Tom Sawyers Abenteuer

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Tom Sawyers Abenteuer
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

LUNATA


Tom Sawyers Abenteuer

Tom Sawyers Abenteuer

© 1888 by Mark Twain

Aus dem Englischen von Thomas Bürk

Illustrationen von W. Roegge

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Mark Twain

Erstes Kapitel
Ge-e-e Tom! – Tante Polly macht sich ihre Pflicht klar – Tom musiziert – Die Herausforderung

Tom!«

Keine Antwort.

»Tom!«

Keine Antwort.

Die alte Lady rückte ihre Brille etwas abwärts und schaute darüber weg im Zimmer herum; dann rückte sie sie wieder höher und sah darunter weg. Selten oder nie schaute sie durch die Gläser nach einem kleinen Ding wie ein Junge; es war ihre Staatsbrille, ihr Stolz, und nicht gemacht, um gebraucht zu werden, sondern des Stils wegen. Ein Pfannendeckel hätte ihr denselben Dienst getan.

Einen Augenblick schien sie durch dieses Stillschweigen überrascht, dann sagte sie, nicht zornig, doch laut genug, um von den Möbeln gehört zu werden: »Warte nur, wenn ich dich kriege –«

Sie sprach die Drohung nicht ganz aus, denn Sie hatte sich gebückt, um mit dem Besen unter das Bett zu stoßen und bedurfte ihres Atems, um jedem Stoß den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Sie stöberte jedoch niemand auf als die Katze.

»Sah man jemals solch einen Jungen!«

Sie ging zur offnen Tür und suchte unter den Liebesapfelranken und dem Stechapfelkraut, die den Garten bildeten. Kein Tom. Sie erhob die Stimme und schrie: »Ohe–e–e Tom!«

Ein leises Geräusch erfolgte, sie wandte sich rasch um, eben zeitig genug, um einen kleinen Jungen bei der Jacke zu erwischen und seiner Flucht ein Ziel zu setzen.

»Ja so! ich hätte an jenes Kabinett denken sollen. Was hattest du dort zu tun?«

»Nichts!«

»Nichts? Sieh deine Hände an und befühle den Mund! Was hast du da?«

»Weiß nicht, Tante!«

»Aber ich weiß es. Eingemachtes ist es, sonst nichts. Wie viel hundertmal habe ich dir gesagt, wenn du das Eingemachte nicht stehen ließest, würde ich dir die Haut abziehen! Reich' mir jene Gerte her!«

Schon war die Gerte zum Schlag erhoben – die Gefahr war dringend. –

»Ha! Tante, sieh dich um!«

Die alte Dame drehte sich rasch um; im gleichen Augenblicke entwischte der Junge, kletterte über den hohen Gartenzaun und verschwand.

Einen Augenblick stand Tante Polly verblüfft, dann brach sie in ein leises Lachen aus: »Der Teufelsjunge! Kann ich denn nie klüger werden? Hat er mir nicht schon genug Streiche gespielt, um auf der Hut zu sein? Aber alte Narren sind die allergrößten. Man sagt nicht umsonst, ein alter Hund lerne keine neuen Kunststücke. Aber, du lieber Gott, seine Streiche sind alle Tage anders, und niemand kann wissen, was gerade kommt. Er scheint ganz genau zu wissen, wie weit er mich plagen darf, um mich in Harnisch zu bringen, und wenn es ihm dann gelingt, mich eine Minute zu unterbrechen, oder mich zum Lachen zu zwingen, so ist alles vergessen und ich könnte ihm auch nicht das mindeste tun. Gott weiß es und es ist die reinste Wahrheit, ich erfülle meine Pflicht nicht gegen diesen Jungen. Wer seiner Rute schonet, der hasset seinen Sohn, sagt die Bibel. Ich weiß, dass ich Sünde auf Sünde, und Strafe auf Strafe häufe, für ihn und mich. Er ist noch voll vom alten Satan, leider Gott! aber er ist auch meiner leiblichen verstorbenen Schwester Sohn, der arme Junge, und ich kann es nicht übers Herz bringen, ihn zu schlagen. So oft ich ihm etwas nachsehe, plagt mich das Gewissen, und wenn ich ihn strafen soll, möchte mein altes Herz schier brechen. Es ist eben so: Der Mensch vom Weibe geboren, lebt wenige Tage und ist voll von Sorge und Unruhe, wie die Schrift sagt. Er wird heute nachmittag die Schule schwänzen, und ich werde ihn zur Strafe dafür morgen tüchtig zur Arbeit anhalten müssen. Es ist zwar sehr hart, ihn an einem Sonnabend, wenn alle Jungen Ferien haben, zum Arbeiten zu zwingen; da er aber die Arbeit über alles hasst, und ich doch meine Pflicht einigermaßen gegen ihn erfüllen will, so muss es dabei bleiben, oder ich werde an seinem Verderben schuld sein.«

