Was ist der Mensch? Ein Gespräch über die Welt und Gott

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Was ist der Mensch? Ein Gespräch über die Welt und Gott
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Mark Twain





Was ist der Mensch?



Ein Gespräch über die Welt und Gott



Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hans-Christian Oeser



Reclam





Englischer Originaltitel:

What Is Man?





2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen



Covergestaltung: it’s me design



Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen



Made in Germany 2021



RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart



ISBN 978-3-15-961952-1



ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014211-0





www.reclam.de






Inhalt







FEBRUAR 1905. Die Vorarbeiten ...






Was ist der Mensch?

I

a. Der Mensch, eine Maschineb. Persönliches Verdienst

II

Der einzige Antrieb des Menschen: das Streben nach der eigenen BilligungEine kleine Geschichte

III Einschlägige Beispiele

Weitere Beispiele




Schulung

IV

SchulungErmahnungEine Parabel

V

Mehr über die MaschineNoch einmal die menschliche MaschineDer Denkprozess




Instinkt und Denken

VI

Instinkt und DenkenFreier WilleNicht zwei Werte, sondern nur einerEine schwierige FrageDie vorherrschende LeidenschaftSchlussbetrachtung





Zu dieser Ausgabe









FEBRUAR 1905. Die Vorarbeiten zu dieser Abhandlung wurden vor fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren begonnen. Die Abhandlung selbst wurde vor sieben Jahren verfasst. Seitdem habe ich sie ein- oder zweimal im Jahr geprüft und für überzeugend befunden. Eben erst habe ich sie abermals geprüft und bin nach wie vor davon überzeugt, dass sie die Wahrheit sagt.



Jeder Gedanke, den sie enthält, ist von Millionen und Abermillionen Menschen gedacht (und als unanfechtbare Wahrheit akzeptiert) worden – und er ist verheimlicht, verschwiegen worden. Weshalb haben sie nicht freiheraus gesprochen? Weil sie die Missbilligung der Leute um sich her fürchteten (

und nicht ertragen konnten

). Weshalb habe ich sie nicht veröffentlicht? Ich glaube, derselbe Grund hat auch mich davon abgehalten. Einen anderen kann ich nicht finden.





Was ist der Mensch?





I



a. Der Mensch, eine Maschine b. Persönliches Verdienst











ALTER MANN. Aus welchen Materialien wird eine Dampfmaschine gebaut?



JUNGER MANN. Aus Eisen, Stahl, Messing, Weißmetall und so fort.



A. M. Wo finden sich diese?



J. M. In Gestein.



A. M. In reinem Zustand?



J. M. Nein – in Erzen.



A. M. Werden die Metalle über Nacht in den Erzen abgelagert?



J. M. Nein – es ist die geduldige Arbeit ungezählter Zeitalter.



A. M. Könnte man die Maschine auch aus dem Gestein selbst fertigen?



J. M. Ja, aber nur eine zerbrechliche, keine sehr wertvolle.



A. M. Von einer solchen Maschine würde man nicht viel erwarten?



J. M. Nein – im Grunde genommen nichts.



A. M. Wie würde man vorgehen, um eine funktionstüchtige und leistungsfähige Maschine herzustellen?



J. M. Man würde Tunnel und Schächte in die Berge treiben; das Eisenerz heraussprengen; es zerkleinern, verhütten, zu Roheisen reduzieren; einen Teil davon dem Bessemerverfahren unterziehen und daraus Stahl erzeugen. Die unterschiedlichen Metalle, aus denen Messing hergestellt wird, würde man abbauen, weiterverarbeiten und legieren.



A. M. Und dann?



J. M. Aus dem Endresultat würde man die funktionstüchtige Maschine bauen.



A. M. Von der würden Sie viel erwarten?



J. M. O ja.



A. M. Sie könnte Drehbänke, Bohrer, Hobel, Schlagstempel und Schleifscheiben antreiben, kurzum, alle ausgeklügelten Geräte einer großen Fabrik?



