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Luzern

Lew Tolstoi

Inhaltsverzeichnis

Über den Autoren:

Luzern

Impressum

Über den Autoren:

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi war ein russischer Schriftsteller. Seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina sind Klassiker des realistischen Romans.

Luzern

Aus den Aufzeichnungen des Fürsten D. Nechljudow

den 8. Juli

Gestern abend bin ich in Luzern angekommen und im besten hiesigen Hotel, dem Schweizerhof, abgestiegen. »Luzern ist eine alte Kantonsstadt, am Ufer des Vierwaldstätter Sees gelegen,« sagt Murray, »einer der romantischsten Orte der Schweiz; in dieser Stadt kreuzen sich drei wichtige Straßen; in nur einer Stunde Dampferfahrt liegt der Berg Rigi, dessen Gipfel eine der herrlichsten Aussichten der Welt bietet.«

Ich weiß nicht, ob das richtig ist oder nicht, doch auch die andern Reiseführer behaupten dasselbe; aus diesem Grunde gibt es hier eine Menge von Touristen aller Nationen, besonders aber Engländer.

Das prunkvolle fünfstöckige Haus des »Schweizerhof« ist erst vor kurzem am Kai, unmittelbar am See, erbaut worden, und zwar an derselben Stelle, wo sich in alten Zeiten eine hölzerne, krumme, überdachte Brücke mit Kapellen an den Ecken und Heiligenbildern an den Pfeilern befand. Nun hat man dank dem ungeheuren Andrang der Engländer und aus Rücksicht auf ihre Bedürfnisse, ihren Geschmack und ihr Geld die alte Brücke abgebrochen und an ihrer Stelle einen schnurgeraden Sockeldamm angelegt, auf dem Damm mehrere geradlinige viereckige, fünfstöckige Häuser erbaut, vor den Häusern aber zwei Reihen Linden gepflanzt und diese mit Pfählen gestützt. Zwischen den Linden hat man, wie es überall üblich ist, grün angestrichene Bänke verteilt. Das ist die Promenade; hier ergehen sich die Engländerinnen mit schweizerischen Strohhüten und die Engländer in ihren praktischen und bequemen Anzügen, und sie freuen sich alle ihrer Schöpfung. Es ist ja möglich, daß diese Kais und Häuser, Linden und Engländer sich irgendwo anders ganz hübsch machen würden; jedenfalls aber nicht hier, inmitten dieser seltsam majestätischen und zugleich unbeschreiblich harmonischen und weichen Landschaft.

Als ich in mein Zimmer hinaufkam und das auf den See gehende Fenster öffnete, wurde ich im ersten Augenblick von der Schönheit dieses Wassers, dieser Berge und dieses Himmels buchstäblich geblendet und erschüttert. Mich überkam eine innere Unruhe und das Bedürfnis, dem Überfluß dessen, was meine Seele erfüllte, irgendwie Ausdruck zu verleihen. Ich hatte in diesem Augenblick das Verlangen, irgend jemand zu umarmen, fest zu umhalsen, zu kitzeln und sogar zu zwicken und überhaupt mit ihm oder mit mir selbst irgend etwas ganz Ungewöhnliches anzufangen.

