Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Die vielversprechende Moderne

Der Schlüsselbegriff, der diese elektrisierende Fortschrittsvorstellung einzufangen suchte, war der Terminus »Moderne«. Eingeführt hatten ihn die Dichter des französischen Symbolismus in den 1870er Jahren, um ihre künstlerische Abkehr vom realistischen Stil zu rechtfertigen; schon bald fand er als Schlagwort breite Verwendung, wann immer Veränderungen initiiert werden sollten. Ein Jahrzehnt später übernahmen bestimmte Mitglieder der Berliner Literatenszene das Etikett und legitimierten so ihre Bewegung, den Naturalismus, dessen Ausdrucksmittel, wie sie meinten, erlaubten expressiver und kritischer über das »moderne Leben« zu schreiben. Auch in anderen Bereichen bedienten sich Avantgardisten dieses Begriffs und sprachen etwa von »moderner Kunst«, wenn sie mit atonaler Musik oder abstrakter Malerei experimentierten. Bürgerliche Intellektuelle, denen es um Reformen im Lebensstil der Mittelklasse ging, griffen das Wort ebenfalls auf; Wissenschaftler und Erfinder benutzten es, um ihre Entdeckungen zu propagieren. Und so wandelte sich »Moderne« denn am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Lieblingsbegriff intellektueller Kreise, der die Idee suggerierte, hier breche man mit Traditionen, indem man neue Möglichkeiten erkunde.1 Bezog sich die Bezeichnung ursprünglich nur auf innovative Impulse, wurde die Parole »Moderne« nun ein allgemeines Codewort für Fortschritt im Sinne von Befreiung.

Das Adjektiv modern markiert prinzipiell einen Gegensatz zur Vergangenheit. Ebendies aber macht den Terminus wandelbar, weshalb es stets schwerfiel, seine exakte Bedeutung zu erfassen. Wörterbüchern zufolge wurde der Begriff in der Renaissance geprägt, um die damalige Epoche von früheren Epochen zu unterscheiden, da sie sich abkehre vom klassischen Erbe der Antike, doch auch von der Periode dazwischen, in der religiöser Aberglaube und politische Konfusion geherrscht hätten, also jenem Zeitraum, den wir als das Mittelalter kennen. Dass der Terminus sich allein durch die Differenz zu einer vorherigen Ära bestimmt, bewirkte, dass er selbst kaum festen semantischen Gehalt bekam; wer ihn definieren wollte, musste sich ja auf die Gegenwart beziehen, und die bildete gleichsam ein bewegliches Ziel, da sie sich ständig veränderte. Dank dieser Fluidität konnten in der Geschichte immer wieder kulturelle Avantgarden, nur weil sie mit der Tradition zu brechen beabsichtigten, behaupten, sie seien »modern«, gleichgültig, welchen Stil sie gerade praktizierten. In Philosophie und Politik hieß »modern« oft auch, progressiv-aufklärerische Ansichten zu vertreten, eine weltlich orientierte Einstellung, die für rationales Denken und gesellschaftliche Verbesserungen eintrat.2 Dass diese Konnotationen beliebig ineinanderflossen, hat die weite Verbreitung des Terminus beschleunigt, denn letztlich blieb offen, was eigentlich genau damit gemeint war.

In ihren Untersuchungen zur raschen Transformation Europas um 1900 haben Sozialwissenschaftler wie Émile DurkheimDurkheim, Émile eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution formuliert, die auf den Prozess der Modernwerdung besonderes Gewicht legte. Als Hauptfaktoren dieser »Modernisierung«, so der neue Fachbegriff, identifizierten sie zentrale Umbrüche in der Entwicklung Europas, darunter die wissenschaftliche, die industrielle und die demokratische Revolution. Darin sahen sie ein Geschehnismuster, das sie zu einem normativen Konstrukt verallgemeinerten; das faktische Ergebnis der Entwicklung Europas erhoben sie zu einem Ideal, das überall auf der Welt erreicht werden sollte. Der Soziologe Talcott ParsonsParsons, Talcott exportierte das Modell in die Vereinigten Staaten und erklärte das genannte Resultat zum »höchsten Ziel des amerikanischen Liberalismus«; das Konzept »definierte« optimistisch »einen universellen historischen Prozess, durch den sich traditionelle Gesellschaften zu modernen wandelten«. Während des Kalten Krieges wurde diese Modernisierungstheorie der demokratische Gegenentwurf zur marxistischen Ideologie. Hauptmotor der Modernisierung sei demnach die ökonomische Entwicklung, der zuliebe der dynamische Geist des Kapitalismus entfesselt werden müsse, der dann eine Wachstumsphase nach der anderen bewirke. Lehrbücher erhoben das Konzept geradezu in den Rang eines soziologischen Determinismus, dem zufolge ein universeller Prozess der Veränderung abläuft, der zwingend zu dem bekannten Ende führt; das westliche System ist dabei Maßstab und Entwicklungsziel.3

