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Martin Geck

Beethoven hören

Wenn Geistesblitze geheiligte Formen zertrümmern

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Copyright © 2020 Martin Geck

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Ludwig van Beethoven, 9. Sinfonie op. 125, Scherzo / Porträt Meyers Lexikon 1905–1909

Noten: © Granger Historical Picture Archive / Alamy Stock Foto

Beethoven: © Nicku / Shutterstock.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961559-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011252-6

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort

  Zeichen und Wunder »Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben« – Mit der Sturm-Sonate auf »Neuem Weg« Epiphanie: Das e-Moll-Thema im 1. Satz der Eroica Plötzlichkeit: Vom Furor des Anfangens in der Fünften Entzauberung und Illusionsbrechung: die Achte »Ist da jemand?« Rufe der Sehnsucht in der Klaviersonate op. 110 Tönende Welterkenntnis: die Neunte Das Ganze ist das Wahre, jedoch in seiner ganzen Zerbrechlichkeit: das Streichquartett a-Moll op. 132

  Merkwürdigkeiten einer Durchführung

  »Ausbrüche«

  »Musica impura« – suchendes Ohr versus forschenden Blick

  Wittgensteins »Gebärde«

  Beethovens Musik vor dem Horizont elementarer Lebensprozesse Die Pauke Wut Schwellenerfahrung

  Beethovens »Neuer Weg«

  Epilog

Vorwort

Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.

EDUARD HANSLICK, Vom Musikalisch-Schönen, 1854

Glaubt Er, daß ich an eine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht und ich es aufschreibe?

BEETHOVEN zum Geiger Ignaz Schuppanzigh (Notat seines Biographen Adolf Bernhard Marx)

Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort, Doch der freie wandelt im Sturme fort.

SCHILLER, Die Worte des Wahns

Stürmischer Geist trifft auf kühle Profession – so lautet das Kernthema dieses Büchleins. Es stammt von einem Beethoven-Hörer, der zugleich Musikwissenschaftler ist. Und der es bedauert, dass etliche seiner Kollegen auftreten, als wären sie keine Beethoven-Hörer. Natürlich hören sie Beethoven, und gewiss lieben sie ihn. Gleichwohl liest sich manche staubtrockene Analyse Beethoven’scher Musik so, als wäre das ›Ereignis Beethoven‹ zu einem Konstrukt geschrumpft, dessen Baupläne man nur gehörig aus- und nachmessen müsse, um es ›erfasst‹ zu haben. Botschaft an die Leser: ›Schwer zu knacken, diese Stelle. Dazu braucht es Fachwissen!‹

Fachwissen ist jedoch nicht alles. Zudem bedeutet es mehr als gründliche Kenntnis der Musiktheorie – nämlich tiefere Einsicht in einen Beethoven-Diskurs, der über intelligente formale Analysen hinausreicht. Ohne darüber nachzudenken, sind schwärmerische ›Laien‹ diesem umfassenden Beethoven-Diskurs gelegentlich näher als manche Gelehrte. Ich möchte eine Brücke schlagen zwischen ›Wissenschaftlern‹ und ›Liebhabern‹: Beide dürfen schwärmen, beide dürfen nachdenken.

Ist es Schnee von gestern, dafür streiten zu wollen? Schert sich unsere Eventkultur überhaupt noch um Fragen der traditionellen Musikanalyse? Spricht überhaupt noch jemand über die ›tönend bewegten Formen‹ eines Eduard Hanslick? Und umgekehrt gefragt: Ist nicht die heutige Musicology vor allem mit anderen Themen beschäftigt: Deconstructivism, Narrative turn, Cultural turn, Linguistic turn, Gender, Race, Minorities?

Doch gerade das ist mein Punkt: So sinnvoll es ist, diese vor allem in den USA generierten Themen in den Diskurs ›Klassische Musik‹ aufzunehmen, so wichtig ist es, dem traditionellen »Kunst«-Handwerk der Analyse die Treue zu halten, auch wenn dieses Handwerk von Fall zu Fall um entsprechende Kompetenzen zu erweitern wäre.

