Gehirn. 100 Seiten

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Gehirn. 100 Seiten
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Markus Reiter

Gehirn. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

2., durchgesehene und aktualisierte Auflage

2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: Infographics Group GmbH

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961376-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020524-2

www.reclam.de

Inhalt

  Ein Klumpen aus Fett, Wasser und Eiweiß

  Wie das Gehirn funktioniert

  Wie Gehirnzellen miteinander kommunizieren

  Wie das Gedächtnis sich erinnert

  Wie das Gehirn lernt

  Wie das Gehirn denkt und fühlt

  Wie das Gehirn sich täuscht

  Wie das Gehirn Sprache verarbeitet

  Was im Gehirn schieflaufen kann

  Wie das Gehirn fit bleibt

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zum Autor

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Langeweile. 100 Seiten


Ein Klumpen aus Fett, Wasser und Eiweiß

Dieses Buch wird Ihrem Gehirn guttun. Wenn Sie ein Buch über das Joggen lesen, können Sie deshalb noch keinen Marathon bewältigen. Wenn Sie ein Kochbuch lesen, werden Sie davon nicht satt. Aber mit der Lektüre des vor Ihnen liegenden Buches über das Gehirn tun Sie etwas Gutes für Ihr Gehirn: Ihre Gehirnzellen vernetzen sich neu – und dabei werden Sie schlauer.

Die Zauberformel für ein fittes Gehirn, die ich an anderer Stelle ausführlicher erläutern werde, lautet: Laufen. Lieben. Lernen. Auf den folgenden Seiten werde ich Ihnen beim Lernen helfen. Sie erfahren zum Beispiel, warum der etwa eineinhalb Kilogramm schwere Klumpen aus Fett, Wasser und Eiweiß in unserem Schädel für rund ein Fünftel unseres Energiebedarfes verantwortlich ist. Dabei macht er nur rund zwei Prozent des Körpergewichts aus (oder deutlich weniger, je nach Körpergewicht: Während man sich jederzeit dick futtern kann, wächst das Gehirn im Erwachsenenalter nicht mehr). Sie werden Botenstoffe kennenlernen, die den winzigen Spalt zwischen den Enden der Nervenzellen überbrücken. Gibt es an bestimmten Stellen zu viel oder zu wenig dieser Botenstoffe, in der Fachsprache als Neurotransmitter bezeichnet, gerät unsere gesamte Persönlichkeit aus der Bahn. Depression und Sucht, Hass und Liebe sind Folgen eines veränderten Neurotransmitter-Haushaltes. Sie werden erfahren, wie Denken funktioniert, was beim Lernen geschieht und wie wichtig der Schlaf dabei ist.

Sie werden einige faszinierende Menschen kennenlernen: einen amerikanischen Patienten, der Sie zwei Minuten, nachdem Sie mit ihm geplaudert haben, völlig vergessen hätte – und einen russischen Journalisten, der sich noch nach vierzig Jahren an jedes Ihrer Worte erinnern würde; einen Eisenbahnvorarbeiter, der ein netter Typ war, bis ihm eine Eisenstange das Vorderhirn zerstörte; zwei Hirnforscher, die sich einen Nobelpreis teilen mussten, obwohl sie sich gegenseitig für Ignoranten hielten; zwei nach Forschern aus dem 19. Jahrhundert benannte Hirnareale, die für unsere Sprache unabdingbar sind und die moderne Hirnforschung begründen. Und vor allem werden Sie sich selbst kennenlernen. Am Ende dieses Buches werden Sie (hoffentlich) weder Ihrer Erinnerung noch Ihrer Wahrnehmung so trauen wie zuvor.

Mit einem Mythos räumen wir am besten gleich zu Anfang auf: Sie nutzen selbstverständlich nicht nur zehn Prozent Ihrer Gehirnkapazität. Auch dann nicht, wenn Sie sich nicht auf dieses Buch konzentrieren, sondern sich vor dem Fernseher von Verkaufssendungen berieseln lassen. Dies würde sonst einem fundamentalen Gesetz der Evolution widersprechen. Wenn wir mit nur zehn Prozent unserer Gehirnleistung durchs Leben kämen, könnte der Mensch eine Menge Energie einsparen (und im Übrigen – wie viele andere Säuger – mit einem kleineren Kopf auskommen, der leichter durch den Geburtskanal flutschte). Da Energie in Form von Glukose aufwendig bereitzustellen ist, hätte die Evolution längst für Schrumpfgehirne gesorgt.