Tom indessen schwänzte die Schule und amüsierte sich vortrefflich. Er kam spät und eben noch früh genug nach Hause, um dem kleinen farbigen Jim vor Nachtessen noch das Holz für den nächsten Tag sägen und Späne machen zu helfen, wobei er ihm seine Großtaten erzählte, während letzterer drei Vierteile der Arbeit that.

Toms jüngerer Bruder (oder vielmehr Stiefbruder) Sid war mit der ihm zugeteilten Arbeit des Späneauflesens schon zu Ende, denn er war ein ruhiges Kind, und nicht ausgelassener abenteuerlicher Art.

Während Tom sein Nachtmahl verzehrte und gelegentlich Zucker stahl, nahm ihn Tante Polly ins Examen, und richtete, wie sie meinte, tief durchdachte und äußerst arglistige Fragen an ihn, um ihm gravierende Geständnisse zu entlocken. Wie so manch andere treuherzige, einfältige Seele, glaubte sie sich mit Talent für dunkle, mysteriöse Diplomatie begabt, und sie liebte es, auch ihre durchsichtigsten Absichten als ein Wunder tiefster List zu betrachten. Sie sagte: »Tom, es war so ziemlich warm in der Schule, nicht?«

»Ja Tante!«

»Mächtig warm, nicht wahr?«

»Ja Tante!«

»Hattest du keine Lust, schwimmen zu gehen?«

Etwas wie Furcht überlief Tom, ein Anflug von unbehaglichem Verdacht. Er forschte in Tante Pollys Auge, fand aber nichts. Somit sagte er: »Hm, nein, nicht sehr.«

Die alte Lady streckte die Hand aus und befühlte Toms Hemd.

»Jetzt ist es dir nicht mehr zu warm, wie ich sehe.« Und sie fühlte sich geschmeichelt, ausfindig gemacht zu haben, dass Toms Hemd trocken war, ohne dass jemand ihre Absicht gemerkt hätte. Aber Tom wusste nun, woher der Wind blies, und was zunächst kommen würde. Somit sagte er, um einer Frage zuvorzukommen: »Wir pumpten einander Wasser auf die Köpfe! Meine Haare sind noch ganz feucht. Willst du fühlen?«

Tante Polly war versteinert, dass ihr dieser Beweis entgangen und ihre List mißlungen war. Dann hatte sie einen neuen Einfall.

 

»Sag' einmal, Tom, musstest du dabei nicht den Hemdkragen abnehmen, den ich dir heute angenäht hatte? Knöpfe deine Jacke auf!«

Tom fühlte sich erleichtert. Er öffnete seine Jacke. Der Hemdkragen war fest angenäht.

»Ach was! Geh' weg! Ich war überzeugt, dass du die Schule geschwänzt und dich mit Schwimmen belustigt habest. Aber ich verzeihe dir, Tom. Verbrannte Katzen fürchten das Feuer. Für dieses Mal! Merke dir's!«

Sie war halb unzufrieden, dass ihr Scharfsinn sie getäuscht, und halb zufrieden, dass Tom sich einmal gehorsam gezeigt hatte.

Aber Sidney sagte: »Sonderbar, ich meinte, du habest den Kragen mit weißem Faden angenäht, und dieser hier ist schwarz.«

»Ja so! Ganz richtig. Der Faden war weiß! Tom?!«

Doch Tom wartete nicht auf den Rest. Er schlüpfte zur Türe hinaus, indem er sagte: »Warte Siddy, das sollst du mir bezahlen.«

Als er sich in Sicherheit fühlte, zog er zwei große Nadeln hervor, die er in den Aufschlägen seiner Jacke versteckt hatte, und von denen die eine mit weißem, die andere mit schwarzem Faden umwickelt war.