Ich setze auf »Kunstkritik« im Sinne der Romantik und bediene mich dieser Kategorie gemäß Walter Benjamins Studie Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Romantische Kunstkritik will das Kunstwerk reflektieren und weiterdenken. Die Reflexion soll allerdings nicht wahllos ausfallen, vielmehr einen dem Werk »immanenten Keim […] zur Entfaltung bringen«.1 Das gilt nicht nur für Literatur, sondern auch für Musik: Seit der klassisch-romantischen Epoche ist diese auf Reflexion nicht nur angewiesen, sondern geradezu auf sie angelegt.

Nun kann »Reflexion« vieles bedeuten – etwa auch das Nachdenken über Beethovens Äußerung zur Sturm-Sonate op. 31,2: »Lesen Sie nur Shakespeare’s Sturm!« Man muss diese Worte ja nicht als spöttisches, womöglich genervtes Bonmot abtun; sie verweisen vielmehr – wie vage auch immer – auf einen kunstkritischen Diskurs, der das Werk aufschließt.

Dass sich Komponisten, Philosophen und Dichter – teils selbstbezogen, teils kundig, teils naiv – zur Musik geäußert haben und weiterhin äußern, ist alles in allem ein Geschenk an den Musikdiskurs, macht jedoch Musikanalyse nicht überflüssig: Will man über Musik reden, anstatt sie nur zu hören, so bedarf es eines Korrektivs zum Ausdruck bloßen Fühlens, Erlebens, Assoziierens, Fantasierens. Dieses Korrektiv zeichnet sich immer noch am deutlichsten vor dem Vorstellungshorizont ab, man habe es in der ›klassischen‹ Musik mit Werken zu tun.

Werke sind Organismen eigenen Rechts; sie bilden Strukturen, die als solche gewürdigt werden möchten und in der Tat – vielleicht unbewusst – von jedem Hörer gewürdigt werden, der sich nicht nur einem Klangrausch hingibt, sondern das musikalische Geschehen verfolgt. Nicht um eine Demontage des Werkbegriffs geht es mir, sondern – zugespitzt gesagt – um Kritik an der Auffassung, man könne das Werk auf einen Fetisch mit Namen »Partitur« oder »Struktur« schrumpfen.2

Doch selbst mit dem Terminus »Struktur« könnte ich gut leben, wenn man ihn aus dem Korsett befreite, in das ihn die strikte Musikanalyse zwängt. Vorab genügt vielleicht der vage Hinweis, dass musikalische Verläufe Strukturen abbilden, die sich auch in unserer Lebenswelt finden und in unserem Hirn verallgemeinert werden. Zum Beispiel dürfte es einsichtig sein, dass metaphorisch »hoch« oder »tief« genannte musikalische Konfigurationen in allgemeinen Strukturen unseres Welterlebens gründen: Wir vollziehen beim Musizieren und beim Hören von Musik Bewegungen nach, die wir aus unserer Lebenswelt kennen. Und der Reiz dieses Nachvollzugs besteht darin, dass wir die Situation steuern und beherrschen, ohne deshalb aus dem großen Ganzen herauszufallen.

Das Beispiel »hoch – tief« ist das einfachste, das sich denken lässt. In klassischer Musik sind die Konstrukte komplizierter und deshalb schwerer auf ihren Weltbezug hin zu entschlüsseln; doch gerade darin liegt der Reiz. Hörer erleben: ›Ich nehme nicht an einem allgemeinen Weltvollzug teil, sondern an einem höchst speziellen. Indem ich mich mit diesem identifiziere, erlebe ich mich als Individuum in höchster Entfaltung – und das im Einverständnis mit anderen, die zwar ihre speziellen Eigenerfahrungen einbringen, jedoch via Musik über diese ihre Erfahrungen mit mir kommunizieren.‹