Inzwischen ist das Wissen um den Unsinn dieser Behauptung allerdings fast ebenso sehr verbreitet wie der Mythos selbst. Deshalb erscheint eine Einschränkung angebracht. Beim Gehirn gilt das Motto »Use it or lose it« – »Nutze es, oder es verschwindet«, oder, wie man im Deutschen sagt: »Wer rastet, der rostet.« Wer in einer geistig anspruchsvollen Umgebung aufwächst, wird unabhängig von seinen genetischen Voraussetzungen intelligenter. Wer sich im Alter mit komplexen Fragen beschäftigt, bewahrt seine kognitive Leistungsfähigkeit länger (dazu später mehr). Dass das Gehirn stets zu 100 Prozent ausgelastet ist, heißt also nicht, dass wir ihm nicht mehr abverlangen könnten, als wir es gelegentlich tun. Mit anderen Worten: Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Ihr Gehirn irgendwann mal voll ist – manchmal braucht es höchstens ein bisschen Schlaf, damit es wieder aufnahmebereit wird.

Alle reden vom Gehirn

Mit dem Gehirn habe ich mich zum ersten Mal näher beschäftigt, als ich begann, als Schreibtrainer zu arbeiten. Mein Beruf ist es bis heute, Menschen in Seminaren beizubringen, sich klar und verständlich auszudrücken. Irgendwann fragte ich mich: Was geschieht eigentlich in unserem Kopf, wenn wir sprechen, reden und lesen? Wie verarbeitet das Gehirn Sprache? Wir werden uns mit diesen Fragen im achten Kapitel beschäftigen. Ich las hunderte Bücher, Fachartikel und andere Veröffentlichungen und schrieb später selbst Artikel und Bücher über das Thema. Ich absolvierte eine Ausbildung zum »Master of Cognitive Neuroscience (aon)«.

Je mehr ich mich jedoch mit den Neurowissenschaften beschäftigte, desto größer wurde meine Demut. Unser Wissen über das Gehirn ist in den letzten hundert Jahren zweifellos enorm gewachsen. Das gilt besonders, seit Computerbilder aus der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) die Illusion vermitteln, wir könnten dem Gehirn bei der Arbeit zusehen (ein Missverständnis – wie im Infokasten erläutert wird). In Wirklichkeit aber wissen wir über das Gehirn verdammt wenig. Selbst die Kartographie der Gehirnareale aus dem fMRT ist dürftig. Sie können sich die Situation vorstellen wie bei den Weltkarten des Mittelalters. Die Gegend um das Mittelmeer war darauf ziemlich getreu abgebildet. Der Mittelpunkt der Erde aber ist in Jerusalem lokalisiert, weil dies das vorherrschende Wertesystem (die Religion) so gebot. Jenseits dieser Regionen liegt »Terra incognita«, das große Unbekannte. Ganz im Osten verorten die Karten das legendäre Reich des Priesterkönigs Johannes, wo Zyklopen und hundsköpfige Menschen leben. Es spricht vieles dafür, dass zukünftige Generationen unser heutiges Wissen über das Gehirn so verwunderlich finden werden wie wir die Landkarten aus dem Mittelalter.

Die Hirnforschung gilt als die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts. Noch bevor das neue Jahrhundert angebrochen war, hatte der amerikanische Präsident George Bush senior 1990 eine »Dekade des Gehirns« ausgerufen. Deutschland erklärte das darauffolgende Jahrzehnt bis 2010 zur »Dekade des menschlichen Gehirns«. Die Europäische Union finanziert gegenwärtig mit fast 1,2 Milliarden Euro das »Human Brain Project«, in dem Wissenschaftler aus weit über einhundert Forschungseinrichtungen versuchen, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns im Computer zu simulieren. Inzwischen reden alle vom Gehirn – von Neurodidaktik bis Neuroökonomie versuchen Wissenschaftler, Experten und manchmal auch nur Geschäftemacher, alles mit Gehirnprozessen zu erklären. Oft illustriert mit bunten Bildern aus dem fMRT.