»Ohne Sid hätte sie es nicht gemerkt. Hol's der Teufel! Bald näht sie mit weißem, bald mit schwarzem Faden. Wenn sie nur bei einer Farbe bliebe! Wie kann ich wissen, ob Weiß oder Schwarz an der Reihe ist? Aber Sid soll dafür herhalten. Ich will ihn lehren!«

Tom war, wie man sieht, nicht der Musterknabe des Ortes. Es gab aber einen solchen und Tom kannte ihn sehr gut und hasste ihn.

Nach einigen Minuten hatte Tom jedoch seine Widerwärtigkeiten vergessen. Nicht dass sie ihm leichter oder weniger bitter vorgekommen wären, als man sie in vorgerückteren Jahren zu fühlen pflegt – nein, ein neues, mächtigeres Interesse besiegte sie für jetzt – gerade so wie Erwachsene erlittene Verluste im Eifer neuer Unternehmungen leicht verschmerzen. Es handelte sich um eine sehr bewunderte Novität im Pfeifen, in die ihn ein Neger eingeweiht, und die er jetzt ungestört zu probieren ein heiß Verlangen trug. Diese Neuerung bestand in einer eigentümlichen, vogelartigen Wendung, in einer Art von fließendem Wirbel, der durch kurzes, rasch aufeinanderfolgendes Andrücken der Zunge an den Gaumen – ohne die Melodie zu stören – hervorgebracht wird, und der meinen Lesern, wenn sie jemals Knaben gewesen sind, wohl bekannt sein dürfte. Fleiß und Eifer enthüllten ihm bald den Kunstgriff; – den Mund voll Harmonie und mit jubelndem Gemüt schritt er die Straße entlang. – Ein Astronom, der soeben einen neuen Planeten entdeckt hat, kann sich nicht erhabener fühlen, und wenn zwischen beiden starke, tiefe, ungetrübte Befriedigung in die Waagschale gelegt würde, dürfte sie sich leicht zu Gunsten des Knaben neigen.

Die Sommerabende waren lang. Noch dunkelte es nicht. Plötzlich hielt Tom mit Pfeifen inne. Ein Fremder stand vor ihm – ein Junge, kaum merklich größer als er selbst. Die Erscheinung eines Unbekannten, jeden Alters oder Geschlechts war ein Ereignis in dem armen kleinen Nest Petersburg. Der Junge war gut gekleidet, zu gut für einen Werktag. Es war zum Staunen. Zierlicher Hut, neue, blautuchene, modische Jacke und Beinkleider. Er trug Schuhe und es war doch nur Freitag. Sogar eine Halsbinde, ein hellfarbiges Band. Er sah so städtisch aus, dass es Tom in der Seele weh that. Er starrte das glänzende Wundertier an, und je mehr er die Nase über dessen Anzug rümpfte, desto schäbiger erschien ihm seine eigene Ausstattung. Keiner sprach. Wenn einer sich bewegte, bewegte sich der andere, aber immer von der Seite, im Kreise herum, Kopf gegen Kopf und Auge gegen Auge. Endlich sagte Tom: »Ich kann dich hauen!«

»Versuch's einmal!

»Freilich kann ich's!«

»Nein, du kannst nicht!«

»Doch ich kann!«

»Nein!«

»Ja! Ich kann!«

»Nein!«

»Ja!«

»Du kannst nicht!«

Unheimliche Pause. Dann Tom: »Wie heißt du?«

»Geht dich nichts an!«

»Ich will dir zeigen, ob!«

»So zeige!«

»Wenn du noch viel sagst, so will ich!«

»Viel, viel, viel, viel! Da!«

»O, du hältst dich für sehr Pfiffig! Wenn ich wollte, könnte ich dich prügeln mit einer einzigen Hand!«

»Warum tust du es denn nicht?«

»Wenn du mich narren willst, sollst du es sehen!«

»O, ich habe mehr gesehen, als das!«

»Du Zieraffe, du bildest dir wohl viel ein? Welch' abscheulicher Hut!«

»Gefällt er dir nicht? Schlag' ihn mir herunter! Wag' es nur – und wohl bekomm's!«