Das Stichwort Kommunikation hebt das Thema auf eine neue Ebene. Die meisten Hörer kommunizieren ja nicht mit der Partitur, sondern mit dem Komponisten und seiner Musik. Was deren ›Struktur‹ betrifft, fragen sie sich bewusst oder unbewusst: ›Wie erreicht ein Komponist diesen oder jenen Effekt; und wie verhält sich die musikalische Struktur zu meiner allgemeinen Erfahrung der strukturierten oder als strukturiert erlebten Welt?‹ Die Reflexion hierüber stellt der emotionalen Bindung an die Musik, die ja gern bleiben darf, ein Stück Freiheit zur Seite. Man muss nicht so weit gehen wie Theodor W. Adorno, der als »gänzlich adäquaten Hörer« nur den akzeptierte, der – »fürs erste«! – die Formteile des zweiten Satzes aus Anton Weberns Streichtrio op. 20 nennen, also mit einem unter allerlei Komplikationen zwölftönig komponierten Sonatensatz umgehen konnte.3 Man darf jedoch vermuten, dass Einsichten in das heikle Gefüge von Form und Gehalt der Musik unser aller ästhetischen Sinne schärfen und dadurch zu unserer Humanisierung beitragen möchten.

 

Allerdings erfolgen ›Kommunikation‹ oder ›Diskurs‹ nicht nur via Analyse. Sie umfassen alles, was uns beim Musikhören – unbewusst oder bewusst – durch den Kopf geht und worauf wir antworten möchten: durch Mitmachen und Nachschaffen, durch Nachdenken und Erinnern.

Was speziell die Strukturanalyse vor allem deutscher Tradition und ihre hybriden Züge betrifft: Sicherlich gibt es inzwischen die oben genannten ergänzenden oder alternativen Verfahren und vieles andere. Ein Blick in aktuelle Handbücher, auf universitäre Curricula oder auf diverse Abituraufgaben im Fach Musik zeigt jedoch, in welchem Maß traditionelle Musikanalyse weiterhin als ein Königsweg der Musikbetrachtung angesehen wird – wenn nicht gar als Fels in der Brandung angesichts wechselnder Moden.

›Fels in der Brandung‹ könnte die Musikanalyse in meinen Augen gern bleiben, wenn sie ihre Ziele neu reflektierte. Das hieße vor allem, Adornos Idee vom »integralen Kunstwerk« nicht als Aufforderung zu missdeuten, einem trügerischen Ideal – mehr als das ist es ja nicht – hinterher zu hecheln: nämlich der Vorstellung, die Präsenz des »Integralen«, also der in sich perfekten Ganzheit, ließe sich analytisch nachweisen, wenn die Musik nur »groß« und man selbst intelligent und sachkundig genug sei. Solches hieße, boshaft formuliert: Wir sollen nicht über die Musik staunen, sondern über die zauberischen Künste des oder der Analysierenden. Sowohl die poetischen als auch die körpersprachlichen Momente der Musik schrumpfen in entsprechenden Analysen gegen Null; das Ekstatische und Diskontinuierliche – überhaupt alles formanalytisch schwer zu Fassende – wird geflissentlich überhört oder eingemeindet.

Was das im einzelnen bedeutet, sollen die nachfolgenden Kapitel zeigen.

Dass sich meine Argumentation auf die Musik Beethovens konzentriert, ist zwar auch methodisch begründet, jedoch vor allem dieser Musik selbst geschuldet: In für mich unfassbarer Weise gelingt es Beethoven, ›Struktur‹ zu bilden und dieser Struktur – je länger um so entschiedener – ein ebenso verletzliches wie kämpferisches Ich gegenüberzustellen. Ich kenne keinen Komponisten, der sein Werk strikter dem Anspruch unterworfen hätte, sich als Subjekt in ›den Verhältnissen‹ zu behaupten, anstatt in ihnen mitzuschwimmen oder in und mit ihnen unterzugehen.

Zeichen und Wunder

Von der Sturm-Sonate zum Streichquartett op. 132

Im Jahr 1807 unterzog der damals 23-jährige Carl Maria von Weber die Vierte seines 14 Jahre älteren Kollegen Beethoven im Morgenblatt für gebildete Stände einer spöttischen Kritik. So hieß es dort über die Einleitung:

Erstens, ein langsames Tempo, voll kurzer abgerissener Ideen, wo ja keine mit der anderen Zusammenhang haben darf, alle viertel Stunden drei oder vier Noten – das spannt! Dann ein dumpfer Paukenwirbel und mysteriöse Bratschensätze, alles mit der gehörigen Portion Generalpausen und Halte geschmückt; endlich, nachdem der Zuhörer vor lauter Spannung schon auf das Allegro Verzicht getan, ein wütendes Tempo, in welchem aber hauptsächlich dafür gesorgt sein muß, daß kein Hauptgedanke hervortritt und dem Zuhörer desto mehr selbst zu suchen übrig bleibt.