Wo so viel öffentliche Aufmerksamkeit herrscht, bleibt die Kritik nicht aus. Inzwischen ist gelegentlich von einem Neurowahn die Rede. Philosophen bemühen sich, ihre Deutungshoheit über den Geist zurückzugewinnen. Der Bonner Philosophie-Professor Markus Gabriel (* 1980) zum Beispiel gab seiner Streitschrift gegen einen von ihm diagnostizierten »Neurozentrismus« den Titel Ich ist nicht Gehirn.

 

Die Kritik ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Sie trifft vor allem jene (wenigen) Hirnforscher, die aus dürftigen empirischen Ergebnissen und schwachen statistischen Zusammenhängen alleserklärende Theorien zimmern. Oft werden dabei die Aktivierungsmuster, die durch die fMRT sichtbar gemacht werden, überinterpretiert. Nur weil dieses oder jenes Areal während einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte Aktivität zeigt (die zudem noch indirekt gemessen wird), verstehen wir noch lange nicht die neuronale Wirklichkeit. Die bildgebenden Verfahren unterliegen technischen Einschränkungen. Nur selten und mit großem Aufwand können Forscher bislang die Aktivität einzelner Zellen messen. Deshalb bleiben wichtige Zusammenhänge (vorerst) verborgen. Es besteht demnach kein Anlass zur Neuroüberheblichkeit. Trotzdem lassen sich die Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht einfach mit einem Verweis auf Kant, Hegel und Descartes vom Tisch wischen. Denn unser Ich manifestiert sich in der Tat in unserem Gehirn.

Leib und Seele

Um zu verstehen, um was es in der Diskussion geht, müssen wir einen kleinen Ausflug in die Philosophie machen. Genauer gesagt: Wir müssen uns dem Leib-Seele-Problem zuwenden. Die Überzeugung, dass es neben dem Körper eine Seele gibt, teilten vermutlich schon frühe Kulturen. Vorstellungen von den Geistern der Ahnen, die unter uns leben, existieren noch heute in vielen Teilen der Welt. In der das Abendland prägenden griechischen Philosophie standen sich Dualisten wie Platon (428/427–348/347 v. Chr.) und Monisten wie Epikur (um 341 – 271/270 v. Chr.) und Demokrit (460/459 – um 371 v. Chr.) gegenüber. Die Monisten vermuteten, dass die Seele materieller Natur sei. Platon hingegen, dessen Denken das Christentum und die mittelalterliche Philosophie stark beeinflusste, unterschied eine unsterbliche Seele von einem sterblichen Körper.

Zu Beginn der Neuzeit befasste sich besonders der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) mit dem Problem. Der cartesianische Dualismus behauptet, es gebe zwei grundsätzlich verschiedene Substanztypen: den stoffgebundenen Körper und den immateriellen Geist, der allein fürs Denken zuständig sei. Verbunden seien beide durch die Zirbeldrüse (Descartes suchte sich dieses unscheinbare Anhängsel aus, weil es im Gegensatz zu den anderen, jeweils doppelt vorhandenen Strukturen in unserem Gehirn nur eine Zirbeldrüse gibt). Für ihn war klar, dass Denken nur immateriell erfolgen könne.

An dieser Stelle nun kommt die Hirnforschung ins Spiel. Für Neurowissenschaftler gibt es keinen Leib-Seele-Dualismus. Denken ist für sie, ebenso wie Gefühle, nichts anderes als die Aktivität von Neuronen. Zugegeben: Das ist eine ziemlich unromantische Vorstellung. Die ganze Philosophie von Platon und Descartes, von Kant und Hannah Arendt (1906–1975) – nichts anderes als synaptische Verknüpfungen, das gemeinsame Feuern von Gehirnzellen? Die Liebe – nur das Ergebnis eines Neurotransmitter-Cocktails aus Dopamin, Oxytocin, Vasopressin und endogenen Opioiden? Das ist für viele noch heute starker Tobak – und ein Grund für die Skepsis vieler Philosophen gegenüber den Neurowissenschaften.