Diese Verengung der Modernisierungstheorie auf eine Ideologie des Kalten Krieges provozierte harsche Kritik aus verschiedenen Richtungen. Einige Globalhistoriker schlagen schon vor, den Begriff gänzlich fallen zu lassen: Er beziehe sich unterschwellig allein auf europäische Erfahrungen, sei also gar zu »eurozentrisch«. Postkoloniale Anthropologen wiederum – eine ihrer Parolen lautet »Europa als Provinz« – wenden ein, dass offener Rassismus und rücksichtslose Ausbeutung die vorgeblich humanen Ziele des imperialen Modernisierungsprojekts unterminiert hätten. Gleichzeitig betonen Wissenschaftler und Philosophen wie etwa Zygmunt BaumanBauman, Zygmunt, die den Holocaust und seine Hintergründe erforschen, selbst ethnischen Säuberungen und Massengenoziden wohnten beträchtliche Elemente von Modernität inne; der vermeintlich gutartige Prozess habe also zumindest eine dunkle Kehrseite.4 Umwelthistoriker schließlich heben mit Blick auf die »Grenzen des ökonomischen Wachstums« den unvermeidlichen ökologischen Schaden hervor, den ungezügelte Urbanisierung und wirtschaftliche Entwicklung anrichteten. Einst war die »Modernisierung« ein weithin geteiltes Ziel; seit der Intervention dieser Kritiker, könnte man sagen, ist sie ein intellektuelles Problem.

Statt auf den Terminus komplett zu verzichten, wäre es produktiver, sich der Moderne aus einer kritischen historischen Perspektive zu nähern. »Es gibt«, schreibt der Historiker Jürgen KockaKocka, Jürgen zu Recht, »keinen anderen Begriff, der eine ganze Epoche so suggestiv, assoziationsreich und kraftvoll in diachrone Prozesse langfristigen Wandels einzuspannen vermag.« Den Terminus zu historisieren, heißt auch, seine Bedeutung zu dekonstruieren, die sich ja verschiebt, je nachdem, wann, wo und vom wem er benutzt wird. Eine solche Perspektive offenbart eine Vielzahl konfligierender zeitgenössischer Bezugnahmen auf den Begriff, aber auch einen erstaunlich exzessiven, freilich oft unkritischen Gebrauch desselben in der wissenschaftlichen Literatur. Wichtiger noch: Die Existenz mehrerer miteinander wetteifernder Modelle – liberaler, kommunistischer und faschistischer – zur Erfassung ökonomischer und politischer Entwicklungen legt eine Pluralisierung des Begriffs nahe, so dass von »multiplen Modernen« gesprochen werden sollte. Außerdem enthüllt eine solche Annäherung die grundlegende Ambivalenz der Veränderungen, die einerseits enorme Erleichterungen, andererseits aber furchtbares Leiden brachten.5 Statt »Moderne« als selbsterklärenden Standard der Zivilisation zu setzen, werden meine Reflexionen sie als ein komplexes Problem behandeln, das der historisierenden Annäherung bedarf.

Um die Verzweigungen dieses Begriffs zu erkunden, rücke ich vier zentrale Dimensionen besonders in den Fokus. Erstens diskutiere ich die verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs »modern« als Bezugnahmen auf eine historische Periode und auf eine stetig sich wandelnde Gegenwart. Zweitens analysiert dieses Buch den Terminus »Modernisierung« als Beschreibung des Vorgangs des Modernwerdens; schließlich wurde er oft als Etikett für politische Bemühungen benutzt, eine »rückständige Gesellschaft« transformativ nach vorn zu bringen. Man denke an die damaligen Versuche, ›aus Bauern Franzosen zu machen‹.6 Drittens studiere ich das Phänomen der »Modernität« im Kulturbereich. Immer wieder behaupten rivalisierende künstlerische Bewegungen, besonders Innovatives zu leisten; dabei haben sie nichts miteinander gemein außer dem Verwerfen der Tradition, denn die avantgardistischen Konzepte, die sie ihr entgegenhalten, fallen höchst unterschiedlich aus. Viertens analysiere ich den allgemeinen Begriff »Moderne« als ausdrückliche Zukunftsvision; »Moderne« war damit eine Projektionsfläche für – wiederum höchst verschiedene – Bilder eines besseren Lebens. Die vielfältigen Konnotationen dieser sprachlich so eng verwandten Konstrukte bieten wertvollen Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie das uralte Streben nach Fortschritt im 20. Jahrhundert ausgesehen hat.

