Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln. Nachher
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln

Nachher

Mit einem Nachwort von Ute Maack und Illustrationen von Hannah Kolling

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverentwurf: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung

Coverabbildung: Unsplash.com / Timon Studler

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961814-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011312-7

www.reclam.de

Inhalt

  Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln

  Zu dieser Ausgabe

  Nachwort

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln

Wir schaukelten uns auf den Wellen – kurze und lange umhauchten uns, die Sendestationen der Planetenkugeln versorgten uns damit, uns, im jenseitigen Herrenbad. Aus den Familienkabinen drang leises Kreischen.

»Welches war eigentlich Ihr schlimmster Eindruck hier bei uns?«, fragte er. Ich sagte:

»Der erste Tag im Empfangssaal – das war grässlich. Daran mag ich gar nicht zurückdenken. Grässlich war das.«

»Warum?«, fragte er. Ich sagte: »Zweiundsiebzig Jahre auf der Erde, das bedeutet: neunundsechzig Jahre lang gelogen, Empfindungen versteckt, geheuchelt; gegrinst, statt zu beißen; geschimpft, wo man geliebt hat … Manchmal dämmert eine Ahnung auf, das vielleicht lieber doch zu unterlassen. ›Gewissen‹ sagen die Kultusbeamten. Es ist aber nur das matte Versickern des Gefühls, dass die, die vor uns gestorben sind, uns durchschauen, von oben her. Denken Sie doch: die ganze Lüge offenbar! Wenn ich das gewusst hätte! Ich kam in den Empfangssaal« – aber jetzt schienen sie drüben im Familienbad geradezu auf den Köpfen zu gehen –, »und ich glaubte vor Scham in die Erde sinken zu müssen. Es war aber keine da. Schrecklich – nie in meinem ganzen Leben habe ich mich so geschämt, so schrecklich geschämt. Und das Allerschlimmste war: sie sahen mich nur an. Sie sahen mich alle nur an. Niemand kam auf die peinlichen Dinge zurück – aber ich wusste das doch, dass sie alles wussten! Ich war klein wie eine Maus – so jämmerlich. Ich würde nie mehr lügen.«

»Der alte Mann«, sagte er, »der das arrangiert, hätte diese Zeremonie des Empfangssaals vorher legen sollen, vor unser Leben. Vielleicht …«

»Ja«, sagte ich.

»Aber dann wäre es nicht so schön gewesen«, sagte er.

»Nein«, sagte ich.

Jetzt kam eine große Welle, eine von den langen, starken, und warf uns mit den Beinen aneinander, dass wir lachen mussten.


Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

»Am liebsten«, sagte ich zu ihm, »waren mir zeitlebens die Betriebe, die ein wenig verfault waren. Da arbeitete ich so gern. Der Chef schon etwas gaga, wie die Franzosen das nennen, mümmlig, nicht mehr ganz auf dem Trab, vielleicht Alkoholiker; sein Stellvertreter ein gutmütiger Mann, der nicht allzu viel zu sagen hatte. Niemand hatte überhaupt viel zu sagen – der Begriff des Vorgesetzten war eingeschlafen. Auch Vorschriften nahm man nicht so genau – sie waren da, aber sie bedrückten keinen. Diese Läden hatten immer so etwas von Morbidität, es ging zu Ende mit ihnen, ein leiser Verfall. Wissen Sie: man arbeitete, man faulenzte nicht, hatte Beschäftigung – aber es war im großen Ganzen doch nur die Geste der Arbeit. Haben Sie mal in einer Posse eine Choristin die Möbel abpuscheln sehen? So etwas Ähnliches war es. Schrecklich, wenn der Betrieb etwa aufgefrischt werden sollte, wenn ein neuer Mann kam, der gleich am ersten Tag erklärte: ›Die Schweinerei hört jetzt auf!‹ Wie lange es immer dauerte, bis sich auch der neue eingewöhnt hatte! Denn Verfall steckt an – unweigerlich. Ich bin zweiundsiebzig Jahre alt geworden: mir ist kein Fall bekannt, wo er nicht angesteckt hätte. Ja. Es gab viele Stätten solcher Art. Beim Militär habe ich sie gefunden, in der Industrie; auf dem Lande lagen solche Güter – Operettenbetriebe. Hübsch, da zu arbeiten. Sehr nett. Und immer so eine leise kitzelnde Angst vor dem Ende, denn einmal musste es ja kommen, das Ende – immer konnte es nicht so weitergehen.«