Andererseits hat sich zwischen Hirnforschung und Philosophie längst ein produktiver Dialog entwickelt. Philosophen wie der Amerikaner Daniel Dennett (* 1942) und der Mainzer Professor Thomas Metzinger (* 1958) sowie Gehirnforscher wie Gerhardt Roth (* 1942) von der Uni Bremen und der Medizinnobelpreisträger Eric Kandel (* 1929) versuchen, eine neurowissenschaftlich fundierte Philosophie des Geistes zu entwickeln. Deren Motto lässt sich sehr knapp zusammenfassen in dem Satz: »Für unser Denken und Fühlen ist alles Gehirn, aber das Gehirn ist nicht alles.«

Und damit wenden wir uns im folgenden Kapitel den harten naturwissenschaftlichen Fakten über Neuronen, Synapsen und Neurotransmitter zu.

Einblick ins Gehirn

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Neurologen darauf angewiesen, dass der Besitzer eines Gehirns verstirbt und es den Wissenschaftlern überlässt. Von dieser Idee war nicht jeder begeistert. Deshalb gehörten viele untersuchte Gehirne armen Leuten und Verbrechern, die es sich nicht hatten leisten können zu widersprechen. Zudem wurde es wissenschaftlich erst richtig spannend, wenn die Verstorbenen unter neurologischen Störungen und Krankheiten gelitten hatten, was den Kreis der Untersuchungsobjekte weiter einschränkte.

Später wurden wichtige Erkenntnisse während Gehirnoperationen gewonnen, zum Beispiel wenn Neurochirurgen einen Tumor oder ein Epilepsiezentrum entfernen mussten. Da das Gehirn über keine Schmerzrezeptoren verfügt, können die Patienten während der Operation bei Bewusstsein bleiben. Bei geöffnetem Schädel stimulierten die Ärzte einzelne Neuronen. Obwohl es sich nicht gerade verlockend anhört, handelt es sich dabei um einen glücklichen Umstand. Der Chirurg kann so verhindern, dass er versehentlich gesunde Teile zum Beispiel des Sprachzentrums wegschneidet. Nebenbei fallen oft ein paar wissenschaftliche Erkenntnisse ab.

Inzwischen gibt es aber eine Reihe bewährter Methoden, Einblicke ins Gehirn von ganz normalen Freiwilligen zu bekommen. Hier die drei wichtigsten:

Elektroenzephalogramm (EEG): Eine der ersten Aufzeichnungen der Gehirnströme verdanken wir dem 15-jährigen Sohn des deutschen Neurologen Hans Berger (1873–1941). Der geduldige junge Mann stellte sich seinem Vater 1927 als Versuchsperson für die Gehirnstrommessung zur Verfügung. Dazu muss man wissen, dass Gehirnzellen aktiv werden, indem sie ihren elektrischen Ladungszustand ändern. Man spricht, wie im dritten Kapitel erläutert wird, von Aktionspotentialen. Mit anderen Worten: Es fließt Strom. Diesen Strom kann man mit hochempfindlichen Geräten auf der Kopfhaut messen und als Wellen darstellen. Es gibt verschiedene Gehirnwellen, die der Feuergeschwindigkeit der Neuronen in verschiedenen Geisteszuständen entsprechen. Das EEG misst die Gehirnaktivität bis auf den Tausendstel Teil einer Sekunde genau. Übrigens gibt es in vielen Technischen Museen Geräte, mit denen man zum Beispiel mit Hilfe seiner Gehirnströme Flipper spielen kann: Sie beruhen auf der EEG-Technik.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT): Die meisten Menschen kennen die Bilder, die aussehen wie ein Schnitt durchs Gehirn. An einigen Stellen finden sich rote, blaue und grüne Flecken. Hier wird gerade kräftig gedacht, oder? Die Bilder lassen glauben, man könne dem Gehirn beim Arbeiten zusehen. Das stimmt nur zum Teil. Die fMRT nutzt die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaften sauerstoffarmen und sauerstoffreichen Blutes. Dies wiederum hängt mit der Drehrichtung des Atomkerns (dem Spin) zusammen, die im fMRT durch ein gewaltiges Magnetfeld verändert wird. Das Gerät liefert Messdaten, in welche Gehirnareale gerade besonders viel sauerstoffreiches Blut (und damit Glukose, also Zucker, als Energielieferant) fließt. An diesen Stellen denken wir besonders intensiv – so jedenfalls die Vermutung. Ganz falsch dürften die Wissenschaftler damit nicht liegen. Doch es gibt ein paar Bedenken und Einschränkungen:

 Das fMRT ist langsam, zumindest verglichen mit einem EEG. Aus physikalischen Gründen lässt sich höchstens alle zwei bis vier Sekunden eine Aufnahme anfertigen. Man weiß daher nur unzureichend, wann und wie schnell das Gehirn reagiert.