Mit den rapiden Innovationen der Moderne konfrontiert, erlebten die Europäer die Dynamik dieser Transformationen als Aufeinanderfolge so beglückender wie verstörender Beschleunigungen in ihrem immer schneller werdenden Alltag. Manche wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Durchbrüche, etwa das Automobil oder das Flugzeug, lösten erregte, ja stolze Begeisterung aus, denn sie eröffneten unvermutete Zugänge zu Geschwindigkeit und Kraft. Damit schwanden Barrieren, die jahrhundertelang die Mobilität des Menschen eingeschränkt hatten. Andere Errungenschaften wie die Fließbandarbeit oder das Flächenbombardement flößten den Leuten Furcht ein, denn sie ermöglichten in erschreckendem Maße wirtschaftliche Ausbeutung hier und Massentötungen im Krieg dort. Immer wieder produzierte dieses unaufhaltsame Streben nach Fortschritt Umbrüche mit ungewissem Ausgang, und immer wieder brachte es bald berauschende Möglichkeiten, bald entsetzliche Bedrohungen mit sich. So entstand ein neuartiges Turbulenzempfinden, das das Leben im 20. Jahrhundert prägte.7 Da die Europäer sich als Verkörperung des Fortschritts sahen, möchte ich auf den folgenden Seiten ihre fieberhafte Suche nach politischen Lösungen nachzeichnen, mit deren Hilfe sie das erbarmungslose Vorandrängen der Modernisierung vielleicht doch zu meistern hofften.8

Europas Dynamik

Um 1900 hatten Denker wie Max WeberWeber, Max längst begonnen zu fragen, wo Europa seine außergewöhnliche Dynamik eigentlich hernahm. Dabei schwang freilich die Befürchtung mit, diese Kraft könnte irgendwann ins Zerstörerische umschlagen. Zeitgenossen lieferten alle möglichen Rechtfertigungen, die einander widersprachen – bald sollte das Christentum, bald rassische Überlegenheit die Ursache sein. Später führten Gelehrte als Gründe für die »großen Unterschiede« zwischen der ökonomischen Entwicklung in Europa und der in anderen Teilen der Welt Faktoren wie Kommerzialisierung, Marktwettbewerb, koloniale Ausbeutung, Institutionskultur und staatliche Interventionen ins Feld. Obwohl Zivilisationen außerhalb der Alten Welt, namentlich in Asien, auch ein hohes Wohlstandsniveau und einen hohen Grad kultureller Verfeinerung erreichten, muss gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa etwas geschehen sein, das dessen Nationen ermöglichte, fast den ganzen Erdball zu beherrschen.1 Ein senegalesischer Beobachter, der Schriftsteller Cheikh Hamidou KaneKane, Cheikh Hamidou, staunte über diese »destruktive wie konstruktive, brutale, abstoßende und attraktive Kraft«, die in der Lage sei, gleichzeitig zu töten und zu heilen.2 Auch wenn man nicht in die Falle des normativen Eurozentrismus tappen will, bleibt doch die Frage zu klären: Was machte die modernen Europäer so besonders, dass sie den Rest der Welt kontrollieren konnten?

 