J. M. So ist es.



A. M. Was könnte die Maschine aus Stein leisten?



J. M. Möglicherweise eine Nähmaschine antreiben – sonst vermutlich nichts.



A. M. Die andere Maschine würden die Menschen bewundern und begeistert loben?



J. M. Ja.



A. M. Aber nicht die aus Stein?



J. M. Nein.



A. M. Die Verdienste der Maschine aus Metall lägen weit über denen derjenigen aus Stein?



J. M. Selbstverständlich.



A. M. Die persönlichen Verdienste?



J. M. Die

 persönlichen

 Verdienste? Wie meinen Sie das?



A. M. Sie hätte einen persönlichen Anspruch auf Anerkennung ihrer Leistung?



J. M. Die Maschine? Natürlich nicht.



A. M. Warum nicht?



J. M. Weil ihre Leistung nicht persönlicher Natur ist. Sie ist Resultat des Gesetzes ihrer Konstruktion. Es ist kein

Verdienst

, dass sie die Dinge leistet, für die sie vorgesehen ist – sie

kann

 nicht anders.



A. M. Und es ist nicht das persönliche Unverdienst der Maschine aus Stein, dass sie so wenig leistet?



J. M. Natürlich nicht. Sie leistet nicht mehr und nicht weniger, als was das Gesetz ihrer Machart ihr erlaubt und ihr abverlangt. Daran ist nichts

Persönliches

; sie kann nicht wählen. Wollen Sie, wenn Sie sich so ›zu der Sache hinarbeiten‹, etwa auf die Behauptung hinaus, dass Mensch und Maschine annähernd dasselbe sind und dass in der Leistung keines von beiden ein persönliches Verdienst liegt?



A. M. Ja – aber seien Sie nicht gekränkt; ich will Sie nicht kränken. Worin besteht der große Unterschied zwischen der Maschine aus Stein und der Maschine aus Stahl? Sollen wir es Ausbildung nennen, oder Bildung? Sollen wir die Maschine aus Stein einen Wilden nennen und die aus Stahl einen zivilisierten Menschen? Das ursprüngliche Gestein enthielt das Material, aus dem die Maschine aus Stahl gebaut wurde – allerdings zusammen mit einer Menge Schwefel, Geröll und anderen hinderlichen angeborenen Erbanlagen, die vergangenen geologischen Zeitaltern entstammen – nennen wir sie Voreingenommenheiten. Voreingenommenheiten, die zu beseitigen nichts im Gestein selbst die

Macht

 oder den

Wunsch

 hatte. Wollen Sie diesen Satz zur Kenntnis nehmen?



J. M. Ja. Ich habe ihn aufgeschrieben: »Voreingenommenheiten, die zu beseitigen nichts im Gestein selbst die Macht oder den Wunsch hatte.« Fahren Sie fort.



A. M. Voreingenommenheiten, die durch

äußere Einflüsse

 beseitigt werden müssen oder gar nicht. Notieren Sie das.



J. M. Wie Sie wünschen. »Die durch äußere Einflüsse beseitigt werden müssen oder gar nicht.« Fahren Sie fort.



A. M. Die Voreingenommenheit des Eisens gegen die Befreiung vom hemmenden Gestein. Genauer gesagt, die absolute

Gleichgültigkeit

 des Eisens in Bezug darauf, ob das Gestein beseitigt wird oder nicht. Dann tritt ein

äußerer Einfluss

 hinzu, zermahlt das Gestein zu Pulver und setzt das Erz frei. Das

Eisen

 ist noch immer im Erz gefangen. Ein

äußerer Einfluss

 schmilzt es aus dem hinderlichen Erz heraus. Jetzt ist das Eisen befreites Eisen, weiteren Fortschritten gegenüber jedoch gleichgültig. Ein

äußerer Einfluss

 lockt es in den Bessemerofen und veredelt es zu Stahl von bester Qualität. Jetzt erst ist es gebildet – seine Ausbildung ist abgeschlossen. Und es ist an seine Grenzen gestoßen. Durch kein denkbares Verfahren kann es zu

Gold

 gebildet werden. Wollen Sie das festhalten?