 Die Aufnahmen der fMRT sind letztlich nur plastisch aufbereitete Messdaten. Sie beruhen auf Durchschnittswerten, die durch Computerprogramme bereinigt wurden – eine erhebliche Fehlerquelle. Eine schwedisch-englische Studie aus dem Jahr 2016 behauptet, sieben von zehn fMRT-Studien lieferten falsche Ergebnisse.

 Auch da, wo es nicht rot oder grün ist, arbeitet das Gehirn. Hier finden vermutlich Prozesse statt, die für die gerade untersuchte Aufgabe unabdingbar sind. Zudem sind die Aktivitätsunterschiede zwischen roten und blauen Arealen oft nur minimal.

 Zwar kann man im fMRT die aktiven Areale, anders als beim EEG, ganz gut eingrenzen. Dennoch befinden sich an diesen Stellen oft 100 Millionen Neuronen und mehr, deren Zusammenspiel man nicht kennt.

 Im Hirnscanner ist es laut und eng. Die Probanden müssen lange Zeit absolut still liegen – nicht gerade eine natürliche Haltung. Aus diesem Grund gibt es nur sehr wenige Studien mit Gehirnscans beim Sex, denn der setzt nun einmal ein gewisses Maß an Bewegung voraus. (Man fragt sich, wie die paar Studien, die es gibt, das Problem bewältigt haben.)

Transkranielle Magnetstimulation: Diese Methode klingt ein bisschen gespenstisch, ist aber im Grunde harmlos. Wissenschaftler hemmen oder stimulieren durch die Schädeldecke hindurch (transkraniell) mit einem starken Magneten bestimmte Hirnareale. Sie können auf diese Weise zum Beispiel Zuckungen im motorischen Cortex auslösen oder Teile des visuellen Cortex abschalten. Auf diese Weise gelangen sie zu Erkenntnissen darüber, welche Rolle diese Gebiete bei der Verarbeitung spielen. Übrigens funktionieren die so genannten Hirnschrittmacher nach dem gleichen Prinzip.


Wie das Gehirn funktioniert

Bevor wir zu all den spannenden Geschichten kommen, die es rund um das Gehirn zu erzählen gibt, und zu all den faszinierenden Dingen, die dieses Nervenbündel in unserem Kopf so anstellt, wird es leider erst einmal ein bisschen trocken. Das ist wie im Lateinunterricht: Bevor wir die wilden Storys aus dem alten Rom im Original lesen können, müssen wir Vokabeln pauken. Damit Sie als Leser selbst entscheiden können, wie tief Sie einsteigen wollen, gibt es die Inhalte in diesem und im nächsten Kapitel in zwei Versionen: Einmal superverknappt in einem Absatz für Schnellchecker, die wirklich nur das Wichtigste erfahren wollen. Und dann nochmals für Neugierige, die etwas tiefer einsteigen wollen. Wer dann immer noch nicht genug hat, sei auf die Lektüretipps am Ende des Buches verwiesen.

Neuronen für Schnellchecker

Gehirnzellen (Neuronen) sind die Bausteine unseres Gehirns. Wir haben reichlich davon, nämlich nach neuesten Berechnungen rund 86 Milliarden. Das sind fast soviele wie Sterne in der Milchstraße. So ein Standard-Neuron hat oben einen Kopf, den Zellkörper, in dem Zellkraftwerke und Proteinfabriken herumschwimmen. Vom Zellkörper zweigt ein langer, dickerer Schwanz ab: Das ist das Axon. Es ist so etwas wie ein Stromkabel, denn die Zelle leitet in ihrem Innern Signale in Form von elektrischem Strom weiter. An seinem Ende nimmt es Kontakt zu den umgebenden Zellen auf. Das Axon ist umwickelt von einer Schicht aus Fett und Eiweiß, die seine Leitfähigkeit erhöht. Vom Zellkörper gehen außerdem lauter kleine Verzweigungen ab, die Dendriten. Man kann sie als Antennen der Zelle verstehen, denn sie empfangen die Botschaften von den Axonen der anderen Zellen.