Ein wichtiger Grund lag in der Verbreitung einer rationalen Geisteshaltung, die wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen erst ermöglichte. Zwar hätte es zweifellos ohne Fürsorge der Kirche für die Gelehrsamkeit und ohne den Wissenstransfer aus der arabischen Welt keine »wissenschaftliche Revolution« gegeben. Aber der Geist der empirischen Forschung emanzipierte sich von der Autorität der klassischen Texte sowie den Diktaten der christlichen Religion und wagte sich über deren Grenzen hinaus. Zwar nahmen die europäischen Denker zur Kenntnis, was andere Hochkulturen ergründet hatten, doch sie entwickelten deren Einsichten weiter, bis sie zu bemerkenswerten Durchbrüchen gelangten, die ihr Weltverständnis grundlegend veränderten. Der erstaunliche Ausstoß an technischen Erfindungen, der im 18. Jahrhundert einsetzte, bescherte Europa eine ganze Reihe neuer mechanischer Antriebsapparaturen, namentlich die Dampfmaschine. Mit ihnen konnte man die Natur erobern, die Produktion verbessern und Transport wie Kommunikation beschleunigen. Schließlich erhielt dieser Prozess institutionelle Unterstützung durch die europäischen Universitäten, die Mitte des 19. Jahrhunderts sich selbst den »Forschungsimperativ« erteilten: Immer neue Entdeckungen zu machen, war ihnen nunmehr geradezu eine moralische Pflicht.3

Bedeutsam war zudem das Aufkommen des Kapitalismus und der Industrie, beides Phänomene, die eine zuvor nie gekannte Anhäufung von Reichtum hervorbrachten. Zwar hatten andere Kulturen, die chinesische etwa, ebenfalls weitläufige Handelsnetzwerke, aber die ökonomische Entwicklung in Europa ließ solche Modelle letztendlich doch hinter sich, indem sie einen kapitalistischen Elan erzeugte, immer höheren Profit zu erzielen. Auf einem Kontinent, der nur mit bescheidenen natürlichen Ressourcen gesegnet war – Eisen und Kohle –, trieb dieser Geist die Unternehmer an, sich außerhalb ihrer Heimat, ja in der ganzen Welt nach Rohstoffen und Märkten umzusehen. Er ließ auch Organisationsformen wie die Kapitalgesellschaft und die Börse entstehen – beides Mittel, um Kapital aufzubauen. Zusammen mit technischen Erfindungen führte solches Streben zu dem, was als »industrielle Revolution« bekannt wurde: Man mechanisierte die Textilproduktion, grub gewaltige Kohlenbergwerke ins Erdreich, expandierte Eisenschmelzereien zu Stahlfabriken und entwickelte Dampfschiffe und Eisenbahnen. Günstige Rahmenbedingungen – eine Kombination aus staatlicher Förderung und Laissez-faire-Liberalismus – halfen beim Aufstieg der kapitalistischen Industrie, der nicht nur die Massenproduktion von Waren erleichterte, sondern auch die materielle Basis für die Vormachtstellung Europas schuf.4

Eine wichtige gesellschaftliche Besonderheit war die Entwicklung des Individualismus und der Zuwachs an sozialer Mobilität in Europa. Die Entdeckung des »Selbst« in der Aufklärung lockerte die kollektiven Bindungen an Stände oder Körperschaften und übertrug dem Individuum die Verantwortung für das eigene Leben. Anders als in afrikanischen Gesellschaften, deren Stammesloyalitäten stark blieben, oder in Indien, wo der Platz des Einzelnen durch das Kastensystem bestimmt war, schwächten sich die traditionellen Formen der Unterordnung in Europa so sehr ab, dass Menschen daran denken konnten, ihr Glück dank eigener Leistungen zu machen – und damit kam die soziale Mobilität mehr und mehr in Schwung. Die Hoffnung, sich durch harte Arbeit voranzubringen, wie sie Samuel Smiles 1859 in seinem Bestseller Self-Help (dt. Hilf dir selbst) feierte, motivierte zahllose Individuen zur Selbstoptimierung, was einen gewaltigen Energieschub freisetzte. Die Suche nach besseren Chancen verstärkte auch die Migration, vom Lande in die expandierenden Städte ebenso wie über den Atlantik in die Neue Welt. Die wachsende Ruhelosigkeit, die nun die Europäer ergriff, war eine wichtige psychologische Motivation für ihre Dynamik.5