»Du lügst!«

»Du auch!«

»Du bist ein Lügner und ein Feigling!«

»Bumm! Geh' spazieren!«

»Höre auf oder ich werfe dir einen Stein an den Kopf!«

»Natürlich!«

»Jawohl!«

»So wirf! warum tust du es nicht? Gelt, du hast Furcht?«

»Nein!«

»Doch!«

»Nicht wahr!«

Eine weitere Pause. Näheres Fixieren. Näherrücken von der Seite. Endlich Schulter an Schulter. Tom sagt: »Geh' fort von hier!«

»Geh' du selbst!«

»Ich mag nicht!«

»Ich auch nicht!«

So standen sie, den einen Fuß im Winkel angestemmt, beide mit äußerster Gewalt gegeneinander drückend, das Auge voll glühenden Hasses, ohne dass der eine oder der andere einen Vorteil errang. Endlich, müde und abgemattet, ließen sie einander vorsichtig los und Tom sagte:

»Du bist ein Feigling, ein junger Hund. Ich werde es meinem großen Bruder sagen; der kann dich mit dem kleinen Finger abdreschen, und ich will ihm sagen, dass er es tut!«

»Etwas recht's, dein großer Bruder! Ich habe einen, der viel größer ist, und der den deinigen über jenen Gartenzaun werfen kann!«

(Beide Brüder existierten nur in der Einbildung.)

»Das ist wieder erlogen!«

Tom zog mit seiner großen Zehe eine Linie in den Sand.

»Ich verbiete dir, diesen Strich zu überschreiten, oder ich werde dich so zerhauen, dass du nicht mehr aufstehen kannst!«

Der neue Junge schritt sofort darüber hinweg.

»So! Haue jetzt!«

»Mach' mich nicht wild, und nimm dich in acht!«

»Schlag' zu!«

»Für zwei Cents würde ich es tun!«


Der neue Junge zog zwei Kupferstücke aus der Tasche und hielt sie Tom höhnisch unter die Nase.

Tom schlug sie ihm aus der Hand. Im Augenblick stolperten sie und wälzten sich im Kote, sich wie Katzen umklammernd, Haare und Kleider zerreißend, sich Gesicht und Nase zerquetschend und sich mit Staub und Ruhm bedeckend. Nach einigen Minuten tauchten aus dem Schlachtgewühl bestimmte Formen auf, und Tom erschien rittlings auf dem neuen Jungen sitzend und ihn mit beiden Fäusten bearbeitend.

»Hast du genug?«, sagte er.

Der Junge heulte vor Wut und suchte sich frei zu machen.

»Hast du genug?« und die Hiebe regneten fort.

Endlich ließ der Junge ein sehr kleinlautes »Genug« hören. Tom ließ ihn los und sagte: »So! das wird dich lehren, in Zukunft besser zu sehen, wen du zum Narren haben willst.«

Sich schnäuzend, weinend den Staub von den Kleidern abklopfend und sich unter Drohungen, was er Tom beim nächsten Zusammentreffen antun wolle, hie und da umwendend und die Faust schüttelnd, entfernte sich der neue Junge. Tom schnitt ihm dafür Gesichter und ging wohlgemut von dannen. Kaum hatte er aber den Rücken gedreht, so raffte der neue Junge einen Stein auf, traf Tom damit zwischen die Schultern und rann wie eine Antilope davon. Tom verfolgte den Verräter bis zu dessen Wohnung, die er bei dieser Gelegenheit kennen lernte. Vor dem Tore Posto fassend, forderte er ihn auf, herauszukommen, wenn er das Herz habe. Dieser jedoch begnügte sich, hinter dem Fenster die Zunge gegen ihn herauszustrecken und dann zu verschwinden. Endlich erschien die Mutter seines Feindes, nannte Tom einen schlimmen, bösartigen, gemeinen Buben und jagte ihn fort. – Er ging, obwohl er seinem Feinde lieber noch länger aufgelauert hätte.

Es war ziemlich spät, als er nach Hause kam und durchs Fenster ins Zimmer kroch. Zu seinem Schrecken traf er die Tante im Hinterhalt. Als diese den Zustand seiner Kleider sah, ward ihre Absicht, seine Samstagferien in Gefangenschaft bei Zwangsarbeit zu verwandeln, zum felsenfesten Entschluss.