Schematischer Aufbau eines Neurons

Neuronen für Neugierige

Wenn Sie morgens in Ihrem Waschbecken eine Gehirnzelle (Neuron) in Übergröße entdeckten, würden Sie sich vermutlich erst einmal ekeln. So richtig nett sehen die Dinger nämlich nicht aus. Eher wie dieses Glibberzeug, mit dem kleine Jungs ihre Mütter erschrecken.

Wie ist so eine typische Zelle aufgebaut? Knapp gesagt: ein dicker Kopf mit vielen Ärmchen und ein langer Schwanz, aus dem sich ebenfalls Ärmchen verzweigen. Zugegeben, das ist eine stark vereinfachte Darstellung. Sie ist gut geeignet, um den Aufbau eines Neurons zu verstehen, hat aber mit der Wirklichkeit so viel zu tun wie die Strichzeichnung eines Häuschens mit einem Megagebäude wie dem Pentagon. Zudem gibt es viele unterschiedliche Neuronentypen, von denen die beschriebene multipolare Zelle nur die häufigste Form ist.

Schauen wir uns trotzdem dieses typische Neuron genauer an. Denn nur so lässt sich später verstehen, was in unserem Kopf vorgeht, wenn wir denken und fühlen. Das Neuron besitzt einen verdickten Zellkörper, das Soma, in dem die Eingeweide der Zelle (die Organellen) schwimmen – und zwar in einer gelartigen Flüssigkeit aus Wasser, Eiweiß und Fett. Man nennt sie Cytosol. Sie sehen schon: Wasser, Eiweiß und Fett sind ganz allgemein die Hauptbestandteile unseres Gehirns.

 

Eine der Organellen ist der Zellkern, der Nukleus. In ihm bewahrt die Zelle ihren Bauplan in Form von Desoxyribonukleinsäure auf (DNS, oft nach dem englischen Wort mit DNA abgekürzt – das »A« für acid, also ›Säure‹). Wie genau eine Zelle funktioniert und aufgebaut ist, entscheidet sich danach, wie dieser Genbauplan gelesen und umgesetzt wird. Das wird als Genexpression bezeichnet. Außerdem befindet sich im Zellkörper das Mitochondrion, das Kraftwerk der Zelle. Es setzt in einer komplizierten chemischen Reaktionskaskade Energie frei, indem es Zucker- und Fettmoleküle spaltet. Diese Energie wird in Form eines Moleküls mit dem Kürzel ATP gespeichert – wer unbedingt Lust hat, sich den vollen Namen zu merken: Adenosintriphosphat. Mit diesem ATP betreibt die Zelle unter anderem sehr energieaufwendige Pumpen, mit denen unterschiedlich geladene Natrium- und Kalium-Ionen in die Zelle ein- und aus der Zelle herausgeschleust werden. Warum das so ungeheuer wichtig ist, erfahren Sie im folgenden Kapitel.

Im Zellkörper tummeln sich noch ein paar andere Organellen: die Ribosomen, so etwas wie die Proteinfabriken der Zelle; das raue endoplasmatische Retikulum, das sich netzartig verzweigt und auf dem die Ribosomen parken; außerdem der Golgi-Apparat (benannt nach seinem Entdecker, dem Italiener Camillo Golgi, 1843–1926), in dem die Proteine gespeichert und für ihren Weitertransport vorbereitet werden. Damit soll’s erst mal gut sein, auch wenn die Aufzählung keineswegs vollständig ist. Man sieht: Schon der Zellkörper ist ein kompliziertes Gebilde, obwohl er nur ein Tausendstel Millimeter groß ist.