Ein letzter, oft vergessener Faktor war das zunehmende Streben nach Rechtsstaatlichkeit, das schließlich zur Festschreibung der fundamentalen Menschenrechte führte. Selbst absolutistische Monarchen wie der Preußenkönig Friedrich der GroßeFriedrich der Große sahen ein, dass der Handel kaum gedeihen und der Frieden zwischen den Religionen schwerlich aufrechterhalten werden konnte, wenn nicht die Gültigkeit von Verträgen außer Frage stand, die Sicherheit des Eigentums gewährleistet war und der Gesetzgeber bindende Toleranzregeln schuf. In einer Reihe von Kämpfen zwischen Herrschern und Beherrschten, wobei die Französische Revolution und die späteren kontinentalen Revolutionen besondere Merkzeichen setzten, errangen die Untertanen gewisse Bürgerrechte, die sie vor den verheerenden Zumutungen des Staates schützten. Die Redefreiheit eröffnete nun eine öffentliche Sphäre, während die Versammlungsfreiheit die Bildung einer pluralistischen Zivilgesellschaft erleichterte. In Verfassungen verankert, ermöglichten diese schwer errungenen Bürgerrechte erst der Mittelklasse und schließlich auch dem Proletariat, sich an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Obwohl dieser Bürgerstatus nach wie vor in den Bereichen des Sozialen, des Rassischen und des Geschlechts eingeschränkt blieb, lebten doch die meisten europäischen Männer nicht mehr unter einer Willkürherrschaft und fühlten sich um 1900 immerhin so sicher, dass sie sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen wagten.6

Unter diesen Bedingungen entwickelte sich ein neuer Typus politischer Ordnung, genannt Nationalstaat. Er unterschied sich grundlegend von den Ordnungen in der übrigen Welt. Während Osteuropa noch von Imperien beherrscht war – dem russischen, dem habsburgischen und dem osmanischen –, die sich aus verschiedenen Ethnien und Religionen zusammensetzten, wandelten sich im Gefolge der Französischen Revolution die westlichen Monarchien in neuartige, homogenere politische Gefüge, deren jedes beanspruchte, nur aus einer einzigen Nation zu bestehen. Dieses nationale Ideal bezog sich auf eine gemeinsame Sprache, eine ähnliche Vergangenheit und ein Zugehörigkeitsempfinden der Bürger, das alle bisherigen inneren Unterschiede transzendierte. So entstand ein Staatswesen aus einem Guss, das eine feste Herrschaft über ein bestimmtes Territorium innehatte, mit einer einzigen Verfassung, einem Gesetzeskorpus und einem Münzsystem ebenso wie einem Binnenmarkt, was Wachstum und Handel erleichterte. Diese imaginäre Gemeinschaft erschien italienischen und deutschen Intellektuellen so attraktiv, dass sie versuchten, die fragmentierten Fürstentümer ihres Landes ebenfalls zu einem neu zu schaffenden Nationalstaat zu einen.7 Indem sie ihre Bürger mobilisierte, wurde diese neue politische Organisationsform nicht nur mächtiger als die traditionellen Imperien, sondern es gelang ihr auch, Kolonien in Übersee zu erwerben.

Der Erfolg des Modells Nationalstaat beruhte zum Teil auf seiner Fähigkeit, Ressourcen zu erschließen. Das ermöglichten ein neuartiger effizienter Verwaltungsapparat und ein allgemeingültiges Steuersystem. Vor der Revolution wurden noch Ämter ge- und verkauft, oder es herrschte Korruption wie bei den Osmanen. Das administrative Korps des Nationalstaats hingegen galt als kompetent und unparteiisch, weil seine Angehörigen vom Staat besoldet wurden und Pensionsprivilegien innehatten. Eine Einstellung bei den Behörden setzte voraus, dass der Betreffende eine universitäre, zertifikatbelegte Ausbildung in Jura oder einer anderen Disziplin durchlaufen hatte; nicht mehr familiäre Beziehungen oder politische Patronage entschieden darüber. Ferner wurden Steuern jetzt nicht mehr willkürlich festgelegt, sondern basierten auf objektiven Kriterien, was die erzielbaren Einnahmen so verlässlich einschätzbar und transparent machte, dass die Regierungen vorausplanen konnten. Im Gegenzug bekamen die Bürger innerstaatlichen Frieden und Gleichheit vor dem Gesetz garantiert. So weit das Ideal – es wurde nicht immer erreicht, aber die Bürokratisierung der Verwaltung erwies sich doch als effizienter und berechenbarer als frühere Praktiken. Dies ermöglichte dem Nationalstaat, sein Wirken auf immer mehr und immer neue Gebiete auszudehnen.8