»Nein«, antwortete er, »immer konnte es natürlich nicht so weitergehen. Kommen Sie übrigens heute Nachmittag zum lieben Gott?« – »Wer wird da sein –?«, sagte ich. Er antwortete: »Gandhi, Alfred Polgar, einer von den unbekannten Soldaten und dann irgendein Neuer.«

»Ich mag die Neuen nicht«, sagte ich. »Sie kommen sich so feierlich vor. Wie finden Sie übrigens den lieben Gott?«

»Sehr sympathisch«, sagte er. »Er erinnert ein wenig an das, wovon Sie eben sprachen.« – »Ja«, sagte ich.

Dann ließen wir wieder die Beine baumeln.


Wir standen in der Luft, ein Vergnügen, dessen man nicht satt wird, am Anfang. Es war einsam um uns, einmal hastete ein Geist an uns vorüber, im Frack; vielleicht war er zu einer spiritistischen Sitzung geladen.

»Haben Sie das auch bemerkt«, sagte er, »das mit den sieben Jahren –?«

»Ja«, sagte ich. »Sie meinen, dass es alle sieben Jahre wiederkam, alles miteinander –?«

»Ja«, sagte er. »Alle sieben Jahre. Bei mir war es ziemlich regelmäßig. Bei Ihnen auch? Sie waren länger am Leben als ich. Zweiundsiebzig Jahre …«

»Es war ziemlich lächerlich, auf die Dauer«, sagte ich. »Alle sieben Jahre. So um das sechste Jahr herum fing es immer an, sich zu rühren, ich wusste es schon, wenn es so weit war. Meine Verhältnisse besserten sich, ich bekam Geld in die Finger, im siebenten Jahr war der Höhepunkt. Dann kam langsam der Abstieg. Das Glück versandete, es ging einem so gut, dass es langweilig wurde. Gewöhnlich war es eine Art reibungslosen Dahinlebens, ein Glück, das nur im Negativen bestand: keine Nervenschmerzen, kein Schnupfen, keine Geldsorgen, keine Frauenzimmergeschichten. Ein Glück, das man erst nachher voll erfasste; erst nachher, wenn es vorbei war, begriff man, wie gut es einem gegangen war. Dann wurde der Horizont langsam dunkler, Wolken kamen, man zappelte sich ab, bis man eines Tages wieder drin war im schönsten Tohuwabohu. Und dann fing es wieder von vorne an. Alle sieben Jahre.«

»Ich habe Ihn so oft gefragt«, sagte er, »was denn nun das Ganze zu bedeuten hätte – das mit den ständigen Wiederholungen und den sieben Jahren … Er schweigt.«

Wir nannten nicht gern Seinen Namen. Wir liebten Ihn nicht.

»Und grade sieben …« fing er wieder an.

»Es soll so eine Art heilige Zahl sein«, sagte ich. »Genaues weiß man darüber nicht. Kannten Sie den Doktor Fließ –?«


»Nein«, sagte er.

»Er muss längst hier sein«, sagte ich. »Aber ich habe ihn noch nie getroffen. Wahrscheinlich rechnet er jetzt die himmlischen Gesetze aus. Aber es ist da etwas daran, mit Wachstum der Pflanze, einer Art männlicher Periode … etwas sehr Gelehrtes. Zehnmal habe ich das also mitgespielt – etwa neunmal weiß ich davon. Gut, dass die Menschen nicht noch älter werden. Haben Sie sich nie gelangweilt –?«

»Nein. Nie«, sagte er.

