Berliner Wochenend

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Berliner Wochenend
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Leo Litz

BERLINER
WOCHENEND

Novelle

(Grundlage für ein Drehbuch)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Fotocollage Cover: T. Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Berliner Wochenend

Zum Autor

VORWORT

Ich nehme an, es gibt in diesem Buch eine bestimmte Zahl der Unstimmigkeiten (z. B. im Sinne der Daten, im Bereich von etwas organisatorischem, etwas historisch-bedingtem …)

Ich bitte um Entschuldigung dafür!

Es geht mir aber darum, die neueste Vergangenheit (einige Zeitgenossen leben noch!) gerade aus heutiger Perspektive darzustellen / zur Betrachtung zu bringen.

Die Konfrontation zwischen „es war damals, wir leben aber heute und haben damit nichts zu tun“ und „heute sind wir klüger(?) geworden und hätten einiges anders machen können“, ist der Kern dieser fiktiven Geschichte. Die Antworten auf bestimmte Fragen, die ohne „den Zeigefinger zu benutzen“, vor den Leser gestellt worden sind, bleiben unaufdringlich offen und sollen jede/jeden dazu bewegen, nochmals zu überdenken, was eigentlich die demokratischen Werte bedeuten …!

Ihr / Euer

Leo Litz

Der Tag war richtig schön! Der Frühling hatte den Winter endgültig besiegt und die Sonne sah von dem blauen wolkenlosen Himmel die Erde absolut freundlich an.

„April, April, er macht, was er will! Und heute will er uns richtig verwöhnen!“ David sah mit glücklichem Lächeln durch das Waggonfenster des ICE Köln-Berlin. Markus schloss sich an: „Veronika, der Lenz ist da, die Mädchen singen tra-la-la …“ Axel und David fielen ein: „Die ganze Welt ist wie verhext, Veronika, der Spargel wächst!“

„Also, wenn es mit einem guten Arbeitsplatz für jeden von uns nicht klappt, dann gründen wir ein Trio!“

Markus lachte so ansteckend, dass die zwei ihm auf gleiche Weise wie auf ein Kommando erwiderten: „Und wir nennen uns dann: ‚Drei Philosophen‘!“ David wischte Lachtränen ab.

„Ich habe nichts dagegen! Aber dann brauchen wir einen guten Manager, anscheinend kommen wir kommerziell nicht gut genug an! Alle fütternden Plätze sind schon belegt!“ Der große, kräftig gebaute Axel betonte seine Worte mit einem Faustschlag ins Leere.

„Es gibt noch DSDS! Bei denen können wir es mal versuchen! ‚Drei Philosophen‘ wäre bei dieser Sendung bestimmt etwas Besonderes im Vergleich zu … vielem anderen!“ Markus sagte das wieder lachend und die zwei antworteten ihm unfreiwillig auf seine Weise.

„Mark, beruhige dich, bitte, wir verpassen sonst alle möglichen Lokführeranweisungen!“ David sah den Freund flehend an.

„Wir haben nichts zu verpassen, unser Ziel ist Endstation!“ Axel betonte seine Worte wieder mit einem fliegenden Faustschlag.

Trotz unterschiedlicher Charaktere und absolut nicht vergleichbarer Gewohnheiten kamen die drei Kameraden miteinander sehr gut aus.

Axel – ein eindeutiger Werbungssporttyp, groß, kräftig gebaut, dazu blond, mit einem entschlossenen Blick der blau-grauen Augen – immer konzentriert und kommerziell eingestellt. Markus – das Gegenteil zu Axel: eher ein Muttersöhnchen, klein, rothaarig, mit milchweißer Haut und immer lachend. Also ein Witzbold. Und David – ein russischstämmiger Jude mit deutschen Wurzeln, immer am Träumen … Aber trotz der festgelegten Behauptung: „Alle Juden sind Schwächlinge und sportunfähig“, übte David Aikido und hatte sogar den schwarzen Gürtel geschafft. Ansonsten war er ein gewöhnlicher Jude des 21. Jahrhunderts: eher weltoffen als religionskonzentriert, aber selbstbewusst und, vielleicht, zu weise für sein Alter … Mit fünf Jahren, nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion, war er mit den Eltern nach Deutschland gekommen und seitdem fühlte er sich mit der neuen (alten?) Heimat tief verbunden.

