen über Pflanzen beständig zu erweitern. Oft lag ich unter Schmerzen und Krämpfen halb vergiftet und dem Tod nahe gegen einen Baum gelehnt oder saugte an den Wurzeln seltener Kräuter, die Erbrechen verursachten und mich wieder entgifteten.
Ich erinnere mich noch gut an jenen Morgen, als die Umrisse einer Gestalt im Nebel langsam deutlicher wurden und sie, die Frau, die mir alles bedeutete, mir eine Mutter war, auf mich zuschritt. Sie führte zwei Pferde an ihren Zügeln mit sich und verkündete, dass wir uns auf eine lange Reise begeben würden. Sie führte uns vom Norden des Westlichen Reichs durch die Wälder bis an die östlichen Grenzen, dort wählten wir einen Weg nach Süden und durchritten viele Städte. Sie wollte mir die Menschen zeigen. Anfangs waren sie mir so fremd und mich ekelte vor den lüsternen Männern, die meiner Ziehmutter grob an die Brüste griffen. Nicht selten schritt ich ein und es kam oft zu Kämpfen, in denen ich immer unterlag. Wie viele Knochen waren mir in jener Zeit gebrochen worden und wie viele Schmerzen musste ich erdulden, doch von Mal zu Mal wurde ich stärker und geschickter. Bald war ich ein ausgezeichneter Kämpfer, und von einem Freier, der sich an meiner Ziehmutter vergreifen wollte, erbeutete ich ein Messer, das ich einzusetzen lernte.
Je weiter unsere Reise nach Osten und Süden führte, desto öfter trafen wir auf Menschen, die uns freundlich behandelten. In der ersten Zeit waren wir kaum voneinander zu trennen gewesen, doch als wir ein kleines Dorf inmitten des Westlichen Reichs erreichten – es war nahe einem großen See –, wollte sie mich nicht in ihrer Nähe haben, während sie ihren Körper an fremde Männer verkaufte. Es kam auch vor, dass sie vergewaltigt wurde, und aus diesem Grund drängte ich immer darauf, in einem Zimmer nebenan zu sein, um notfalls einschreiten zu können, doch sie winkte ab und trug mir stattdessen auf, Geld als Tagelöhner zu verdienen.
So kam es, dass ich mir verschiedene handwerkliche Fertigkeiten aneignete: einfache Tischlerarbeiten, Brot backen, Stoffe weben oder Stahl schmieden. Da ich mich als geschickt erwies und den Zimmermeistern sogar beim Zeichnen der Pläne hilfreich war, brachte man mir sogar das Lesen bei.
Meine Ziehmutter sagte immer, wir würden diese Reise machen, damit ich die Menschen kennenlerne und sehe, wie unterschiedlich sie sind, obwohl sie alle einem Volk entsprangen. Auch war sie sichtlich erfreut darüber, dass ich als Tagelöhner so vieles erlernte. In Wahrheit, so schien mir, hatte sie die Reise jedoch aus einem anderen Grund angetreten. Sie traf sich zunehmend mit Männern – teils von hohem Stand –, und wenn ich für mehrere Wochen an einem Hof oder in einer Werkstatt Arbeit gefunden hatte, ritt sie fort, manchmal in jene Wälder, die von den schrecklichsten aller Kreaturen beherrscht wurden: Arasien, dem Volk des Krieges, das den Menschen und Elfen verhasst war. Ich wollte nicht, dass sie sich dieser Gefahr aussetzte, doch sie versicherte mir, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, denn die Arasien – so brutal und grausam sie auch sein konnten – würden jedem Lebewesen mit Achtung gegenübertreten. Aber es war eine Achtung, die zweifellos mit Hass verbunden war, weshalb es töricht war, sich darauf zu verlassen, dass sie – wie mir meine Ziehmutter versicherte – nicht angriffen, wenn man sich an die Regeln der Höflichkeit hielt und den Arasien waffenlos gegenübertrat.
Tatsächlich kehrte sie jedes Mal unversehrt aus den Wäldern zurück. Manchmal wirkte sie niedergeschlagen und enttäuscht, doch es kam auch vor, dass sie voller Stolz und Glückseligkeit war, gerade so, als hätte man ihr eben eine Frohbotschaft verkündet.