Es war in der siebenten Abendstunde. Den ganzen Tag hindurch hatte es geregnet, doch jetzt heiterte sich das Wetter auf. Vor meinem Fenster breitete sich zwischen den abwechslungsreichen grünen Ufern der See, blau wie brennender Schwefel, von zahllosen, als kleine Punkte erscheinenden Booten und ihren sich verziehenden Spuren belebt, unbeweglich, glatt, gleichsam erhaben; er zog sich, zwischen zwei ungeheuren Bergvorsprüngen eingeengt, in die Ferne, schmiegte sich dunkelnd an die übereinandergetürmten Berge, Wolken und Gletscher und verlor sich zwischen ihnen. Im Vordergrunde lagen feuchte, hellgrüne, geschwungene Ufer mit Schilf, Wiesen, Gärten und Villen; weiter kamen dunkelgrüne, bewaldete Anhöhen mit Schloßruinen; den Hintergrund bildete die zusammengeballte, weiße und lilafarbene Gebirgskette mit seltsamen felsigen und mattweißen schneebedeckten Gipfeln; und alles war übergossen von einer zarten, durchsichtig blauen Luft und beleuchtet von den durch die zerfetzten Wolken hervorschießenden warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Weder auf dem See, noch in den Bergen, noch am Himmel gab es eine einzige ununterbrochene Linie, eine einzige ungemischte Farbe, einen einzigen ruhigen Punkt: überall war Bewegung, Unsymmetrie, Phantastik, eine unaufhörliche Vermengung und Verschiedenheit der Schatten und Linien, und zugleich die Ruhe, Milde, Einheit und Notwendigkeit des Schönen. Und mitten in dieser unbestimmten, verworrenen und freien Schönheit lag unmittelbar vor meinem Fenster der dumme, künstliche weiße Kai mit den gestützten Lindenbäumchen und den grünen Bänken; alle diese armseligen und banalen Werke von Menschenhand waren nicht wie die fernen Villen und Ruinen in der allgemeinen Harmonie und Schönheit aufgegangen, sondern widersprachen ihr auf die gröblichste Weise. Mein Blick stieß sich immer unwillkürlich an diese gräßliche gerade Linie des Dammes, und ich wollte sie zurückstoßen und vernichten wie einen schwarzen Fleck, der einem auf der Nase unter dem Auge sitzt; doch der Kai mit den lustwandelnden Engländern blieb immer an seinem Platz, und ich begann mir unwillkürlich einen Gesichtspunkt zu suchen, von dem aus ich ihn nicht zu sehen brauchte. Es gelang mir auch, meine Augen derart einzustellen, und so genoß ich bis zur Mahlzeit ganz allein jenes unvollständige, doch um so süßere Gefühl, das der Mensch empfindet, wenn er sich ganz allein dem Naturgenuß ergibt.

Um halb acht rief man mich zum Essen. Im großen, prächtig ausgestatteten Parterresaal waren zwei lange Tische für mindestens hundert Personen gedeckt. Etwa drei Minuten dauerte das stumme Erscheinen der Gäste, das Rauschen der Damenkleider, die leichten Schritte und die leisen Unterredungen mit den ungemein höflichen und eleganten Kellnern; vor allen Gedecken saßen bald Herren und Damen, die alle sehr elegant, sogar kostbar und überhaupt ungemein sorgfältig gekleidet waren. Wie überall in der Schweiz, bestand der größte Teil der Tischgesellschaft aus Engländern; daher bestimmten den allgemeinen Ton der Table d'hote eine strenge Beachtung der gesetzlich anerkannten Anstandsregeln, eine Verschlossenheit, die nicht auf dem Stolz der Gäste, sondern auf dem Mangel eines Bedürfnisses, sich einander zu nähern, beruhte, und das Behagen, das jeder für sich in der bequemen und angenehmen Befriedigung seiner Bedürfnisse fand. Überall schimmerten schneeweiße Spitzen, schneeweiße Kragen, schneeweiße, echte und falsche Zähne und schneeweiße Gesichter und Hände. Doch die Gesichter, von denen viele auffallend schön sind, drücken nur das Bewußtsein des eigenen Wohlbehagens aus und einen vollständigen Mangel an Interesse für alles, was sie umgibt und sie nicht direkt berührt; die schneeweißen Hände mit den kostbaren Ringen und Mitaines bewegen sich nur, um den Kragen gerade zu richten, den Braten zu zerschneiden und Wein einzuschenken: alle diese Bewegungen drücken keine Spur von Seele aus. Die Angehörigen einzelner Familien tauschen nur ab und zu leise Bemerkungen aus über den angenehmen Geschmack einer Speise oder eines Weines und über die schöne Aussicht vom Rigi. Die alleinstehenden Herren und Damen sitzen schweigsam nebeneinander, ohne einander anzublicken. Wenn von diesen hundert Personen zwei zusammen reden, so kann man wetten, daß das Gespräch entweder vom Wetter oder von der Besteigung des Rigi handelt. Messer und Gabel bewegen sich kaum hörbar auf den Tellern, man nimmt sich höchst bescheidene Portionen und ißt Erbsen und andere Gemüse ausschließlich mit der Gabel; die Kellner, die sich unwillkürlich der allgemeinen Schweigsamkeit unterordnen, fragen im Flüsterton, welchen Wein man haben möchte. Bei solchen Mahlzeiten empfinde ich stets ein schweres und unangenehmes und gegen das Ende – trauriges Gefühl. Ich habe immer den Eindruck, als ob ich etwas verbrochen hätte und dafür gestraft werden müßte, wie in meiner Kindheit, wo man mich für irgendeinen Streich auf einen Stuhl setzte und ironisch sagte: »So, jetzt ruhe dich aus, mein Lieber!« – während in meinen Adern junges, wildes Blut pochte und aus dem Nebenzimmer die ausgelassenen Schreie meiner Brüder klangen. Früher versuchte ich immer, mich gegen das drückende Gefühl, das ich bei solchen Mahlzeiten empfand, aufzulehnen, doch vergeblich: alle diese leblosen Gesichter haben auf mich einen unwiderstehlichen Einfluß, und ich werde ebenso leblos wie sie. Ich will nichts, ich denke an nichts, ich beobachte sogar nicht. Anfangs machte ich noch Versuche, meine Tischnachbarn ins Gespräch zu ziehen; zur Antwort bekam ich aber nur die gleichen Phrasen, die wohl zum hunderttausendsten Mal auf der gleichen Stelle und zum hunderttausendsten Mal vom gleichen Menschen wiederholt wurden. Dabei sind sie alle doch sicher nicht dumm und nicht gefühllos; viele von diesen erfrorenen Menschen haben wohl das gleiche Innenleben wie ich, und manche ein viel interessanteres und komplizierteres. Warum verzichten sie dann auf einen der größten Genüsse im Leben, auf den Genuß aneinander, den Genuß am Menschen?