Und was fügte die drei zusammen? „Gottes Rat ist wunderbar!“ Die drei 25-Jährigen trafen sich an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, wo sie Philosophie studieren wollten!

Und seit schon drei Jahren waren sie untrennbar: zusammen an der Uni, zusammen in der Disko, zusammen bei einem Ausflug … Was schweißte sie zusammen? Es war schwer zu sagen. Vielleicht die Unterschiede, die einander ergänzten. Und jetzt fuhren sie nach Berlin, um unter anderem „Das Holocaust Museum“ zu besichtigen. Ihre Diplomarbeit stand kurz bevor und jeder brauchte einen eigenen Eindruck für das ausgewählte Thema. Auch das war für die Freunde, im Großen und Ganzen, wieder gleich: der Zweite Weltkrieg. Natürlich betrachteten alle drei die Ereignisse des Krieges auf der gleichen Basis: Nicht die ganze Welt, sondern speziell Deutschland kam nicht gut weg. Aber wenn es um die Details ging …

Es war schließlich klar: Jeder von ihnen wuchs in einer eigenen Familie auf, in einer eigenen Welt – die persönlichen Erfahrungen der Großväter und -mütter prägten sie – die Generationen waren nicht gleich. Aber jene Zeiten waren schon vorbei und heute studierten sie dasselbe Fach an derselben Uni.

*

Der Zug kam zum Stillstand. Alle Fahrgäste verließen das komfortable technische Wunder und unsere drei stiegen als Letzte aus – kurz vor der Ankunft waren sie eingeschlafen.

„Cool! Wir sind mit mehr als dreihundert Stundenkilometern gefahren! Fast wie bei einem Flug!“ Markus schleppte seinen Koffer ächzend und sehr ungeschickt.

„Und was hast du aus der Vogelperspektive erfahren?“ David seufzte leicht und nahm den Freundeskoffer in die andere Hand.

„Hmm … Ich weiß es nicht mehr … Ich bin eingeschlafen!“

Die drei platzten mit dem Lachen heraus.

„Schade …“ Axel kam als Erster zu sich. „Aus der Höhe hättest du für uns mindestens ein billiges Hotel auskundschaften können! Die Jugendherbergen habe ich schon satt.“

„Halte durch, Ax! Bald sind wir ‚Drei Philosophen‘ und es regelt sich alles von selbst! Und wovon hast du geträumt?“ David machte einen Zwischenstopp, zwei Koffer waren nicht leicht zu tragen.

„Ach, nichts Konkretes … Das Schläfchen war zu kurz … Mark, wieso schleppst du so viele Sachen mit? Wir werden hier nur drei Tage sein!“ Axel sah den Kameraden mit einer bedauerlichen Miene an und schüttelte dabei mit dem Kopf.

„Du weißt schon, meine Mutter ist Ärztin … Sie hat immer Angst, dass ich mich erkälte oder die Füße nass werden oder sonst was passieren könnte. Ich bin schließlich nicht geimpft, weil ich gegen Verschiedenes allergisch bin. Es ist schwer, einer Spezialistin zu widersprechen …“

„Ja, ich verstehe. Am besten gehst du zur Bundeswehr, dann bekommst du eine universelle Impfung fürs ganze Leben. Mein Vater ist ein Berufssoldat, ein Major, wie übrigens auch mein Großvater einer war … Denen ist ebenfalls nicht viel zu widersprechen …“

Der Bahnsteig war inzwischen schon leer geworden. David seufzte wieder. Er sah sich seltsam um und drehte sich langsam dabei.

„Was ist mit dir, Dav?“ Markus legte eine Hand an Davids Schulter.

„Wisst ihr … Ich bin auch eingeschlafen und träumte von etwas …“

„Wovon?“ Markus blickte den Freund mit Unruhe an.