Webers Quintessenz lautete: »Man vermeide alles Geregelte, denn die Regel fesselt nur das Genie.«4 Zwar kleidete er seine Kritik in eine als Albtraum aufgemachte Groteske, die in der Beschreibung kompositionstechnischer Details recht unzuverlässig ist; gleichwohl protestierte er zugleich ernsthaft gegen eine Tonkunst, welche die »Klarheit und Deutlichkeit« der alten Meister durch eine ex- und egozentrische Attitüde ersetzt. Zwei Jahrhunderte später ist die Wissenschaft schlauer. So macht sich der Autor des Standardwerks Beethoven. Interpretationen seiner Werke zumindest anheischig, »die Einheit des Werkcharakters aus der Einheit des Symphonischen heraus zu verstehen« und die von Weber getadelte Einleitung der Vierten analytisch unter »übergeordnetem Aspekt« in den Griff zu bekommen.5

Wer ist Beethoven näher? Der Jungspund, der die Exzentrik seines potenziellen Rivalen verspottet, oder der gestandene Musikforscher, der uns nahelegt, er habe das Werk strukturell im Griff, müsse zu seiner Erklärung auch keine »poetische Idee« heranziehen?6

Ich mag keinem der beiden Recht geben, will vielmehr auf ein Drittes abheben, das im Titel dieses Buches benannt ist: »Wenn Geistesblitze geheiligte Formen zertrümmern«. Was damit gemeint ist, wird im Zuge der Darstellung zunehmend deutlich werden. Zunächst soll es gleich medias in res gehen.

»Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben« – Mit der Sturm-Sonate auf »Neuem Weg«

Der Vorrede zum dritten Heft seiner Musicalischen Rhapsodien gibt der Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart die Überschrift »Klavierrezepte«, obwohl es sich um Vokalmusik handelt. Doch ganz im Sinne der Gattung »Rhapsodie«, die sich ja der gestalterischen Freiheit verschrieben hat, heißt es dort:

Um aber deine Ichheit auch in der Musik herauszutreiben, so denke, erfinde, fantasire selber. Dein eigens, dir so ganz anpassendes Gemächt wirst du immer am besten herausbringen. Ewiges Kopiren, oder Vortrag fremden Gewerks ist Schmach für den Geist. Sei kühn, schlag an Brust und Schedel, ob nicht Funken eigner Kraft dir entsprühen.7

Beethoven ist damals 18 Jahre alt, und es werden noch 16 Jahre vergehen, eher er – wenn die Erinnerung seines Schülers Carl Czerny stimmt, nach Abschluss seiner Klaviersonate op. 28 verkündet: »Ich bin mit meinen bisherigen Arbeiten nicht zufrieden; von nun an will ich einen anderen Weg beschreiten.«8 Die Beethoven-Forschung hat die erste Verwirklichung dieses »neuen Weges« im Anschluss an Czerny vor allem in den Klaviersonaten op. 31 und speziell in der Sturm-Sonate op. 31,2 gesehen, jedoch auch in der Eroica. Unter den Strukturanalytikern war namentlich Carl Dahlhaus bestrebt, den »neuen Weg« vor allem im Sinne einer »Formidee« zu beschreiben, die den »radikalen Prozesscharakter« der Musik zur Geltung bringe. Nach seiner Auffassung treibt Beethovens neue Intention »Paradoxien« und »Ambiguitäten« aus sich heraus, die sich etwa darin zeigen, dass man den Anfang der Sturm-Sonate in einer paradoxen Mehrdeutigkeit zunächst als Introduktion hört, die sich mit Takt 21 als thematische Antizipation erweist, um dann – wenn das ›Thema‹ sich zur Überleitung wandelt – rückwirkend den Charakter einer Exposition anzunehmen.9