J. M. Ja. »Alles hat seine Grenzen – Eisenerz kann nicht zu Gold gebildet werden.«



A. M. Es gibt goldene Menschen und zinnerne Menschen und kupferne Menschen und bleierne Menschen und stählerne Menschen und so fort – und jeder von ihnen erfährt die Begrenztheit seiner Natur, seiner Erbanlagen, seiner Erziehung und seiner Umgebung. Aus jedem dieser Metalle kann man Maschinen bauen, und sie alle werden funktionieren, aber von den Schwachen darf man nicht erwarten, dass sie die gleiche Arbeit leisten wie die Starken. Um die besten Resultate zu erzielen, muss man das Metall in jedem Fall von seinen hinderlichen, schädlichen Erzen befreien – durch Bildung, durch Schmelzen, Veredeln und so fort.



J. M. Jetzt sind Sie beim Menschen angelangt?



A. M. Ja. Der Mensch, eine Maschine – der Mensch, eine unpersönliche Maschine. Was immer ein Mensch ist, verdankt sich seiner

Machart

 und den

Einflüssen

, die dank seiner Erbanlagen, seinem Lebensraum und seinen Verbindungen auf sie einwirken. Er wird

ausschließlich

 von

äußeren

 Einflüssen bewegt, gelenkt, BEFEHLIGT. Nichts

bringt

 er selbst

hervor

, nicht einmal einen Gedanken.



J. M. Ach, kommen Sie! Woher beziehe ich dann meine Meinung, dass das, was Sie da reden, die reinste Torheit ist?



A. M. Es ist eine ganz natürliche Meinung – in der Tat eine unvermeidliche Meinung –, aber

Sie

 haben die Materialien, aus denen sie geformt ist, nicht geschaffen. Diese sind ein Sammelsurium an Gedanken, Eindrücken und Gefühlen, die unbewusst aus tausend Büchern, aus tausend Gesprächen und aus Strömen von Gedanken und Gefühlen übernommen wurden, welche über die Jahrhunderte aus den Herzen und Hirnen von Vorfahren in Ihr Herz und Ihr Hirn geflossen sind.

Persönlich

 haben Sie nicht einmal das mikroskopisch kleinste Bruchstück der Materialien geschaffen, aus denen Ihre Meinung besteht; und persönlich können Sie nicht einmal das dürftige Verdienst für sich in Anspruch nehmen,

die geborgten Materialien zusammengefügt zu haben

. Das geschah

automatisch

 – mittels Ihrer geistigen Maschinerie, in strikter Übereinstimmung mit dem Konstruktionsgesetz dieser Maschinerie. Und nicht nur haben Sie diese Maschinerie nicht selbst geschaffen, Sie haben

nicht einmal irgendeine Gewalt über sie

.

 



J. M. Das ist zu arg. Sie glauben, ich hätte mir keine andere Meinung als diese eine bilden können?



A. M. Spontan? Nein. Und

auch diese eine haben nicht Sie sich gebildet

; Ihre Maschinerie hat es für Sie getan – automatisch und augenblicklich, ohne jedes Nachdenken oder auch nur die Notwendigkeit dazu.



J. M. Angenommen, ich hätte nachgedacht? Was dann?



A. M. Angenommen, Sie versuchen es?



J. M.

(nach einer Viertelstunde)

 Ich habe nachgedacht.



A. M. Sie meinen, Sie haben versucht, Ihre Meinung zu ändern – in einer Art Experiment?



J. M. Ja.



A. M. Mit Erfolg?



J. M. Nein. Sie bleibt dieselbe; es ist unmöglich, sie zu ändern.



A. M. Es tut mir leid, aber Sie sehen selbst, dass Ihr Verstand nur eine Maschine ist, nichts weiter. Sie haben keine Gewalt über sie, sie hat keine Gewalt über sich selbst – sie wird

ausschließlich von außen

 betrieben. Das ist das Gesetz ihrer Machart; es ist das Gesetz aller Maschinen.



J. M. Kann ich denn keine dieser automatischen Meinungen

jemals

 ändern?



A. M. Nein. Sie selbst nicht,

äußere Einflüsse

 dagegen schon.



J. M. Und

nur

 äußere?



A. M. Ja – nur äußere.



J. M. Diese Position ist unhaltbar – ich könnte sagen, lächerlich unhaltbar.



A. M. Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?



J. M. Es ist keine bloße Annahme, ich weiß es. Gesetzt den Fall, ich beschließe, einem Gedanken, einem Studium, einer Lektüre nachzugehen in der bewussten Absicht, diese meine Meinung zu ändern; und gesetzt den Fall, es gelingt mir.