„Na ja …“ David zuckte zusammen „Ich sah, wie die Juden damals … 1939 … irgendwie von hier aus abtransportiert wurden … und ich war auch dabei …“

„Scheiße …“, sagte Axel, nahm leicht Markus’ Koffer und ging mit großen Schritten den Bahnsteig entlang. Die zwei Kameraden liefen ihm nach. Die Aprilsonne versteckte sich. Es näherte sich der Abend …

*

Die Jugendherberge war laut, grellhell und verraucht. Als sie an die Tür des Zimmers klopften, wohin sie von dem Portier gewiesen wurden, bekamen sie keine Antwort – hinter der Tür toste etwas Rockiges. Sie betraten das Zimmer (so groß wie ein Sportsaal!), in dem unzählige Betten standen – Doppelstockbetten –, und um den mit Bierflaschen gedeckten Tisch saßen mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig junge Männer und Frauen. Der blaue Dunst war so dicht, dass die Gesichter der Sitzenden kaum zu erkennen waren.

„Komm rein, Brüder! Scheue euch nicht! Schließt euch an!“ Ein Südländer vom Tisch begrüßte die Frischangekommenen laut und fröhlich.

„Scheißßße, immer das Gleiche! Gibt es in Deutschland überhaupt keine Ordnung mehr?!“, zischte Axel mit knirschenden Zähnen, seine zusammengekniffenen graublauen Augen wurden dabei fast weiß und der mächtige Nacken spannte sich an …

„Beruhige dich, Ax, zu dieser Zeit findest du in Berlin nichts Besseres! Vergiss nicht, großer Bruder, wir sind schließlich in der Hauptstadt!“ Der im Vergleich zu Axel kleine Markus sah von unten herauf. Und sein unschuldig-komisches Aussehen wirkte: Axel entspannte sich und lächelte beinahe. Aber noch ein bisschen schief …

 

David mischte sich vorsichtig ein: „Es ist noch nicht spät. Wir können unsere Sachen abstellen und spazieren gehen. Wenn wir zurück sind, werden sie bestimmt schon schlafen. Wir machen im Saal einen Durchzug und werden uns etwas erholen … Vergiss auch nicht: Wir sind älter als sie. Sie freuen sich bestimmt, die elterliche Bevormundung endlich abgeschüttelt zu haben!“

„Na gut, ihr zwei Diplomaten, gehen wir und lassen uns von der nächtlichen Seite des Hauptstadtlebens überraschen!“

Die Freunde stellten ihre Sachen ab und gingen nach draußen.

*

Die Hauptstadt war prächtig! Überall Neonreklamen, prachtvolle Gebäude, alte Villen, von Grünanlagen umzingelt, schicke Kaufhäuser, unzählige Bars und Cafés mit kostümierter Bedienung, die die potenziellen Gäste schon vor der Tür sehr freundlich ansprach, eine Schar von teureren Autos und – Menschen, Menschen, Menschen … Und viel Musik: aus den Parkanlagen, Diskos, live von den Straßenmusikanten … Die Luft war warm und duftend – es roch nach Frühling und Fest!

„Ja, so muss das Leben sein!“ Axel war endlich froh und zufrieden.

„Dann gehen wir in ein Café. Ich lade euch ein!“ David machte eine breite einladende Geste.

„Ohhh!“, war die schnelle Reaktion der beiden. „Dann lieber in eine Kneipe, in eine echte Berliner Kneipe!“ Axel war außer sich vor Freude.

„Ja, ja! In eine echte, alte Berliner Kneipe!“ Auch Markus war sehr aufgeregt.

„Ich bin einverstanden, Mark, aber was hätte deine Mutter gesagt …“ David machte eine seriöse Miene.

„Sie ist weit, weit weg von hier! Ich bin frei, frei, frei von ihr!“ Der kleine Markus sprang dabei auf und sah wie ein absolut ausgelassener Bub aus.