Die gemeinsame Reise dauerte zwei Jahre, und als wir wieder zu den Wäldern im Norden des Westlichen Reichs gelangten, trennten sich unsere Wege. Zum Abschied überreichte sie mir ein längliches Bündel, das sie all die Zeit über bei sich getragen hatte. Sie schärfte mir ein, es verborgen zu tragen und fortan die Städte zu meiden. Verwundert öffnete ich das Bündel und erblickte ein prächtiges Schwert, das in einer vergoldeten Scheide steckte. Fassungslos bestaunte ich die Klinge, die aus feinsten Metallen geschmiedet war. Obwohl ich sie mehrmals danach fragte, sagte sie mir nicht, woher sie das Schwert hatte. Sie verriet mir nur, dass es nie fern von mir sein würde. Ich begriff nicht, was damit gemeint sein konnte, bis ich eines Tages – ich hatte das Schwert, während ich auf der Jagd war, in meinem Lager zurückgelassen – das Gewicht der Waffe an meinem Gürtel spürte. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass dieses Schwert voller Magie war, die nun wie Blut durch meinen ganzen Körper strömte.
Bevor sie am Tag des Abschieds auf ihr Pferd stieg, um, wie sie sagte, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, gab sie mir einen Kuss auf den Mund. Es war das erste Mal, dass sie ihre Zuneigung auf diese Weise zeigte, und ich konnte die Liebe spüren, die sie für mich empfand.
Als sie zwischen den Bäumen verschwand, wurde mir klar, dass dies vielleicht unsere letzte Begegnung gewesen war. Sie kam danach kein einziges Mal mehr in den Wald, und als ich Nachforschungen anstellte, erfuhr ich, dass sie in der Stadt Hesana, unweit des Waldes lebte. Dort verdiente sie ihr Geld als Dirne, doch im Unterschied zu vielen anderen Frauen, die dieses Schicksal teilten, schaffte sie es, unversehrt zu überleben. Kein Mann wagte es, ihr ein Leid zuzufügen, denn man sagte ihr magische Kräfte nach und alsbald wurde sie das Hexenweib genannt.
Ich saß am Ufer eines schmalen Flusses und warf flache Steine ins Wasser, die ein paar Mal über die kleinen Wellen hüpften, ehe sie versanken.
Nachdenklich betrachtete ich das Wasser, das wie die Zeit an mir vorbeiströmte. Wie lange hatte ich nun schon als Einsiedler gelebt oder mich im Schwertkampf geübt, gegen Renz, Arasien, Bettas und auch Menschensoldaten gekämpft. Zweifellos war ich ein starker Krieger, der jedoch keinem Reich und keinem Herrn verpflichtet war. Ich war ein freier Mann, frei, wie so viele es sich ersehnten, doch der Preis dafür war die Einsamkeit. Natürlich war ich – trotz der Warnung des Hexenweibs – in Städte geritten, um ein bürgerliches Leben zu führen, doch da ich weder Papiere über meine Herkunft hatte noch mich als Sohn eines Vaters, dessen Namen ich kannte, ausweisen konnte, war ich, wie es schien, auf ewig dazu verdammt, mein Leben als Ausgestoßener zu fristen. Ich hatte auch schon einmal in Erwägung gezogen, mir die Papiere eines tödlich verunglückten Reisenden anzueignen, doch widersprach dies meiner Vorstellung von der Wahrung der Totenwürde.
Das Hexenweib hatte mich stets dazu angehalten, alle Völker als gleichwertig zu betrachten und ihnen ohne Vorurteile zu begegnen. Sie lehrte mich die verschiedenen Staatsformen und erklärte mir sogar das Elfenreich. Ihr lag sehr viel daran, dass ich mich mit den Geschöpfen der großen Völker verständigen kann. Tatsächlich hatte ich auch bereits eine friedliche Begegnung mit einem Arasier gehabt, doch kaum ein Wesen war willens, mich anzuhören oder sich mir anzuvertrauen. Zu fremd war ich.