Wie anders war es doch in unserer Pariser Pension, wo wir etwa zwanzig Personen von den verschiedensten Nationen, Berufen und Eigenschaften uns unter dem Einflüsse der französischen Geselligkeit an der Table d'hote wie zu einem Vergnügen zusammenfanden! Dort wurde jedes, an irgendeinem Tischende begonnenes, mit Scherzen und Wortspielen gewürztes Gespräch, wenn auch in gebrochener Sprache geführt, sofort zu einem allgemeinen. Ein jeder redete, was ihm gerade in den Kopf kam, ohne sich um die Richtigkeit der Sprache zu kümmern; wir hatten dort unsern Philosophen, unsern Streithahn, unsern bel esprit und unsern Narren, eine ständige Zielscheibe für spöttische Bemerkungen; alles hatten wir gemeinsam. Gleich nach dem Essen rückten wir den Tisch beiseite und tanzten im Takt und auch nicht im Takt bis zum Abend Polka. Wir gaben uns dort zwar etwas kokett, nicht sehr klug und würdevoll, aber immerhin menschlich. Die spanische Gräfin mit ihren romantischen Abenteuern, der italienische Abbate, der nach dem Essen Stellen aus der Göttlichen Komödie zu deklamieren pflegte, der amerikanische Doktor, der Zutritt zu den Tuilerien hatte, der junge Dramatiker mit der langen Mähne, die Pianistin, die nach ihrer eigenen Behauptung die schönste Polka der Welt komponiert hatte, und die unglückliche schöne Witwe, die an jedem Finger drei Ringe trug – wir alle unterhielten zu einander durchaus menschliche, wenn auch etwas oberflächliche, doch freundschaftliche Beziehungen und haben teils flüchtige, teils aufrichtig herzliche Erinnerungen aneinander bewahrt. Wenn ich aber bei einer englischen Table d'hote auf alle diese Spitzen, Bänder, Ringe, pomadisierten Haare und seidenen Kleider sehe, denke ich immer daran, wie vielen lebenden Frauen dieser Schmuck und Tand Glück geben würde und die Fähigkeit, auch andere zu beglücken. So seltsam ist der Gedanke, daß hier so viele Freunde und Liebende, glückliche Freunde und glücklich Liebende, ohne es selbst zu wissen, vielleicht dicht beisammen sitzen. Und sie werden es, Gott weiß warum, nie erfahren und werden nie einander das Glück schenken, das sie so leicht schenken könnten und nach dem sie alle so sehr dürsten.

 

Am Ende der Mahlzeit überkam mich wie immer eine traurige Stimmung; ich ließ das Dessert stehen, verließ die Tafel und begab mich in ziemlich schlechter Laune in die Stadt. Die engen, schmutzigen, unbeleuchteten Gassen, die Läden, die eben geschlossen wurden, die Begegnungen mit betrunkenen Arbeitern und mit Frauen, die Wasser holten, und anderen Frauen, die bessere Hüte aufhatten und, sich fortwährend umblickend, an den Mauern entlang durch die Gassen huschten, vermochten meine düstere Stimmung nicht zu verscheuchen, ja, sie verstärkten sie nur. Es war schon ganz finster, als ich, ohne mich umzublicken und ohne an etwas zu denken, nach Hause ging, in der Hoffnung, mich durch den Schlaf von der düsteren Stimmung zu befreien. Ich empfand eine schreckliche innere Kälte, jenes drückende Gefühl von Einsamkeit, wie es uns oft ohne jeden ersichtlichen Grund überfällt, wenn wir auf einer Reise nach einem neuen Ort kommen.