Und wieder lächelten die drei gleichzeitig. Der Vollfrieden schien endgültig zurückgekehrt zu sein!

*

Und die Kneipe wurde gefunden – eine echte, alte Berliner Kneipe, nicht weit von der U-Bahn-Station „Zoo“. Heute, am Freitagabend, war es brechend voll. Obwohl überhaupt keine Musik klang, war es hier so laut, dass die Zusammensitzenden Gespräche fast rufend führen müssten.

„Berliner Kindl“, „Berliner Weiße“, „Berliner Pilsner“ … diese einheimischen und alle möglichen Biersorten Deutschlands sorgten für gute Stimmung. Auch undurchdringlicher Tabakqualm trug dazu bei. Er machte die ganze Runde sogar sparsamer: Nach ein paar Minuten gab’s überhaupt keinen Bedarf mehr, selbst zu rauchen …

Nachdem sich unsere Freunde mit großer Mühe ein freies Ecklein ausgesucht hatten, wurden sie von einer freundlichen Kellnerin schnell und gut versorgt.

„Auf das Leben!“ David hob seinen Krug an.

„Auf die Freundschaft!“ Der kleine Markus schloss sich an und hielt dabei seinen Krug mit zwei Händen: mit der rechten am Henkel, mit der linken von unten …

„Auf unseren Sieg!“ Axel bekräftigte den Trinkspruch so lautfroh und viel bedeutend, dass die drei am Nebentisch Sitzenden schnell einen Blick miteinander wechselten …

Den ersten Krug tranken die drei Freunde langsam, genüsslich und in Ruhe, währenddessen sahen sie sich um. Ganz nebenbei wurden auch sie von den drei Tischnachbarn wortlos beobachtet und belauscht …

„Nun, wer von euch ist bereit, unseren Andrang zu verstärken? Jetzt kommt eine Runde von mir!“

Axel wollte der Kellnerin gerade ein Zeichen geben, als er von einem der Nachbarn angesprochen wurde: „Entschuldigung Freunde, seid ihr keine Berliner?“

Der kleine Markus reagierte als Erster und, wie immer, lächelnd froh mit seiner Kinderstimme: „Nach dem ersten Krug – wohl ja!“

Alle lachten ungewollt auf.

„Wir sind Studenten von der Düsseldorfer Uni und hierhergekommen, um unsere Diplomarbeiten vorzubereiten!“, mischte sich David ein.

„Und ihr?“, fragte Axel und sah dabei die drei ausgewachsenen Burschen an. „Ihr seid keine Studenten, oder?“

Die drei Tischnachbarn lächelten und einer von ihnen, mit dunkler Brille, sagte durch die Lache: „Wir sind mit unserem Studium schon fertig! Aber wir sind gebürtige Berliner und laden euch an unseren Tisch ein – so verstehen wir die echte Gastfreundschaft!“

Nach ein paar Minuten saßen alle gemeinsamen am Tisch und das Bier kam ununterbrochen …

Nach einiger Zeit, als „auf Berlin, auf Düsseldorf, auf Liebe“ getrunken wurde und sich die drei Berliner, Jan, Alex und Dirk, unseren Freunden gegenüber wirklich sehr kumpelhaft gezeigt hatten – sie boten ganz freundlich Zigaretten an, luden zu noch einer Runde ein –, fragte Jan (mit dunkler Brille) halbinteressiert: „Was soll das Thema der Diplomarbeit sein?“

Als Erster meldete sich wie immer Markus: „Wir interessieren uns für den Entstehungsmechanismus der Diktaturregime und versuchen dementsprechend die Nazi-Zeit aus heutiger Sicht zu betrachten. Ist dieses Thema für euch interessant?“

Nach diesen Worten wechselten die drei Berliner wieder blitzschnell den Blick miteinander …

„Eigentlich schon …“, beantwortete Jan im Namen der drei, aber zögerlich, während die zwei anderen, Alex und Dirk, ganz Ohr geworden waren. „Aber … in welchem Zusammenhang?“ Jan schien plötzlich absolut nüchtern zu sein.