Nun, an einem Tag wie diesem, stellte sich mir jedoch die Frage nach dem Sinn meines Daseins. Warum war ich, was ich bin: ein starker Krieger, der keinem Heer angehörte, ein Schriftkundiger, der nie eine Bibliothek betreten hatte, ein Magier, der noch nie einen Schüler unterrichtet hatte, ein Mensch, der nach Gerechtigkeit strebte, doch nie als Richter urteilen konnte. Wozu hatte ich all die Jahre überlebt, die Vergiftungen im Kindesalter überstanden, die kalten Winter ertragen und in Kämpfen gesiegt, wenn ich doch immer ein Ausgestoßener bleiben würde? Jemand wie ich hatte keine Zukunft. Zwar gab es nicht wenige Leute, die das Leben eines Einsiedlers bevorzugten, weil es Freiheit bedeutete, doch die meisten Einsiedler hatten sehr wohl eine Aufgabe, waren etwa ständig auf der Suche nach Wissen, zogen von Stadt zu Stadt oder übten sich in den Kriegskünsten, um bei einer Schlacht ihrem Volk als Elitekämpfer dienen zu können. Ich hingegen schien für niemanden von Nutzen zu sein, und so fragte ich mich, weshalb die Gottheiten mich über all die Jahre beschützt hatten. Warum bedachten sie ausgerechnet einen Ausgestoßenen mit all den Fähigkeiten, die ich hatte?
Seit Wochen schon plagten mich solche und ähnliche Gedanken. Und diese Gedanken waren wie ein Geschwür, das sich ausbreitete, alles andere verdrängte und nicht zu bekämpfen war. Vielleicht waren auch die kalten Nächte und kurzen Tage Grund für meine trübsinnige Stimmung.
Ich beugte mich vor und hielt den Kopf über das Wasser, sodass ich verschwommen mein Spiegelbild sah, das in den Wellen wie ein Banner wirkte, das im Wind wehte. Schließlich hielt ich den Atem an und tauchte den Kopf unter.
Die Kälte traf mich, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen; sofort lief ein eisiger Schauer über meinen Rücken und jedes einzelne Haar stellte sich auf.
Ich zog den Kopf wieder aus dem Wasser und atmete tief durch. Die Kälte half mir, wieder klare Gedanken zu bekommen.
Schließlich zog ich mir den Wams und das dicke Hemd aus, das von Erde und Sand verschmutzt und voll grüner Grasflecken war. Nachdem ich selbst die schwarze Hose aus gefärbtem Leder und die Unterbekleidung abgelegt hatte, stieg ich nackt in den Fluss und wusch mich gründlich.
Auch wenn der Gestank noch nicht ganz aus den Haaren gewichen war, fand ich mich – für die Kälte und Jahreszeit – bald sauber genug, um mich hastig wieder anzukleiden und den Weg zurück zum Lager zu laufen.
Dort angekommen, machte ich ein kleines Feuer, an dem ich mich wärmte und trocknete.
Nach einer Weile, mein Haar war von den wärmenden Flammen getrocknet – und geräuchert –, legte ich all meine Waffen vor mir nieder. Neben dem wertvollen Breitschwert besaß ich noch ein schmäleres und leichteres Schwert, das ich um den Rücken gebunden trug und das mir in Kämpfen, die ich gegen mehrere Angreifer gleichzeitig führen musste, treu diente. Natürlich hatte ich auch eine Auswahl an verschiedenen Messern unterschiedlicher Qualität. Einige waren schlichte Wurfmesser, andere glichen Dolchen und wurden dann eingesetzt, wenn das Schwert zu viel Aufsehen erwecken würde. Mein bestes Messer hatte ich, im Stiefel versteckt, um den rechten Unterschenkel gebunden. Es hatte mich schon viele Male aus fest verschnürten Fesseln befreit, außerdem suchte man nie in den Stiefeln nach Waffen, sodass ich meine Schätze bei Gefahr bedenkenlos bei mir behalten konnte – denn das wertvolle Schwert war ja durch Magie an meinen Körper gebunden und fand auf wundersame Weise stets den Weg zu mir zurück.
Auch trug ich einen einfachen Bogen und zwei gefüllte Köcher bei mir. Zwar übte ich mich regelmäßig im Schießen, doch für mein alltägliches Leben im Wald waren diese Waffen kaum zu gebrauchen, da ich bei der Jagd mit Speeren erfolgreicher war.