Dahlhaus’ Bemühen, die Prozesshaftigkeit des Kopfsatzes der Sturm-Sonate im Sinne einer anspruchsvollen immanenten Logik zu erklären, macht vor einer formalen Deutung der auffälligen Rezitative in Takt 143–148 und Takt 155–158 der »Reprise« nicht halt. Diese enthalten harmonisch die Sequenz A-d/C-F, die bereits im Sonatenbeginn angelegt ist, und lassen sich aus dem den Satz eröffnenden Adagio ableiten. Fazit:

Die rätselhafte Auskomponierung des Largo zum Rezitativ bildet also, funktional betrachtet, einen Widerpart zur ebenso rätselhaften Reduktion des [dem zweiten Rezitativ folgenden] Allegro: Im einen Vexierbild steckt die Lösung des anderen.10

Solches erklärt Dahlhaus jenen »Analytikern«, die dem »Dilemma« der komplizierten Struktur mit »verlegener Ratlosigkeit« begegnen. Aus Respekt vor seinen scharfsinnigen, hier notgedrungen verkürzt wiedergegebenen Analysen übersieht man gern, dass sie Deutungen darstellen, die der Absicht Beethovens entsprechen können, jedoch nicht müssen. Ich will diesen Deutungen nicht widersprechen, ihnen jedoch – gemäß der Intention meines Buchs – Beethovens Suche nach einem »neuen Weg« aus einem anderen Blickwinkel nachzeichnen, nämlich im Zeichen der Empfehlung Schubarts, ein Komponist müsse die Ichheit aus sich heraustreiben. Und bewusst übergehe ich hier die Beethoven in den Mund gelegte, von mir jedoch oben kommentierte Äußerung »Lesen Sie nur Shakespeare’s Sturm!«. In diesem Kontext geht es mir nämlich nicht um eine programmatische Deutung von op. 31,2, wie immer diese auch aussehen könnte.11

Natürlich kann ein Künstler auch im Zuge prozesshaften Komponierens seine Ichheit aus sich heraustreiben. Gleichwohl spricht aus Beethovens Werken eine »Ichheit«, die von Musikhörern deutlicher und mit mehr Identifikation wahrgenommen wird als verborgene motivisch-thematische Zusammenhänge.

Es würde Sinn ergeben, dieser »Ichheit« schon in Werken, die der Sturm-Sonate vorausgehen, nachzuspüren, da es sich ja um einen höchst dehnbaren Begriff handelt. Drei Gründe sprechen jedoch dafür, mit diesem Werk einzusetzen. Zum einen bezieht sich Czernys Erinnerung auf die Klaviersonaten op. 31. Zum anderen nimmt Schindlers Frage nach einem »Schlüssel« ausdrücklich Bezug auf die Sturm-Sonate und die Appassionata op. 57. Zum dritten – und das ist das Wichtigste – zeigt vor allem der 1. Satz der Sturm-Sonate merklicher als alle anderen Werke Beethovens zuvor Momente eines »neuen Wegs«. Diese manifestieren sich in zwei Erscheinungen, auf die ich mich hier konzentriere und unter dem Aspekt »die Ichheit aus sich heraustreiben« betrachte. Es geht um den charakteristischen Satzanfang:


und um die beiden aus dem Rahmen fallenden Rezitative aus der »Durchführung«:



Die Vorstellung eines vorab sich selbst repräsentierenden Rhapsoden, die Schubarts Appell an die Ichheit des Komponisten nahelegt, wird am Anfang der Sturm-Sonate eindrücklich umgesetzt: Vor Beginn seines Vortrags spielt sich der Sänger auf seinem Instrument ein, im Arpeggio des Largos prüft er dessen Stimmung, im anschließenden Allegro die Geläufigkeit seiner Finger. Es besteht kein Anlass, diese Deutung einfältig und eines Beethoven unwürdig finden; sie ist vielmehr eine plausible Basis für tiefer gehende Deutungen.