Ein zweiter Pfeiler des europäischen Nationalstaats war ein reformiertes Militär, das es ihm erlaubte, eine nie dagewesene Schlagkraft gegen seine äußeren und inneren Feinde aufzubieten. Im Gegensatz zum kostspieligen Söldnertum des Ancien Régime beruhte das revolutionäre Konzept des ›Bürgers in Uniform‹ darauf, dass alle wehrfähigen Männer Militärdienst leisten mussten. Bei Angriffen von außen konnten so mit begrenzten Kosten ganze Massenarmeen ausgehoben werden, und der Staat erhielt Gelegenheit, seinen Rekruten ihre nationalen Pflichten einzutrichtern. Gleichzeitig ermöglichten technische Innovationen – etwa die Repetierbüchse, das Maschinengewehr, die Handgranate und die schwere Artillerie – es den europäischen Soldaten, viel mehr Gegner zu töten als mit Musketen und Bajonetten. Ähnlich verlief die Entwicklung im maritimen Bereich: Dank Kanonen- und U-Booten sowie Panzerschiffen ließ sich auch der Krieg zur See mit mehr Durchschlagskraft führen, befähigten sie doch zu Attacken auf Ziele, die fern der heimatlichen Basis in Übersee lagen. Schließlich maximierten die Generalstäbe durch akribische logistische Planung die Effizienz von Truppenbewegungen. Diese Umstände, zusammengenommen, bildeten die Grundlage der militärischen Überlegenheit Europas.9

Die internationale Ordnung, in der diese europäischen Staaten dominierten, bestand aus einem informellen »Nichtsystem«, das den Nationen die Möglichkeit ließ, miteinander zu konkurrieren. Nachdem Versuche, die Hegemonie zu erlangen, gescheitert waren – zuletzt derjenige NapoleonsNapoleon Bonaparte –, blieb der Kontinent in mehrere Dutzend unabhängige Staaten fragmentiert. Die Führungsrolle unter ihnen hatten die Großmächte Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich-Ungarn und Russland inne, deren informelles Ensemble man als »Pentarchie« [›Fünferherrschaft‹] bezeichnet; jede davon nahm bestimmenden Einfluss auf ihre Nachbarländer. Das Gefüge war stets flexibel genug, um auch Neuzugänge aufzunehmen, wobei ein dynamischer newcomer wie Preußen bzw. Deutschland schon einmal ein älteres, schwächelndes Mitglied wie Spanien verdrängen konnte. Die Briten nannten dieses System balance of power, ›Gleichgewicht der Kräfte‹; denn sie achteten sorgfältig darauf, dass keiner der Kontinentalstaaten stark genug wurde, um ihr Imperium herauszufordern. In gleicher Absicht – der Sicherheit zuliebe – suchte der deutsche Reichskanzler Otto von BismarckBismarck, Otto von stets ein Bündnis mit zwei anderen Staaten der Pentarchie. Konflikte zwischen kleineren Ländern oder den Großmächten wurden durch internationale Kongresse oder diplomatische Verhandlungen gelöst, und zwar gemäß dem Prinzip, dass, wenn ein Staat einem anderen Staat Gebiet wegnahm, der letztere eine Kompensation erhielt.10 Das System hatte nur eine fundamentale Schwachstelle: Seine Neujustierung erforderte Krieg.

Zwar waren die führenden europäischen Staaten inzwischen mit nie dagewesener Macht ausgestattet, aber gleichzeitig schufen diese dynamischen Entwicklungen auch enorme Spannungen, die jeden Augenblick zu eskalieren drohten. Scharfsichtige Kritiker wiesen auf die Vielzahl der ungelösten Konflikte hin und zeigten sich besorgt, dass es bald zu einer Krise kommen könnte. Beim Aufteilen der Welt gerieten koloniale Gebietsansprüche mehrfach miteinander ins Gehege, so im SudanSudan, während einheimische Völker beispielsweise in IndienIndien gegen die Fremdherrscher zu rebellieren suchten. Daheim lieferten sich Industrielle und Grundbesitzer, die von der Ausbeutung der Arbeitskraft profitierten, einen erbitterten Klassenkrieg mit dem Proletariat, das sich nun in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierte. In der Öffentlichkeit schürte die Sensationspresse nationalistische Hassgefühle, indem sie andere Länder herabwürdigte, während Agitatoren hässliche Rassenvorurteile mobilisierten. In den östlichen Imperien versuchten nationale Befreiungsbewegungen derweil, sich der Dominanz der jeweiligen Zentren zu entwinden, indem sie lautstark Selbstbestimmung einforderten.11 Um die Jahrhundertwende war Europa also ein sich rasch entwickelnder Kontinent mit einer enormen Machtfülle, aber nicht minder eine von tiefen Klüften durchzogene Gesellschaft, die schließlich seine Länder zerreißen sollten.

 
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