Als ich, ohne nach rechts und links zu schauen, über den Kai zum Schweizerhof schritt, wurde ich plötzlich von den Tönen einer seltsamen, doch angenehmen und reizvollen Musik überrascht. Diese Töne übten auf mich eine augenblickliche, belebende Wirkung aus. Es war, als ob ein helles, heiteres Licht in meine Seele dränge. Mir ward so lustig und so angenehm zu Mute. Mein bereits eingeschlummertes Interesse erwachte und richtete sich von neuem auf alle mich umgebenden Gegenstände und Erscheinungen. Die Schönheit der Nacht und des Sees, gegen die ich erst eben gleichgültig gewesen, überraschte mich ganz plötzlich, wie etwas ganz Neues. Unwillkürlich erfaßte ich in einem Augenblick alles: den regnerischen Himmel mit den grauen Wolkenfetzen auf dem dunklen Blau, vom aufgehenden Mond beleuchtet; den dunkelgrünen spiegelglatten See mit den sich in ihm spiegelnden Lichtern; die fernen nebelgrauen Berge; das Quaken der Frösche aus Fröschenburg und die taufrischen Schreie der Wachteln am anderen Ufer. Doch unmittelbar vor mir, dort, wo die Töne klangen, an der Stelle, auf die sich mein Interesse hauptsächlich richtete, bemerkte ich im Halbdunkel mitten in der Straße ein Häuflein Menschen, die sich im Halbkreise drängten, und in einiger Entfernung vor ihnen ein kleines, schwarzgekleidetes Männchen. Hinter diesen Menschen hoben sich gegen den dunklen, grauen und blauen zerrissenen Himmel einige schwarze Pappeln des Gartens und die zu beiden Seiten des alten Domes ragenden strengen Türme ab.

Ich kam näher, und die Töne wurden deutlicher. Ich konnte ganz klar die fernen Akkorde einer Gitarre unterscheiden, die lieblich in der abendlichen Luft nachzitterten, und einige Stimmen, die, einander ablösend, nicht das Thema sangen, sondern nur die Hauptstellen des Themas unterstrichen und hervorhoben. Das Thema war eine Art anmutige, graziöse Masurka. Die Stimmen klangen bald in der Nähe und schienen bald aus der Ferne zu kommen; bald hörte ich einen Tenor, bald einen Baß und bald eine Fistelstimme mit gurrenden Tiroler Jodlern. Es war kein Lied, sondern die meisterhafte Skizze zu einem solchen. Ich konnte gar nicht verstehen, was es war; doch es war schön. Die wollüstigen, leisen Akkorde der Gitarre, die anmutige, leichte Melodie und die einsame Figur des schwarzen Männchens inmitten der phantastischen Szenerie des dunkelnden Sees, des durch die Wolken hindurch schimmernden Mondes, der beiden schweigsam in die Luft ragenden Türme und der schwarzen Pappeln des Gartens – all dies war seltsam, doch unaussprechlich schön, oder es schien mir wenigstens so.

Alle die verworrenen zufälligen Eindrücke des Lebens gewannen für mich plötzlich Bedeutung und Reiz. In meiner Seele war gleichsam eine frische, duftende Blume aufgegangen. An Stelle der Müdigkeit, der Zerstreutheit und der Gleichgültigkeit gegen alle Dinge in der Welt, die ich noch vor einer Minute empfunden hatte, spürte ich plötzlich ein Bedürfnis nach Liebe, eine Fülle der Hoffnung und eine grundlose Lebensfreude. Was soll ich mir noch wünschen, was soll ich noch verlangen? – sagte ich mir unwillkürlich. Da ist sie ja, die Schönheit und die Poesie, und sie tritt dir von allen Seiten entgegen. Atme sie mit vollen Zügen ein, genieße sie, soviel dir nur deine Kraft erlaubt. Was willst du noch mehr? Alles ist dein, alles ist herrlich ...