Aus dem Zellkörper entspringt an einer Stelle, die Axonhügel genannt wird, eine kabelartige Verlängerung: das Axon. Wie lang es genau ist, unterscheidet sich je nach Neuronentyp: Manche Axone messen wenige Millimeter, andere schlängeln sich mehr als einen Meter durch das ganze Hirn (und gelegentlich durch den ganzen Körper). In ihnen werden Signale übertragen – übrigens erstaunlich langsam, nämlich mit 120 Metern in der Sekunde: Wenn Sie also in Stuttgart in ein Telefon sprächen, käme ihre Stimme bei gleicher Übertragungsgeschwindigkeit in Hamburg eineinviertel Stunden später an. Und das ist noch die schnellste Übertragung. Manchmal schaffen die Neuronen auch nur einen Meter pro Sekunde.

Vor der Riesenzelle in Ihrem Waschbecken würden Sie sich vielleicht auch deshalb ekeln, weil deren Schwanz (das Axon) mit einer Schicht aus Fett und Eiweiß überzogen ist. Man nennt diese Schicht Myelinscheide. Sie hat neben anderen Funktionen die Aufgabe, die Leitfähigkeit des Axons zu erhöhen. Die Umhüllung hat die Form von Wickeln, zwischen denen sich Kerben oder Einschnürungen befinden. Die Myelinwickel sind Schwannzellen, die zur Gruppe der Gliazellen gehören; die Einschnürungen nennt man Ranvier-Schnürringe. Die elektrische Erregung springt von Schnürring zu Schnürring – das geht zehnmal schneller, als wenn das Signal kontinuierlich im Innern des Axons weitergeleitet würde. Wozu der ganze Aufwand gut ist, bekommen leider Menschen mit Erkrankungen wie Multipler Sklerose zu spüren, bei denen die Myelinscheide von körpereigenen Abwehrstoffen angegriffen wird: Da bei ihnen die Signalübertragung holpert, sind ihre Bewegungen und ihr Sehvermögen gestört.

Aus dem Zellkörper sprießen bei unserem standardmäßigen multipolaren Musterneuron dünne Ärmchen, die sich erneut verästeln. Das sind die Dendriten. Ein bisschen sieht das Ganze aus wie eine Baumkrone (das griechische Wort dendron bedeutet ›Baum‹). Die Dendriten sind Empfangsantennen, die eingehende Signale aufnehmen. An ihren stachelartigen Fortsätzen befinden sich Kontaktstellen zu den anderen Gehirnzellen, die Synapsen.

An diesen 100 Billionen Synapsen, wo sich Axone und Dendriten zur Signalübertragung treffen, wird es erst richtig spannend – und kompliziert. Die Natur konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihre neuronalen Signale lieber elektrisch oder chemisch überträgt – und macht deshalb beides. Das hat, wie fast alles in der Evolution, einen guten Grund. Eine Zelle muss im Zweifel nicht nur erregt, sondern auch gehemmt werden. Und das geht biochemisch viel leichter (mehr dazu im nächsten Kapitel, wo es darum geht, wie genau Neuronen miteinander kommunizieren).

Die meisten Neurowissenschaftler sprechen am liebsten über Neuronen – ein Grund dafür, warum ihr Beruf so heißt wie er heißt. Wenn das Interesse der Wissenschaftler jedoch so verteilt wäre wie die Zellarten in unserem Kopf, müssten auf einen Neurowissenschaftler zehn Gliawissenschaftler kommen (andere Forscher behaupten, es gebe nur genauso viele Gliazellen wie Neuronen – das Zählen von Gehirnzellen ist gar nicht so einfach). Eine Art von Neuronen, die Schwannzellen im peripheren Nervensystem, haben wir schon kennengelernt. Im zentralen Nervensystem werden die gleichen Aufgaben von den sogenannten Oligodendrozyten übernommen. Die Gliazellen kleben (glia ist Griechisch und bedeutet ›Leim‹) an den Axonen und Dendriten und geben ihnen Halt. Außerdem vernichten sie die Ausscheidungen der Neuronen. Deshalb nahm man lange an, Gliazellen seien so etwas wie Gerüste und mobile Toiletten auf Baustellen – nicht ganz unwichtig, aber die eigentliche Arbeit wird von den Bauarbeitern, den Neuronen, gemacht. Allein, wie das oft so ist mit den Helferlein: Sie werden unterschätzt. In letzter Zeit gehen immer mehr Forscher davon aus, dass Gliazellen eine wichtige Rolle bei vielen neuronalen Prozessen wie Lernen und Erinnern spielen. Welche genau, weiß man noch nicht.

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