»Ich ziemlich«, sagte ich. »Aber wie haben Sie das gemacht? Womit haben Sie sich so intensiv beschäftigt, dass sie sich nicht langweilten –?«

»Mit dem Leben«, sagte er. »Ich hatte reichlich zu tun, zu leben. Die Frage ›Warum?‹ ist dem Ding angeklebt. So dürfen Sie nicht fragen.«

»Ich habe mich gelangweilt«, murmelte ich leise und sah einer dekolletierten Geisterdame nach, die sich besonders schön unheimlich geputzt hatte. »Ich fand es nicht so sehr vergnüglich. Zehn Mal sieben Jahre … Warum …? Sagen Sie mir: warum –?


»Haben Sie schwimmen gelernt, damals, als Sie lebten?«, fragte ich ihn. Wir ruderten durch den endlosen Raum, in farblosem Licht, es hatte eigentlich keinen Sinn, sich zu bewegen, weil jeder Maßstab fehlte, wohin die Fahrt ging. Planeten waren nicht zu sehen – sie rollten fern dahin.

»Nein«, sagte er. »Ich kann nicht schwimmen. Ich hatte einen Bruch. Mein Leib hatte einen Bruch.«

»Ich habe es auch nicht gelernt«, sagte ich. »Ich wollte es immer lernen – ich habe drei –, viermal angefangen –; aber dann ist es immer nichts geworden. Nein, Schwimmen nicht. Englisch auch nicht – damit war es ganz dasselbe. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich einmal vorgenommen hatten? Ich auch nicht. Und dann, an stillen Abenden, wenn man einmal aufatmen konnte und das ganze Brimborium des täglichen Klapperwerks verrauscht war, dann kamen die nachdenklichen Stunden und die guten Vorsätze. Kannten Sie das –?«

 

»Wie oft!«, sagte er. »Wie oft!«

»Ja, ich auch …«, sagte ich, »Man nahm sich so vieles vor an solchen Abenden. Da lag denn klar zutage, dass man sich eigentlich, im Grunde genommen, mit einem Haufen Unfug abgab, der keinem Menschen etwas nützte, und sich selbst nützte man damit am allerwenigsten. Diese kindischen Einladungen! Diese vollkommen nutzlosen Zusammenkünfte, auf denen zum hundertsten Male wiedergekäut wurde, was man ja schon wusste, diese ewigen Predigten vor bereits Überzeugten … Das sinnlose Gehaste in der Stadt mit den lächerlichen Besorgungen, die keinem andern Zweck dienten, als dass man am nächsten Tage wieder neue machen konnte … Wie viel Plackerei an jedem einzelnen Ding hing, wie viel Arbeit, wie viel Qual … Der Zweck der Sachen war vollständig vergessen, sie hatten sich selbständig gemacht und beherrschten uns … Und wenn es dann einmal ausnahmsweise ganz still um uns wurde, ganz still, dass man die Stille in den Ohren sausen hörte: dann schwor man sich, ein neues Leben anzufangen.«

»Man glaubt sogar daran«, sagte er wehmütig.

»Und wie man es glaubt!«, fuhr ich eifrig fort. »Man geht ins Bett, ganz voll von dem schönen Vorsatz, nun aber wirklich mit diesem ganzen Unfug aufzuräumen und sich zu leben – sich ganz allein. Und zu lernen. Alles zu lernen, was man versäumt hat, nachzuholen, die alte Faulheit und Willensschwäche zu überwinden. Englisch und Schwimmen und das Ganze … Morgens klingelt dann der Rechtsanwalt an, Tante Jenny und der Geschäftsführer des Vereins, und dann hat es einen wieder. Dann ist es aus.«

»Haben Sie das Leben geführt, das Sie führen wollten?«, fragte er und wartete die Antwort nicht ab. »Natürlich nicht. Sie haben das Leben geführt, das man von Ihnen verlangt hat – stillschweigend, durch Übereinkunft. Sie hätten alle Welt vor den Kopf gestoßen, wenn Sie es nicht getan hätten, Freunde verloren, sich isoliert, als lächerlicher Einsiedler dagestanden. ›Er kapselt sich ein‹, hätte es geheißen. Ein Schimpfwort. Nun, das ist vorbei. Und wenn Sie jetzt zur Welt kämen: wie würden Sie es machen?« Er hielt mit seinen Schwimmbewegungen inne und sah mich gespannt an.

»Genau noch einmal so«, sagte ich. »Genau so.«

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»