Ich trat näher heran. Das kleine Männchen schien ein fahrender Tiroler zu sein. Er stand vor den Fenstern des Hotels, ein Bein vorgestreckt, den Kopf zurückgeworfen, und sang zur Gitarre, beständig die Stimme wechselnd, ein graziöses Lied. Ich empfand sofort Sympathie mit diesem Menschen und Dankbarkeit für die innere Wandlung, die er in mir hervorgerufen hatte. Der Sänger war, soviel ich bemerken konnte, mit einem abgetragenen schwarzen Rock bekleidet, hatte kurzgeschorenes Haar und eine einfache Mütze, wie sie die Handwerker tragen. In seiner Kleidung war nichts Künstlerisches, doch seine ungezwungene, kindlich ausgelassene Haltung und sein Gebärdenspiel boten bei seinem kleinen Wuchs einen rührenden und zugleich drolligen Anblick. In der Einfahrt, in den Fenstern und auf den Balkons des glänzend erleuchteten Hotels standen die Damen in prächtigen Toiletten, mit bauschigen Röcken, die Herren mit ihren blendend weißen Kragen, der Portier und die Lakaien in goldgestickten Livreen; auf der Straße, im Halbkreise der Menge und etwas weiter zwischen den Linden der Kaianlagen, hatten sich die elegant gekleideten Kellner, die Köche mit ihren weißen Mützen und Jacken, junge Mädchen, die sich umschlungen hielten, und viele Spaziergänger versammelt. Sie alle schienen dasselbe Gefühl zu empfinden, das auch ich hatte. Sie standen schweigend um den Sänger herum und hörten ihm andächtig zu. Alles war still, und nur in den Pausen zwischen den einzelnen Strophen kamen aus der Ferne über den See her Hammerschläge und die Triller der Frösche von Fröschenburg, von den feuchten eintönigen Schreien der Wachteln übertönt.

Der kleine Mann mitten auf der dunklen Straße schmetterte wie eine Nachtigall Strophe um Strophe, Lied um Lied. Obwohl ich nun dicht an seiner Seite stand, gewährte mir sein Gesang nach wie vor großen Genuß. Seine Stimme war nicht groß, doch ungemein angenehm; der feine Geschmack, die Anmut und das Gefühl für Rhythmus, mit welchen er seine Stimme beherrschte, waren durchaus ungewöhnlich und zeugten von einer großen natürlichen Begabung. Den Refrain zu jedem Couplet sang er immer anders, und es war offenbar, daß er alle diese graziösen Variationen ganz frei und aus dem Stegreif brachte.

Durch die Menge – wie oben im Schweizerhof, so auch unten in den Anlagen – ging oft ein beifälliges Flüstern; sonst herrschte andächtiges Schweigen. Auf den Balkons und in den Fenstern erschienen immer neue schön gekleidete Herren und Damen, die im Glanze der Lichter in malerischen Posen an den Brüstungen lehnten. Die Spaziergänger blieben stehen, und im Schatten, auf dem Kai, hatten sich unter den Linden überall Gruppen von Herren und Damen gebildet. In meiner Nähe standen, etwas abseits von der großen Menge, ein Lakai und ein Koch; beide sahen wie Aristokraten aus und rauchten Zigarren. Der Koch gab sich ganz der Wirkung der Musik hin und nickte bei jedem hohen Fistelton begeistert und fragend dem Lakaien zu; er stieß ihn ab und zu mit dem Ellbogen an, als hätte er sagen wollen: »Nun, was sagst du zu diesem Gesang, he?« Der Lakai, dessen breites Lächeln davon zeugte, daß auch er den großen Genuß empfand, antwortete auf die Püffe des Kochs mit einem Achselzucken, welches besagen sollte, daß es gar nicht so leicht sei, ihn in Erstaunen zu setzen, und daß er in seinem Leben schon manches Schönere gehört habe.

In einer Pause, als der Sänger sich räusperte, fragte ich den Lakaien, wer der Sänger sei und ob er oft hierher käme.

»So an die zwei Mal im Sommer,« erwiderte der Lakai. »Er ist aus dem Kanton Aargau, er zieht so bettelnd umher.«

»Gibt es viele Leute von dieser Art?« fragte ich.

»Ja, ja,« antwortete der Lakai, der meine Frage nicht sofort begriffen hatte. Nach einigen Augenblicken begriff er sie erst und fügte hinzu: »Nein, er ist hier der einzige, andere gibt es nicht.«

Das Männchen hatte eben sein erstes Lied beendet; es drehte geschickt die Gitarre um und machte irgendeine Bemerkung in seinem Schweizerdeutsch, die ich nicht verstehen konnte, die aber im Publikum Lachen hervorrief.