Das

 ist nicht das Werk eines äußeren Anstoßes, das Ganze ist mir persönlich anzurechnen; denn der Urheber des Projekts bin ich.



A. M. Nicht ein Fitzel davon.

Hervorgegangen ist es aus dem Gespräch mit mir

. Ohne dieses Gespräch wären Sie nie darauf verfallen. Kein Mensch hat jemals irgendetwas hervorgebracht. Alle seine Gedanken, alle seine Anstöße kommen

von außen

.



J. M. Dieses Thema ist zum Verzweifeln. Der

erste

 Mensch jedenfalls hatte originelle Gedanken; es gab ja niemanden, von dem er sie hätte beziehen können.



A. M. Das ist ein Irrtum. Adams Gedanken kamen

von außen

.

Sie

 haben Angst vor dem Tod. Die haben Sie nicht erfunden – Sie haben sie von außen bekommen, durch Gespräche und Unterweisung. Adam hatte keine Angst vor dem Tod – nicht die geringste.



J. M. Doch.



A. M. Als er erschaffen wurde?



J. M. Nein.



A. M. Wann dann?



J. M. Als ihm mit dem Tod gedroht wurde.



A. M. Also kam sie

von außen

. Adam ist auch so schon bedeutend genug; versuchen wir nicht, einen Gott aus ihm zu machen.

Nur Götter haben jemals einen Gedanken gehabt, der nicht von außen kam

. Wahrscheinlich hatte Adam einen klugen Kopf, aber der nützte ihm ganz und gar nichts, bis er

von außen

 gefüllt wurde. Adam war außerstande, mit ihm auch nur die kleinste Kleinigkeit zu erfinden. Er hatte nicht die leiseste Ahnung von dem Unterschied zwischen Gut und Böse – er musste die Idee

von außen

 bekommen. Weder er noch Eva kamen von selbst auf die Idee, dass es unschamhaft sei, nackt zu sein; diese Erkenntnis kam mit dem Apfel,

von außen

. Das Gehirn eines Menschen ist so konstruiert, dass

es nichts von selbst hervorbringen kann

. Es kann nur Material verwenden, das

außerhalb

 seiner selbst gewonnen wurde. Es ist lediglich eine Maschine; und es funktioniert automatisch, nicht durch Willenskraft.

Es hat keine Gewalt über sich, sein Besitzer hat keine Gewalt über es

.



J. M. Nun, lassen wir Adam beiseite; aber Shakespeares Schöpfungen sind doch bestimmt –



A. M. Nein, Sie meinen Shakespeares

Nachahmungen

. Shakespeare hat nichts erschaffen. Er hat richtig beobachtet, und er hat wunderbar gemalt. Menschen, die

Gott

 erschaffen hatte, porträtierte er genau; doch keinen von diesen erschuf er selbst. Ersparen wir ihm die Kränkung, ihn des Versuchs zu zeihen. Shakespeare konnte nichts erschaffen.

Er war eine Maschine, und Maschinen erschaffen nichts

.



J. M. Worin lag dann seine Vortrefflichkeit?



A. M. Im Folgenden. Er war keine Nähmaschine wie Sie und ich; er war ein Gobelin-Webstuhl. Die Fäden und die Farben kamen

von außen

 in ihn hinein; äußere Einflüsse, Anregungen,

Erfahrungen

 (lesen, Stücke sehen, Stücke spielen, Ideen borgen und so fort) bildeten Muster in seinem Verstand und setzten dessen bewundernswert komplexe Maschinerie in Gang, und

diese

 produzierte

automatisch

 jene prächtigen Bildteppiche, die noch immer das Staunen der Welt erregen. Wäre Shakespeare auf einem kargen, menschenleeren Felsen im Ozean geboren und aufgewachsen, so hätte sein gewaltiger Intellekt kein

Material von außen

 zur Verfügung gehabt, mit dem er hätte arbeiten können, und er hätte auch keines ersinnen können; er hätte keine

äußeren Einflüsse

, Lehren, Modelle, Überzeugungen, Inspirationen wertvoller Art zur Verfügung gehabt und auch keine ersinnen können; und so hätte Shakespeare nichts hervorgebracht. In der Türkei hätte er etwas hervorgebracht – im Rahmen türkischer Einflüsse, Verbindungen und Schulungen. In Frankreich hätte er etwas Besseres hervorgebracht – im Rahmen französischer Einflüsse und Schulungen. In England stieg er auf – bis an die äußerste Grenze dessen, was sich durch