„Klar, jene Zeit brachte so viel Schlimmes mit, eine mögliche Wiederholung muss verhindert werden!“ Der kleine, sowieso sprachlustige Markus war vom Bier schon doppelt aufgeregt.

„Hmm … Du sagtest gerade, ‚eine mögliche Wiederholung‘ … Heißt das, dass eine Wiederholung noch heute möglich wäre?“ Jan sprach zögerlich, währenddessen beobachtete er alle am Tisch Sitzenden.

„Es gibt immer einige Ursachen, die dazu führen könnten!“ Diesmal meldete sich Axel zu Wort.

„Da hast du recht, Kumpel! Aber … wenn es dazu kommen sollte, wäre es dann gerecht, oder?“ Jan behielt den Gesprächsfaden offensichtlich im Griff.

„Im Leben der Gesellschaft entstehen immer einige Probleme, die weggeräumt werden müssen. Dies gehört auch zum Leben allgemein, aber das ist in keinem Fall ein Grund für eine Wiederholung!“, antwortete nun David.

„Auch du hast recht, David … Aber wenn Probleme entstehen, passiert das nicht von selbst … Da gibt es jemanden, der die solchen verursacht hat. Dann muss dieser Jemand gefunden und, wenn es besonders störend ist, beseitigt werden. Du hast gerade selbst gesagt: ‚die weggeräumt werden müssen‘.“

David wurde blass im Gesicht. „Neue Zeiten bringen immer etwas Neues mit. Das ist einfach die Dialektik, die Entwicklung der Natur und der menschlichen Gesellschaft auch. Meistens werden die Probleme von der Menschheit selbst verursacht. Wenn es sich sogar um Klimaerwärmung handelt, trägt der Mensch seinerseits auch dazu bei; geschweige denn zur Klimaverschmutzung … Und alle Kriege sind sowieso ein Menschenwerk. Und was ein Krieg bedeutet – für die Menschen und auch für die Natur –, muss endlich und endgültig begriffen werden. Dann heißt ‚weggeräumt werden‘ auf keinen Fall ‚eliminiert‘ oder ‚weggelöscht/wegradiert werden‘ oder so etwas Ähnliches. Es geht um Globaldenken. Zum Beispiel wurden erst die Amazonaswälder abgeholzt – der Menschheit zunutze gemacht. Dann fließt Erdöl – das schwarze Gold – in den Ozean: nicht absichtlich vielleicht, aber durch menschliches Versagen. Die Zeiten werden härter, es kommt wahrscheinlich sogar zum Mangel an Lebensmitteln, an Trinkwasser, an Luft. Man muss zusammenhalten, zusammen denken! Die menschliche Geschichte ist eine Spirale, kein geschlossener Kreis!“ David wurde schon rot vor Aufregung.

„Aber es gibt trotzdem diejenigen, die alles, was du gerade geschildert hast, entweder verursacht oder angeordnet haben. Dann wäre es bestimmt leichter und effektiver, sie persönlich zu enttarnen und zur Rechenschaft zu ziehen!“ Jan sprach wieder zögernd, aber dabei beobachtete er alle Anwesenden.

„Jan, wir alle nehmen teil an dem, was passiert – direkt oder indirekt. Deiner Logik zufolge sollen wir wieder nach Schuldigen suchen, statt die gemeinsamen Probleme zusammen zu verarbeiten!“ David versuchte sich zu beruhigen.

Im Laufe des Dialogs waren alle anderen Teilnehmer der Runde ganz still, aber sie benahmen sich unterschiedlich: Jans Freunde, Alex und Dirk, waren aufmerksam und angespannt, Axel zeigte sich ganz Ohr und Markus, am Anfang quicklebendig, war fast eingeschlafen …

Jan wollte gerade etwas zum Ausdruck bringen, als Axel wie gewöhnlich mit seiner kräftigen Faust ins Leere schlug und sagte: „Schluss jetzt. Der Kleine schläft schon.“ Und dann – unerwartet hart und mit Metall in der Stimme – zu Jan: „Wir sehen uns wieder.“