Zweites Kapitel
Starke Versuchung – Strategische Bewegungen – Die Harmlosen eingeführt

Samstag-Morgen war gekommen und ein heller, frischer, fröhlicher Sommermorgen war's. Jubel erfüllte jegliches Herz und wenn die Herzen jung waren, so brach er sich durch die Lippen Bahn. Fröhlichkeit thronte auf jedem Gesicht, jeder Schritt war elastisch. Die Akazien standen in voller Blüte und erfüllten die Lüfte mit ihren Düften. Der das Dorf beherrschende Cardiff-Hill erglänzte in frischem Grün, und die Entfernung war eben groß genug, um ihn den Blicken als ein ersehntes, ergötzliches, einladendes Land voll träumerischer Ruhe erscheinen zu lassen. Auf einem Nebenpfade erschien Tom mit einem Kübel voll Tünche und einem langgestielten Pinsel. Er überschaute den Zaun; alle Fröhlichkeit verließ ihn, und tiefe Melancholie bemeisterte sich seiner. Ein Bretterzaun, fast 100 Fuß lang und 9 Fuß hoch. Das Leben erschien ihm schal, das Dasein eine Bürde. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die höchste Planke; zwei-, dreimal wiederholte er diese Operation und verglich dann den kleinen getünchten Fleck mit der unermeßlichen Ausdehnung des der Tünche noch harrenden Zaunes. – Entmutigt ließ er sich auf einem Baumkasten nieder.

Jim schlüpfte durch die Gartentür mit einem Blecheimer und sang ein Negerliedchen. Das Wasserholen vom Dorfbrunnen hatte früher Tom nie behagen wollen, nun schien es ihm gar nicht so übel. Er erinnerte sich, dass am Brunnen immer Gesellschaft zu treffen war. Knaben und Mädchen von allen Farben, weiße, Mulatten und Negerkinder waren immer da, ihre Reihe abzuwarten, und verkürzten sich die Zeit mit Faulenzen, Spielen, Tauschhandel, Zanken, Prügeln und Narrenpossen. Zudem erinnerte er sich, dass, obschon der Brunnen nur 150 Yards entfernt, Jim nie vor einer Stunde zurückkam und auch dann noch von jemand abgeholt werden musste.

Tom sagte: »Höre einmal, Jim, wenn du ein wenig tünchen willst, werde ich Wasser für dich holen!«

Jim schüttelte den Kopf und sagte: »Kann nicht, Master Tom! Die alte Missis sagte zu mir, ich müsse Wasser holen und dürfe mich nicht aufhalten, Narrenpossen zu treiben; – sie wisse wohl, dass Tom mich zum Tünchen werde verleiten wollen, ich soll aber meinem eigenen Geschäfte nachgehen, und sie werde das Tünchereigeschäft nicht aus dem Auge verlieren.«

»O, kümmere dich doch nicht um ihr Geschwätz, Jim! Es ist ihre Gewohnheit so. Gib mir den Eimer. Ich bleibe keine Minute aus. Sie erfährt es nicht!«

»O, ich darf nicht, Master Tom! Die alte Missis würde mir den Kopf abreißen. Ganz gewiss!«

»Sie! Sie prügelt niemand. Sie schlägt einen ein wenig mit dem Fingerhut auf den Kopf und wer fragt darnach? Sie führt schlimme Reden, aber Reden tut nicht weh, und schon gar nicht, wenn sie nicht dazu weint. Jim, ich gebe dir einen Marmel! Einen weißen, Jim!«

Jim begann zu schwanken.

»Einen weißen, Jim! Einen auserlesenen! Sieh'!«

»O, der ist wunderschön. Aber ich fürchte mich so vor der alten Dame!«

»Ich zeige dir auch noch meine kranke Zehe!«

Jim war mitleidig. Diese Aussicht überwältigte ihn. Er setzte seinen Eimer auf die Erde, nahm den weißen Marmel, und beugte sich, während Tom den Verband seiner kranken Zehe ablöste, mit ungeteiltem Interesse darüber. Auf einmal flog er mit seinem Eimer die Straße hinunter, Tom tünchte wütend darauf los, und Tante Polly zog sich mit einem Pantoffel in der Hand, triumphierend zurück.