Beim Abschied hatte das Hexenweib gesagt, dass ein jeder Einsiedler ein Pferd haben sollte, und so überließ sie mir die Stute, die mich auf der zweijährigen Reise begleitet hatte. Dass diese Stute kurz zuvor von einem wilden Hengst bestiegen worden war, hatte ich jedoch nicht gewusst, und so kam es, dass ich eines Tages Herr über zwei Pferde war.
Ein karger Winter zwang mich dazu, die Stute zu verkaufen, da sie mehr Geld einbrachte als der störrische junge Hengst. Dieses dickköpfige Wildpferd musste ich nun bändigen, was mir schließlich auch gelang, und Nothon, wie ich ihn nannte, war mir von da an treu ergeben.
Als die Klingen der Schwerter und Messer, die vor mir lagen, gesäubert und geschliffen, die Pfeile und Speere ausgebessert waren und der Bogen neu bespannt war, tat ich einen tiefen Atemzug und versank kurz darauf in eine schwerelose Tiefe.
Fragen bedrängten den Geist meines körperlosen Selbst: Warum war ich mit all den Gaben beschenkt worden, stand im Schutz der Gottheiten, wenn keine von ihnen einen Weg für mich bestimmt hatte? Welchen Zweck hatte mein Dasein, wenn ich doch nichts tun konnte, das von Bedeutung war? Ich war weder ein Beschützer verirrter Wanderer noch überfiel oder plünderte ich Wehrlose. Wenn ich tötete, so tat ich dies, um mein eigenes Leben zu retten. Meine Überzeugung war, dass eine jede schlechte Seele ihren gerechten Tod finden würde oder aber im Jenseits alle Qualen, die sie auf Erden anderen zugefügt hatte, selbst erleben würde.
Doch was würde wohl mich erwarten? Vielleicht brachte ich ja doch mehr Leid als Segen in diese Welt? Aber dann hätte mein Leben keinen Sinn.
Unweigerlich kamen mir die Worte eines meiner Lehrmeister in den Sinn, von dem ich vor vielen Jahren in einem der Dörfer südöstlich dieses Waldes unterrichtet worden war. Er hatte mir aus einem Buch des Schreibers Romanus vorgelesen. Eine jede gute Seele ist ein Segen – und ob die Seele gut ist oder nicht, hat damit zu tun, ob wir zu unseren Fehlern stehen, sie schätzen und aus ihnen lernen. Es hängt davon ab, ob wir den anderen Menschen die gleichen Fehler zugestehen und ob wir all jenen gegenüber nachsichtig sind, die nicht so fähig sind wie wir selbst.
Romanus der Schreiber war einer der geachtetsten Gelehrten der gesamten Insel. Bereits vor vielen Jahren war er durch die Lande gezogen und hatte Aufzeichnungen gesammelt und eigene verfasst. Alle großen Völker hatte er aufgesucht, um über sie zu schreiben, daher war er vermutlich der einzige Mensch, der von jeder Kreatur, vollkommen gleichgültig welcher Abstammung, geschätzt wurde.
Seine Worte zeugten von Reinheit und Weisheit, seine Schriften wurden überall verbreitet. Umso unverständlicher war es, dass trotz dieser hohen Wertschätzung seine Gedanken nicht in die Erziehung der Menschen Eingang gefunden hatten.
Es war eine traurige Tatsache, dass ausgerechnet die Menschen die ungerechtesten und hinterhältigsten aller Geschöpfe waren. Zumindest traf das auf all jene zu, mit denen ich zu tun hatte. Es waren Gauner, die entweder auf das Geld anderer oder den eigenen Vorteil aus waren. Sie stahlen, betrogen, verpfiffen sich gegenseitig bei den Stadtwachen oder klagten andere Stadtbewohner an, die von niedrigerem Stand waren, wodurch von Vornherein klar war, dass ein jedes Urteil zu Gunsten des Klägers ausfallen würde.