Jan sah Axel tief in die Augen und antwortete mit einer merkwürdigen Intonation: „Be-stimmt …“

*

Als die Freunde müde vom Bier – Markus wurde von David und Axel unter den Armen getragen – in der Jugendherberge eintrafen, herrschte dort schon nächtliche Ruhe. Aber der Schlafsalon sah wirklich unangenehm aus: Überall lagen die schnell ausgezogenen Kleidungsstücke, auf dem Tisch standen und lagen die leeren Bierdosen. Der improvisierte Aschenbecher, gefertigt aus einer leeren Bierflasche, war mit Zigarettenkippen vollgestopft. Am Tisch – mit Bierpfützen und Knabbereihäufchen dekoriert – saß ein südländisch aussehender junger Mann. Sein Kopf lag auf dem Bündel. Als die drei Freunde eintrafen, hob er seinen Kopf kurz an, blickte völlig desorientiert umher, murmelte etwas Undeutliches und ließ seinen Kopf wieder auf das Bündel fallen. Alle anderen schliefen halb ausgezogen in ihren Betten. Das ganze Bild vervollkommnte die frische Frühlingsluft, die durch die halb geöffneten Fenster strömte und mit den leeren Bierdosen auf dem Tisch spielte …

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, knirschte Axel mit den Zähnen, ließ Markus los – gut, dass David aufpasste! – und ging schnell und entschieden aus dem Raum, ohne ein Wort zu verlieren. David, der gerade mit dem kraftlosen Markus beschäftigt war, wollte etwas sagen, aber die Eingangstür krachte schon hinter Axel ins Schloss.

*

Axel ging schnell und aufgeregt durch die schlafende Stadt und brummelte: „Scheiße … Keine Ordnung mehr …“ Er sah im Vorbeigehen die Hauswände mit Graffiti beschmiert; die Mülltonnen mit Müll überfüllt; die Hundehäufchen auf dem Bürgersteig. „Was passiert in diesem Land, wann wird alles geregelt?!“

Schließlich fand er sich am Bahnhof Zoo wieder und blieb endlich stehen. Ganz schnell wurde er von einem offensichtlich Drogensüchtigen angesprochen und um ein paar Cent gebeten. Axel empörte sich, knirschte mit den Zähnen und hob wütend seine rechte Hand hoch – dann plötzlich wurde sie von jemandem gestoppt, als ob derjenige gerade auf diesen Moment gewartet hatte. Axel drehte sich um: Vor ihm standen die drei Berliner …

„Siehst du“, sagte Jan und ließ Axels Hand frei. „Hab ick dir nich prophezeit, dass wir uns bestimmt wiedersehen würden?“

Und diesmal, weil die drei nicht saßen, sondern standen, waren nicht nur ihre schwarzen Lederjacken, sondern auch ihre Springerstiefel zu sehen.

*

Axel kam gegen neun Uhr morgens in die Jugendherberge zurück. Alle Schluckspechte waren schon weg: Die gesamte Gesellschaft war mit dem Bus zur Stadtbesichtigung gefahren worden. Nur David – müde und mit geröteten Augen – und Markus – ganz blass und mit einem nassen Handtuch um den Kopf – saßen auf einer Bettkante nebeneinander und warteten auf Axel.

Als Axel in das Großzimmer hereinkam, war es dort absolut ruhig, schön geputzt und alle Betten standen ganz akkurat bedeckt. Auch die Luft im Raum war frisch. Das Einzige, das etwas über die gestrigen Geschehnisse verraten konnte, war der Beigeschmack des Zigarettenrauchs, der trotz aller Reinigungsmaßnahmen zu riechen war.