Toms Arbeitswut verrauchte bald. Er dachte an die für diesen Tag ersonnenen lustigen Streiche und seine Trübsal nahm zu. Bald hatte er die Ankunft der freien, unbeschäftigten Knaben und ihren Spott über seine Zwangsarbeit zu erwarten. – Der Gedanke daran brannte ihn wie Feuer. – Er zog seine irdischen Reichtümer hervor und überzählte sie – Fragmente von Spielsachen, Marmel und derartiges Zeug, – genug, um vielleicht irgend eine andere Arbeit dafür zu erkaufen, aber keine halbe Stunde ungehemmter Freiheit. Er steckte seine schmalen Besitztümer wieder ein, und gab den Gedanken, die Jungen zu bestechen, wieder auf.


Aus diesem dunkeln, hoffnungslosen Brüten fuhr er plötzlich empor. Ein Einfall war ihm gekommen, eine große glänzende Idee dämmerte in ihm auf. Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich ruhig ans Werk. Ben Rogers, der Junge, dessen Spott er am meisten fürchtete, kam in Sicht. Ben kam hüpfend und springend, – Beweis genug für sein leichtes Herz und seine hochgespannten Erwartungen. Er verspeiste einen Apfel und stieß von Zeit zu Zeit einen langen, melodiösen Schrei aus, dem ein tiefes Ding-dong-dong, Ding-dong-dong nachfolgte; denn er agierte ein Dampfboot.

 

In der Nähe Toms angekommen, mäßigte er seinen Kurs, nahm die Mitte der Straße, hielt weit Steuerbord und drehte unter großem Aufwand von Mühe und Pomp bei, denn er agierte den »Großen Missouri« und betrachtete sich als 9 Fuß Wasser ziehend. Er vereinigte in seiner Person Schiff, Kapitän und Signalglocke, und hatte in diesen Eigenschaften von seinem Sturmdeck aus die Befehle zu erteilen und zu vollziehen.

»Stopp, Sire! Kling-ling-ling!«

Er war rechts am Rande der Straße angekommen, und bog nun langsam gegen den Seitenpfad, wo endlich der »Große Missouri« nach manchem Kommandoruf, manchem Tschau-tschau-tschau der Räder, manchem Kling-ling der Glocke und manchem Ssch-sch-sch der Dampfhahnen vor Anker ging.

Tom fuhr in seiner Arbeit fort, ohne sich um das Dampfboot zu kümmern.

Ben sah zu, und rief dann: »Holla! Gelt, das gefällt dir nicht?«

Keine Antwort. Tom überschaute seinen letzten Anstrich mit künstlerischem Auge; noch ein schwungvoller, graziöser Pinselstrich, und gleiche Bewunderung der Arbeit.

Ben trat hart an ihn heran. Toms Mund wässerte vor Begierde nach dem Apfel, er ließ sich aber in der Arbeit nicht stören.

Dann sagte Ben: »Nun, alter Kamerad, musst du arbeiten? Nicht?!«

Tom wandte sich rasch um und sagte: »Wie, bist du da, Ben? Ich hatte dich nicht bemerkt!«

»Ja, ich gehe schwimmen. Möchtest du nicht auch? Aber du musst arbeiten. Gelt, du musst?«

Tom sah ihn kurz an und erwiderte: »Was nennst du arbeiten?«

»Was? ist vielleicht Tünchen keine Arbeit?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Was ich weiß, ist, dass ich Vergnügen daran finde.«

»O, du willst mir vorspiegeln, dass es dir gefällt?«

Der Pinsel fuhr auf und ab.

»Gefallen? Warum sollte es nicht? Glückt es vielleicht jedem Jungen, einmal einen Zaun tünchen zu dürfen?«

Das brachte die Sache in ein neues Licht. Ben, an seinem Apfel nagend, schwieg. Tom fuhr mit seinem Pinsel zierlich hin und her, trat einige Schritte zurück, um den Effekt zu beurteilen, half hie und da nach, kritisierte den Effekt wieder, während Ben zusah, und je länger, je mehr Interesse an der Geschichte fand.