Nachdenklich lehnte ich mich gegen einen Baum und betrachtete die Flammen, die um das Brennholz leckten. Der Tag hatte sich dem Ende zugeneigt, die Sonne war schon längst hinter den Bäumen verschwunden. Im Licht des spärlichen Feuers breitete ich meine Decke aus und legte mich schlafen.
Ich lag eine ganze Weile stumm da und sah zu meinem Hengst hinüber, der Gras fraß und hin und wieder ein paar Schritte tat. Ihm fehlten die Ausritte, das Reiten über weite Felder, durch dichte Wälder, das Hinwegpreschen über Hügelkuppen.
Dieses Pferd brachte mich immer wieder zum Staunen: War es noch so stur und bockig, so konnte ich mich dennoch stets darauf verlassen, dass es mir treu diente, und waren wir einmal getrennt, so kehrte der Hengst von sich aus zu mir zurück, als hätte ich ihm eingeflüstert, wo ich war.
Wie so oft hatte ich den Eindruck, dass etwas Besonderes in ihm steckte. Es war fast, als hätte er eine Spur von Menschlichkeit. Doch was ist Menschlichkeit? Worin unterscheiden sich Mensch und Tier? Im Denken, im gezielten Einsetzen von Wissen oder durch die Fähigkeit, erlernte Fähigkeiten zu erweitern und weiterzugeben?
Und was ist ein Elf? Gehören die Elfen zu den Oronin, welche oft zu den Tieren gezählt werden, oder gehören sie doch eher zu den Menschen? Vielleicht sind wir Menschen nur ein Teil von ihnen? Wie würde eine solche Erkenntnis die Weisen des Westlichen Reichs in Aufruhr versetzen! Was, wenn wir gar nicht das von Riefus erschaffene auserwählte Volk, sondern nur eine Abspaltung der Oronin wären, so wie die Elfen?
Es gibt so viele Kreaturen, die man nicht so einfach in Kategorien einordnen kann. Als Mensch betrachtet man die Arasien als Monster, wie auch die Renz, doch verfügen auch die Arasien über eine Sprache, unsere Sprache, haben eigene Volksstämme, können mit Kriegswaffen besser umgehen als geübte Soldaten, und ich wage zu behaupten, dass sie nicht mörderischer sind als wir. Ist nun eine Kreatur, die tötet, um zu überleben, um die Herde zu beschützen, um das Territorium zu verteidigen, denn so viel mehr voller Sünde als ein Mensch, der aus Gier, Neid oder Hass, aus Verachtung, Intoleranz oder Verzweiflung tötet?
Denn man weiß, ein Arasier tötet, wenn man unerlaubt in sein Territorium eindringt, er tötet, wenn er Gefahr wittert, doch grundsätzlich achtet er jede Kreatur. Bei den Menschen und Elfen hingegen frage ich mich, aus welchem Grund sie es tun. Gibt es Momente, in denen man töten darf? Ist töten verzeihlich, wenn man einen triftigen Grund hat? Auch ich töte, um zu überleben. Doch rechtfertigt das meine Taten?
Die Fragen wiederholten sich, sie drehten sich alle um denselben Kern, und je mehr ich darüber nachdachte, umso stärker wurde mir klar, dass es keine einfachen Antworten auf diese Fragen gab.
Bald wurden mir die Augenlider schwer und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Ein Mädchen lief über eine Blumenwiese. Es rannte umher, lächelte und war glücklich. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind und ließ die spitzen Ohren der Elfen sichtbar werden.
Sie lief auf ihre Mutter zu, sprang in ihre Arme und lachte laut. Die Mutter tollte mit der Tochter herum und sang ihr ein altes Lied vor, dessen Klänge sich so friedlich anhörten.
»Mutter, was sind das für Blumen?«
Die Mutter setzte die Tochter ab und lächelte. »Das sind Rosen, sie sind ein Symbol der Liebe. Du trägst ihren Namen, meine kleine Rose.«
Rose berührte die Pflanze, deren Namen sie trug. Plötzlich wurden ihre Augen ganz groß, sie runzelte die Stirn und fragte: »Mutter, was ist das Seltsames, dort hinter dir?«
Die Mutter stand auf und drehte sich um. Ihr Lächeln erstarrte. Männer in schwarzen Umhängen waren wie aus dem Nichts erschienen.