Bei Axels Eintreten waren die beiden Freunde – wie auf ein Kommando – energisch aufgestanden und versuchten etwas zu sagen. Axel machte jedoch mit der Hand ein Stoppzeichen und stellte sich militärisch in die Mitte des Raumes: die Beine schulterbreit und die Hände hinter dem Rücken ineinander verhakt. Entschlossen blickte er in Richtung Freunde, allerdings über ihre Köpfe hinweg. Eine Weile standen sich Axel und die beiden wort- und regungslos gegenüber…

Dann sagte Axel: „Gehen wir!“, und verließ den Raum als Erster, ohne etwas mitzunehmen. David und Markus wechselten einen Blick miteinander, nahmen ganz schnell ihre schon vorbereiteten Sachen und beeilten sich Axel zu folgen.

Als sie an der Bushaltestelle endlich nebeneinander anhielten, sprach Markus besorgt als Erster Axel an: „Ax, wie geht es dir?“

 

Nach einer ganz kleinen Pause, die es früher nie gegeben hätte und die deshalb ungewöhnlich für die Freunde war, sagte Axel zögernd, aber deutlich und hart: „Alles läuft nach Plan …“

David und Markus sahen sich erneut an und es entstand eine angespannte Stille.

*

Unterwegs bohrte sich Axel mit leeren Händen und ohne Gepäck relativ leicht durch den vollen Bus bis ganz nach hinten. Für die beiden beladenen Freunde war das aber nicht möglich, ohne andere Fahrgäste zu belästigen. Also blieben sie dort stehen, wo es am günstigsten war: in der Mitte des Busses, am Lenkkranz. So trennten viele unbekannte Gesichter die Freunde voneinander. Markus und David verloren Axel aus dem Blickfeld …

An der Haltestelle Brandenburger Tor stiegen viele Fahrgäste und die beiden schon schwitzenden Freunde zügig aus. Als Letzter kam Axel heraus. Er schaute die beiden an, bemerkte ihren erbärmlichen Zustand, schüttelte mit dem Kopf und beglückte sie mit einem schwachen Lächeln. Dann sagte Axel mit normaler Stimme: „Willkommen am Ziel!“, nahm Markus das Gepäck ab und ging zügig in Richtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, das nicht zu übersehen war.

„Na, endlich!“, rief Markus und schluchzte dabei.

David sagte nichts, blickte nur mit leeren Augen und gerunzelter Stirn um sich. Dann folgten Markus und David Axel.

*

Obwohl im Museum schon viele Besucher waren, gab es unerwartet wenig Stimmengewirr zu hören. Die Audioführung erfüllte ihre Funktion, „persönlich“ durch die Kopfhörer. Nur im RAUM DER NAMEN, wo die Namen und Kurzbiografien ermordeter und verschollener Juden aus ganz Europa verlesen wurden, klang eine Stimme. Es war eine begleitende Stimme, die von oben zu kommen schien. Sie war nicht laut und fast emotionslos. Mit dem Erscheinen des Namens-, Geburts- und Todesjahres des Opfers an allen vier Wänden machte diese nicht hiesige Stimme das Bild der Grausamkeit noch deutlicher und wahrnehmbarer …

Die drei Freunde hatten bis jetzt kein Wort miteinander gewechselt. Nun aber sagte David plötzlich – nicht laut und wie im Schlaf: „Die vollständige Verlesung der Namen und Lebensgeschichten aller Opfer in der hier präsentierten Form würde circa sechs Jahre, sieben Monate und 27 Tage dauern …“

„Scheiße“, reagierte Axel mit versteinertem Gesicht.

Der kleine Markus schluchzte mit tränengefüllten Augen …

*

Sie standen wieder im Eingangsbereich. Markus mit einer großen Tasche und zwei Plastiktüten, die er gerade aus dem Schließfach geholt hatte, David mit einer Sporttasche, Axel mit leeren Händen.

„Wozu schleppst du immer so viel mit, Mark?“ Axels Stimme klang irgendwie abwesend und seine Augen sahen wieder über die Köpfe der Freunde hinweg.

„Weiß ich selber nicht … In den Tüten sind die Lunchpakete, es soll für uns drei reichen. In der Tasche … Also, meine Mutter sagt immer: ‚Für einen Weltreisenden ist kein Gepäck zu groß.‘ Wir sind weit weg von zu Hause …“

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