Plötzlich sagte er: »Höre, Tom, lass mich ein wenig tünchen!«

Tom dachte nach; er war auf dem Punkte, seine Einwilligung zu geben, änderte aber seinen Vorsatz: »Nein, nein, ich darf es nicht wagen, Ben! Siehst du, Tante Polly ist ganz besonders auf diese Seite, der Straße zu, erpicht; ja, wenn es die Rückseite wäre, könnte es mir nicht darauf ankommen und sie würde nichts merken. Traurig aber wahr, sie hängt an diesem Zaun mit Leib und Seele; der Anstrich muss mit größter Sorgfalt ausgeführt werden, und ich wette, dass unter tausend, vielleicht zweitausend Jungen kein einziger zu finden ist, der es kann!«

»So, meint sie? Komm, lass mich einmal probieren. Nur ein klein wenig – wenn ich du wäre, Tom, würde ich dich lassen.«

»Lieber Ben, ich möchte es gerne, aber Tante Polly – sieh! Jim wollte, Sid wollte, aber sie wollte nicht. Siehst du nun, in welcher Klemme ich bin? Wenn du den Zaun verderbtest, oder irgend etwas vorkäme –«

»Unsinn! Ich werde Achtung geben. Lass mich nur probieren. Du sollst den Butzen meines Apfels dafür haben.«

»Nun ja! Da! Aber nein, Ben, ich fürchte –«

»Ich gebe dir den ganzen Apfel!«

Tom überließ ihm den Pinsel mit widerstrebender Miene, aber frohen Herzens. Und während das weiland Dampfboot »Der große Missouri« in der Sonnenhitze arbeitete und schwitzte, saß der weiland Künstler im nahen Schatten, baumelte mit den Beinen – kaute seinen Apfel und sann auf neue harmlose Opfer. An Material fehlte es nicht. Knaben gingen immer vorbei, sie kamen um zu spotten und blieben um zu tünchen.

Bevor Ben müde war, hatte Tom schon mit Billy Fisher für einen gut konditionierten Papierdrachen abgeschlossen; nach diesem kam Johney Milbs für eine tote Ratte und eine Schnur, um sie damit zu schwingen etc., Stunde um Stunde. Und um 4 Uhr nachmittags wälzte sich der morgens früh so arme Tom im Reichtum. Außer den oben erwähnten Sachen besaß er nun zwölf Marmel, ein Stück einer Maultrommel, eine Scherbe blauen Flaschenglases, um durchzuschauen, das Rohr einer Spule, einen unbrauchbaren Schlüssel, ein Stück Kreide, einen gläsernen Karaffenpfropf, einen Zinnsoldaten, ein paar Kaulquappen, 6 Raketen, eine junge einäugige Katze, einen messingenen Türknopf, ein Hundehalsband, aber keinen Hund dazu – ein Messerheft, 4 Stück Pomeranzenschale und ein altes zerbrochenes Schiebefenster.

Er hatte eine hübsche, angenehme Zeit dabei gehabt – an Gesellschaft hatte es nicht gefehlt, und der Zaun war mit drei Lagen übertüncht. Wenn er das Tünchergeschäft fortgesetzt hätte, wäre bald jeder Dorfjunge insolvent geworden.

Tom fand, dass, eins ins andere gerechnet, das Leben doch nicht so schal sei. Unbewusst hatte er eine große Triebfeder des menschlichen Strebens entdeckt: die nämlich, dass mit den in den Weg sich stellenden Schwierigkeiten zur Erreichung eines Zweckes die Anstrengungen sich steigern. Wäre er ein großer, weiser Philosoph gewesen, wie z. B. der Schreiber dieses Buches, so wäre ihm nun klar geworden, dass Arbeit das ist, was man tun muss, und Spiel dasjenige, wozu man nicht gezwungen ist. Er hätte begriffen, dass die Herstellung von künstlichen Blumen oder das Treiben eines Scherenschleiferrades Arbeit – hingegen das Besteigen des Mont-blanc und das »Alle Neune«-werfen beim Kegelspiel Unterhaltungen sind. Es gibt reiche Leute in England, welche im heißen Sommer 20 bis 30 Meilen täglich vierspännig fahren, nur weil die Erlaubnis dazu viel Geld kostet; wenn sie es aber tun müßten und man sie noch dafür bezahlen wollte, so hätte der Spaß bald ein Ende.

Tom brütete eine Zeitlang über den Wechsel seiner finanziellen Verhältnisse und ging dann zum Rapport ins Hauptquartier, d. h. nach Hause.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»