»Lauf, Rose! Lauf zurück!«, schrie die Mutter ihrer Tochter verzweifelt und voller Angst zu.
Rose hielt eine Rose, die sie eben gepflückt hatte, in der Hand und sah ihre Mutter verständnislos an. Sie lächelte verunsichert, wusste nicht, warum die Mutter Angst hatte.
»Rose, lauf!«, schrie die Mutter ein letztes Mal, ehe einer der Männer sie so grob von hinten packte, dass man das Brechen von Knochen hörte. Die Mutter schrie vor Schmerz auf.
Ein Messer mit Widerhaken wurde der Frau in den Rücken gestoßen und gewaltsam wieder herausgezogen, Blut spritzte heraus und befleckte den Umhang des Angreifers, der ihr ein weiteres Mal die Klinge in den Körper stieß, in die Brust, sodass die Tochter mit ansehen musste, wie die Mutter verstümmelt wurde.
»Kleine, warum weinst du?« Ein Mann stand plötzlich neben dem Mädchen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. »Verschwende keine Tränen, meine Süße, sie hatte es nicht anders verdient!« Dann schlug er kräftig zu, und das Mädchen stürzte tot zu Boden. Die Rose, die sie in der Hand gehalten hatte, wirbelte durch die Luft und landete erst viel später als das Mädchen im Gras.
Mit einem lauten Schrei erwachte ich aus dem Traum. Schweiß stand mir auf der Stirn, die Angst saß noch tief in meinen Knochen.
Es sind die Schwerter…
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich um.
Von einem Schmied geschmiedet…
Diese Stimme in meinem Kopf, sie machte mich wahnsinnig.
Die Klinge den Träger krönt…
Ich war aufgesprungen und blickte mich um, suchte nach dem Ursprung der Stimme. Nachdem ich mich dreimal um mich selbst gedreht hatte, blickte ich in das Gesicht einer schönen Frau mit langem rotgoldenem Haar, das lockig über die Schulter des seidenen Kleids fiel.
Der Eine unterdrückt, der Andere befreit…
Die Frau verschwand, erlosch, wurde Luft, als wäre sie nie da gewesen.
Ich hatte Angst, richtige Angst. Machte ein paar Schritte, stolperte und stürzte, zückte mein Messer, robbte verzweifelt am Boden umher, bis ich schließlich mit dem Rücken gegen einen Baum stieß und mich dagegen presste. Ich zog die Beine an und verharrte zitternd in dieser Stellung.
Mein Herz schlug laut, mir schien, als würde es durch den ganzen Wald dröhnen. Ich brauchte lange, bis ich mich wieder beruhigt und gesammelt hatte. Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Wer war diese Frau, wer war die Mutter, wer dieses Mädchen Rose, wer die fremden Männer, was hatten die Worte zu bedeuten?
Ich hatte bisher zu jenen Menschen gehört, die ihre Träume als reine Illusion betrachteten. Aber ich hatte bisher auch noch nie einen solch lebensechten Traum gehabt, deshalb konnte ich ihn nicht einfach abtun. Ich war verunsichert und es gab nur einen Menschen, der mir all dies erklären konnte…
Rasch stand ich auf, steckte das Messer weg, ging zum Lager zurück und packte meine Sachen zusammen. Hastig sattelte ich Nothon und verstaute meine Habseligkeiten in den Taschen. Mit einem letzten Blick vergewisserte ich mich, dass nichts mehr herumlag, stieg auf und ritt los. Ich wollte weg von hier, möglichst schnell und möglichst weit, einfach nur weg.
Nothon war sichtlich erleichtert darüber, von diesem trostlosen Ort fortzukommen, und lief so voller Elan, als würde eine junge Stute ihn in jener Stadt erwarten, auf die wir zuhielten.
Der Himmel zwischen den Baumkronen wurde langsam hell und als wir schließlich die breite Straße erreichten, die aus dem Wald hinausführte, stieg am Horizont bereits die Sonne empor.
Ohne weitere Pausen ritten wir den Vormittag durch, bis wir am späteren Nachmittag zu einer kleinen Anhöhe gelangten.
Der Hengst bog vom Weg ab und plagte sich den Hügel hinauf, bis wir schließlich den höchsten Punkt erreichten.