 Hilfe von außen

 erreichen ließ, eine Hilfe, die

 die Ideale, Einflüsse und Schulungen dieses Landes leisteten

. Sie und ich, wir sind nichts als Nähmaschinen. Wir müssen produzieren, was wir können; wir müssen unser Bestes geben und dürfen uns nicht darum scheren, wenn uns gedankenlose Menschen vorwerfen, dass wir keine Gobelins produzieren.



J. M. Und so sind wir denn bloße Maschinen? Und Maschinen dürfen sich ihrer Leistung weder rühmen noch stolz auf sie sein, dürfen weder persönliches Verdienst noch Lob und Beifall für sich beanspruchen? Das ist eine infame Doktrin.



A. M. Es ist keine Doktrin, es ist lediglich eine Tatsache.



J. M. Ich nehme an, dann liegt auch kein größeres Verdienst darin, mutig zu sein, als darin, ein Feigling zu sein?



A. M.

Persönliches

 Verdienst? Nein. Ein mutiger Mensch

erschafft

 seinen Mut nicht selbst. Er hat kein Recht auf persönliche Anerkennung, nur weil er ihn besitzt. Sein Mut ist ihm angeboren. Ein Kind, das mit einer Milliarde Dollar zur Welt kommt – worin liegt sein persönliches Verdienst? Ein Kind, das mit nichts zur Welt kommt – worin liegt sein persönliches Unverdienst? Dem einen wird von Speichelleckern geschmeichelt, es wird bewundert und vergöttert, das andere wird vernachlässigt und verachtet – wo ist da der Sinn?



J. M. Manchmal stellt sich ein furchtsamer Mann die Aufgabe, seine Feigheit zu überwinden und mutig zu werden – und hat Erfolg. Was sagen Sie dazu?



A. M. Es zeigt den Wert

einer Schulung in die richtige Richtung gegenüber einer Schulung in die falsche Richtung

. Unschätzbar wertvoll sind Schulung, Beeinflussung, Erziehung in die richtige Richtung –

die Schulung der eigenen Selbstbilligung, um höherer Ideale willen.



J. M. Aber was nun das Verdienst betrifft – das persönliche Verdienst des siegreichen Feiglings an seinem Vorhaben und an seinem Erfolg?



A. M. Es gibt keines. In den Augen der Welt ist er ein würdigerer Mann als zuvor, aber nicht

er

 hat die Veränderung herbeigeführt – das Verdienst daran gebührt ihm nicht.



J. M. Wem dann?



A. M. Seiner

Machart

 und den Einflüssen, die von außen auf ihn einwirkten.



J. M. Seiner Machart?



A. M. Ja. Zunächst einmal war er kein völliger und vollkommener Feigling, sonst hätten die Einflüsse nichts gehabt, worauf sie hätten einwirken können. Er hatte keine Angst vor einer Kuh, wiewohl vielleicht vor einem Stier; keine Angst vor einer Frau, aber vor einem anderen Mann. Es gab also etwas, worauf sich aufbauen ließ. Es gab ein

Samenkorn

. Ohne Samenkorn keine Pflanze. Hat er dieses Samenkorn selbst hervorgebracht, oder war es ihm angeboren? Es war nicht

sein

 Verdienst, dass das Samenkorn bereits vorhanden war.



J. M. Immerhin war der Einfall, es zu

kultivieren

, der Vorsatz, es zu kultivieren, verdienstvoll, und den hat er hervorgebracht.



A. M. Er hat nichts dergleichen getan. Der Vorsatz kam von dort, woher

alle

 Impulse, gute wie schlechte, kommen –

von außen

. Hätte dieser furchtsame Mann sein ganzes Leben in einer Gemeinschaft menschlicher Kaninchen verbracht; hätte er nie von mutigen Taten gelesen; hätte er nie von ihnen gehört; hätte er niemanden sie jemals loben oder Neid auf die Helden ausdrücken hören, die sie vollbracht hatten, so hätte er keine genauere Vorstellung von Mut gehabt als Adam von Schamhaftigkeit, und es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, den

Vorsatz

 zu fassen, mutig zu sein. Er

konnte die Idee nicht hervorbringen

 – sie musste

von außen

 kommen. Und als er hörte, wie Mut gerühmt und Feigheit verhöhnt wurde, wurde er wachgerüttelt. Er war beschämt. Vielleicht rümpfte seine Liebste die Nase und sagte: »Ich höre, dass du ein Feigling bist!« Nicht

er

 schlug ein neues Kapitel auf – sie tat es für ihn.