»Was hat er eben gesagt?« fragte ich.

»Er sagt, daß ihm die Kehle ausgetrocknet sei und daß er gern einen Schluck Wein getrunken hätte,« übersetzte mir der Lakai.

»Er trinkt wohl gerne über den Durst?«

»Alle diese Leute sind ja vom gleichen Schlag,« erwiderte der Lakai lächelnd und mit der Hand auf den Sänger zeigend.

Der Sänger nahm die Mütze ab und ging, die Gitarre schwingend, auf das Haus zu. Er warf den Kopf zurück und wandte sich an die Herrschaften, die an den Fenstern und auf dem Balkon standen. » Messieurs et mesdames,« sagte er mit halb italienischem und halb deutschem Akzent und in dem Tone, in dem sich Gaukler gewöhnlich an ihr Publikum wenden: » si vous croyez, que je gagne quelque chose, vous vous trompez: je ne suis qu'un pauvre tiaple.« Er hielt inne und wartete; da ihm aber niemand etwas gab, schwang er wieder die Gitarre und fuhr fort: » A présent, messieurs et mesdames, je vous chanterai l'air du Righi.« Das Publikum oben verhielt sich schweigend, blieb aber in Erwartung des neuen Liedes stehen; und das Publikum unten lachte, wohl aus dem Grunde, weil er sich so sonderbar ausgedrückt hatte und weil man ihm nichts gegeben hatte. Ich schenkte ihm einige Centimes. Er warf die Münzen geschickt aus der einen Hand in die andere, steckte sie in die Westentasche, setzte sich seine Mütze wieder auf und stimmte jenes graziöse Liedchen an, das er l'air du Righi genannt hatte. Dieses Lied, das er für den Schluß aufgespart hatte, war noch schöner als alle die vorhergehenden; das Publikum, das inzwischen bedeutend angewachsen war, äußerte großen Beifall. Er war zu Ende. Wieder schwang er die Gitarre, nahm die Mütze ab, hielt sie vor sich hin, näherte sich auf zwei Schritte den Fenstern und sagte wieder den unverständlichen Satz: » Messieurs er mesdames, si vous croyez, que je gagne quelque chose«, den er offenbar für sehr geistreich und fein ersonnen hielt. Ich merkte aber in seiner Stimme und seinen Bewegungen eine gewisse Unsicherheit und kindliche Scheu, die bei seinem kleinen Wuchs einen besonders starken Eindruck machten. Das elegante Publikum lehnte noch immer im Glanze der Lampen malerisch an den Fenstern und Balkons; die einen unterhielten sich artig mit gedämpfter Stimme, offenbar über den Sänger, der mit ausgestreckter Hand vor ihnen stand; andere musterten aufmerksam und interessiert seine kleine dunkle Gestalt; auf einem der Balkons klang das helle und lustige Lachen eines jungen Mädchens. In der Menge auf dem Kai wurde immer mehr und lauter gesprochen und gelacht. Der Sänger wiederholte seinen Satz zum dritten Male, doch mit noch schwächerer Stimme; er sprach ihn sogar nicht zu Ende und streckte wieder seine Hand mit der Mütze aus, ließ sie aber sofort sinken. Und wieder fand sich unter diesen hundert glänzend gekleideten Menschen, die sich versammelt hatten, um ihm zu lauschen, niemand, der ihm auch nur einen Heller zugeworfen hätte. Die Menge unten brach in ein grausames Lachen aus. Der kleine Sänger schrumpfte gleichsam zusammen, nahm seine Gitarre in die linke Hand, lüftete mit der rechten die Mütze und sagte: » Messieurs et mesdames, je vous remercie er je vous souhaite une bonne nuit!« Dann setzte er die Mütze wieder auf. Die Menge lachte wie besessen. Die schönen Herren und Damen zogen sich allmählich in ruhigem Gespräch von den Balkons und Fenstern zurück. In den Anlagen begann man wieder zu promenieren. Die Straße, die während des Gesanges verstummt war, belebte sich wieder; nur einige Menschen beobachteten noch aus der Entfernung den Sänger und lachten. Ich hörte, wie das Männchen etwas in den Bart brummte; dann wandte er sich um, wurde noch kleiner und entfernte sich mit schnellen Schritten in der Richtung zur Stadt. Die lustigen Spaziergänger, die ihn aus der Ferne beobachtet hatten, folgten ihm lachend in einiger Entfernung ...

 
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