Eine Windböe fuhr mir durchs Haar und für einen Moment stockte mir der Atem, als sich die Landschaft vor mir auftat.
Man konnte weit über Felder und Wälder bis in den Südosten hinaus blicken, wo in der Ferne mehrere Straßen zusammenliefen und in eine Stadt mündeten, von der man kleine Rauchwölkchen aufsteigen sah.
Der Fluss, der sich durch die Ebene und das Hügelland den Weg vom Süden bis zu den Hafenstädten im Nordosten bahnte, war verdreckt und voller Müll, nachdem er die große Stadt durchflossen hatte.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, war dies doch der Ort, der mir so sehr verhasst war wie kaum ein anderes Fleckchen auf der Landkarte – und doch bedeutete mir diese Stadt so viel, weil sie von dort kam, sie, die mir alles bedeutete, sie, die viel mehr zu sein schien, als ich gedacht hatte, sie, die kein Soldat anzuklagen wagte, sie, die alles überstanden hatte, sie, die trotz ihres Standes doch immer geachtet wurde, sie, die man das Hexenweib nannte.
Dein Geist Dich führt, Dein Schwert Dir gebührt…
Erschrocken wirbelte ich herum. Erneut war da die Stimme jener so schönen geisterhaften Frau. Doch außer dem Hengst und mir war weit und breit niemand zu sehen.
All die Jahr hat sie über Dich gewacht, nun ist ihr Werk vollbracht…
Erneut stieg Angst in mir auf, ich hatte wieder die Bilder aus dem Traum vor Augen, sah, wie die Elfenmutter verstümmelt wurde und die Tochter qualvoll starb.
Du Leid erfährst und Liebe erlernst.
Wütend warf ich meinen Kopf herum, doch da war niemand. Dennoch fühlte ich die Anwesenheit dieser Gestalt, dieser unbekannten, magischen und furchteinflößenden Gestalt.
Führst in den Krieg
Kind, Frau und Mann
Trägst fort keinen Sieg,
Ein Volk Dir folge,
Zwei weitere dann,
Wirst Du der König sein
Ohne Reich und Golde,
Doch Macht und Stärke sind Dein.
Die Stimme wurde leiser bis hin zu einem Flüstern, das der Wind aus weiter Ferne herzuwehen schien, dann folgte Stille. Als diese Traumgespinste mir im Geiste erschienen und mich zugleich eine unbestimmte Furcht ergriff, biss ich wütend die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf, als könnte ich so das Innere abschütteln wie ein Hund den Dreck aus seinem Fell, und gab meinem Pferd einen Tritt.
Mit einem Fluch auf den Lippen blickte ich zum Horizont, wo die Sonne hinter weit entfernten Hügeln, Wäldern und Siedlungen bald untergehen würde. Es war recht spät geworden, die Zeit war schnell vergangen. Ich musste das Hexenweib aufsuchen, nur sie würde wissen, was es zu tun galt. Sie würde den Traum und all die geheimnisvollen Botschaften deuten können.
Die Nacht war grausam kalt. War es Angst oder nur die Kälte, die meinen Leib erzittern ließ?
Meine Kleidung war durchnässt von Schweiß und dem leichten Nieselregen. Sie fühlte sich hart und steif an, war halb gefroren, und selbst die Pferdedecke, in die ich mich eingewickelt hatte, vermochte mich kaum zu wärmen.
Ich konnte kein Auge zutun. Seit meiner Kindheit hatte ich die Dunkelheit nicht mehr gefürchtet, aber jetzt war mir innerlich bange.
Welch böser Geist wollte von mir Besitz ergreifen? Welch Fluch lastete auf mir, der mir meine Gedanken raubte und mich solch körperlichen Schmerz fühlen ließ?
Endlich tat sich ein heller Schein auf und kurz darauf blickte ich ins grelle Sonnenrund, das zunächst nur als kleiner Punkt am Horizont erschien. Nun, im Licht des heranbrechenden Tages, sah ich meine blassen, zitternden Hände. Sie waren leicht bläulich gefärbt und auch der Schmerz in den Beinen ließ sich wohl durch die Kälte erklären.