Er

 darf sich in seinem Verdienst nicht sonnen – es steht ihm nicht zu.



J. M. Immerhin züchtete er die Pflanze heran, nachdem sie das Samenkorn gewässert hatte.



A. M. Nein.

Äußere Einflüsse

 züchteten sie heran. Auf ein Kommando hin marschierte er – und zwar zitternd – ins Feld, gemeinsam mit anderen Soldaten und bei Tag, nicht allein und im Dunkeln. Er spürte den

Einfluss des guten Beispiels

, Mut schöpfte er aus dem Mut seiner Kameraden; er hatte Angst und wollte wegrennen, aber er wagte es nicht; er hatte

Angst

 wegzurennen, da doch all diese Soldaten zuschauten. Er machte Fortschritte, verstehen Sie – die moralische Angst vor Scham hatte die körperliche Angst vor Schaden überwunden. Am Ende des Feldzugs wird ihn die Erfahrung gelehrt haben, dass nicht

alle

, die in die Schlacht ziehen, verwundet werden – ein äußerer Einfluss, der ihm nützlich sein wird; und er wird gelernt haben, wie süß es ist, ob seines Mutes gelobt und mit tränenerstickten Stimmen bejubelt zu werden, wenn das abgekämpfte Regiment mit wehenden Fahnen und wirbelnden Trommeln an der ehrfürchtigen Menge vorbeidefiliert. Danach wird er so verlässlich mutig sein wie nur irgendein Armeeveteran – und nirgendwo wird auch nur ein Hauch oder eine Andeutung von

persönlichem Verdienst

 darin liegen; alles wird

von außen

 gekommen sein. Das Victoria-Kreuz züchtet mehr Helden –



J. M. Zum Teufel, worin liegt der Sinn, mutig zu werden, wenn es nicht ihm als Verdienst angerechnet wird?



A. M. Ihre Frage wird sich gleich von selbst beantworten. Sie betrifft ein wichtiges Detail der Machart des Menschen, das wir noch nicht angesprochen haben.



J. M. Welches Detail ist das?



A. M. Der Antrieb, der einen Menschen dazu bewegt, Dinge zu tun – der einzige Antrieb, der einen Menschen jemals dazu bewegt, etwas zu tun.



J. M. Der

einzige

? Gibt es denn nur den einen?



A. M. Das ist alles. Es gibt nur den einen.



J. M. Nun, das ist freilich eine sonderbare Doktrin. Was ist der einzige Antrieb, der einen Menschen jemals dazu bewegt, etwas zu tun?



A. M. Der Antrieb,

den eigenen Geist zufriedenzustellen

 – die

Notwendigkeit

, den eigenen Geist zufriedenzustellen und

seine Billigung zu erlangen

.



J. M. Ach, hören Sie doch auf, das reicht nicht!



A. M. Warum reicht das nicht?

 



J. M. Weil es ihm die Haltung aufnötigt, stets nach dem eigenen Behagen und nach dem eigenen Vorteil Ausschau zu halten; wohingegen ein uneigennütziger Mensch oft Dinge ausschließlich zum Wohle eines anderen Menschen tut, sogar wenn sie ihm selbst eindeutig zum Nachteil gereichen.



A. M. Das ist ein Irrtum. Die Tat muss ZUALLERERST

ihm selbst

 guttun; andernfalls wird er sie nicht vollbringen. Zwar mag er

glauben

, dass er sie ausschließlich um des anderen willen vollbringt, doch dem ist nicht so;

zuallererst

 stellt er seinen eigenen Geist zufrieden – der Nutzen für den anderen kommt immer an

zweiter

 Stelle.



J. M. Was für eine phantastische Idee! Was wird aus der Selbstaufopferung? Bitte beantwo

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