Diese könnten bei der Vorstellung einsetzen, man müsse den Beginn des Satzes nicht zwangsläufig als feste Themengestalt wahrnehmen, könne ihn vielmehr als ein in kürzester Zeit sich veränderndes Ereignis deuten – oder präziser: als Abfolge zweier auf einander bezogener, jedoch höchst unterschiedlicher Ereignisse. Auf engstem Raum dehnt sich und hastet die Zeit. Das gleicht einer Erinnerungsspur, die ich in einer älteren Arbeit metaphorisch als das Augenaufschlagen und anschließendes Strampeln des Säuglings gedeutet habe, also als eine Art elementarer Erfahrung von Zeit.12

Um etwas konkreter zu werden, könnte ich an den kleinen Ludwig van Beethoven denken, der von einem Nachbarn dabei beobachtet wird, wie er sinnend aus dem Schlafzimmerfenster schaut und dem Besucher mitteilt, er sei gerade mit »so schönen, tiefen Gedanken beschäftigt«, dass er sich nicht stören lassen wolle.13 Und ich könnte dazu fantasieren, dass der Junge im nächsten Augenblick zum Klavier rennt, um diese Gedanken in Töne zu fassen.

Solche Fantasien darf nach common sense nur ein Literat äußern, aber kein zünftiger Musikologe. Indessen liegt es mir fern, Beethoven hier eine äußere Realität zu unterstellen; nicht einmal seine innere Realität wage ich zu rekonstruieren. Vielmehr nehme ich die Haltung des Hörers ein, dem entsprechende Assoziationen – oder auch andere – kommen und der deshalb erlebt: Hier äußert sich ein Individuum in einer Weise, die markante Spuren menschlichen Verhaltens abbildet, also für die »Ichheit« des Komponisten steht.

Schon die gelegentlich »Raketenthema« genannten Anfangstakte von Beethovens erster gezählter Klaviersonate op. 2,1 stehen für eine solche Ichheit. Bereits auf sie könnten Schumanns Worte vom »jungen Beethoven« zutreffen, dem es »im Ballsaal […] zu eng und zu langweilig« geworden und der »lieber in’s Dunkle hinaus durch Dick und Dünn« gestürzt sei.14


Jedoch bleibt dieser Anfang trotz aller Charakteristik im Rahmen des Erwartbaren. Und es ist kein Zufall, dass man Beethoven ausgerechnet nach dem »Schlüssel« zur Sturm-Sonate und zur nicht viel später entstandenen Appassionata und somit zu Werken fragte, die in ungewohnter Weise ›gedankenvoll‹, für die Zeitgenossen vermutlich geradezu rätselhaft beginnen.

 

Zwar ist es unnötig, deshalb das mehr als ein Jahrhundert alte Beethoven-Buch von Paul Bekker zu bemühen, der angesichts des Arpeggios die Vorstellung einer »mystischen Tiefe« bemühte, der »eine gespenstische Erscheinung mit leisen Schritten nach oben tappend« entsteige.15 Sinnvoll ist es jedoch, den anthropologischen Horizont dieser Geste wahrzunehmen – schlicht deshalb, weil diese Geste nicht im Rahmen gewohnter musikalischer Gesten bleibt und sich darin deutlich von dem Beginn der Sonate op. 2,1 unterscheidet: Der Künstler schöpft nunmehr aus den Tiefen seiner Erfahrung; er stellt ein »Ich« nicht einfach vor, treibt es vielmehr in fast buchstäblichem Sinn aus sich heraus. Das ist der neue Weg; und dieser lässt sich gut mit dem Wort »prozesshaft« beschreiben, wenn man dabei nicht nur das abstrakt kompositionstechnische Moment im Auge hat, sondern den leib-seelischen Gesamtzusammenhang des In-der-Welt-Ankommens. Diesen kann und darf jeder Hörer für sich und gegebenenfalls ohne entsprechende Angebote von außen erleben.

Solches nenne ich – wie in dem Dialog mit Peter Schleuning ausgeführt – ein ganzheitliches Verständnis von Musik. Dieses impliziert auch ein Abrücken von der Vorstellung, man könne musikalische Verläufe verdinglicht wahrnehmen, wie es das Fachvokabular der Musikanalyse leicht suggeriert. Anstatt nur (!) von »Satzteilen« und von »Formverläufen« zu sprechen, müsste man sich klarmachen, das unser Laien-Ohr ganz anders hört, nämlich in Abfolgen, die es vor allem im Sinne leib-seelischer Prozesse wahrnimmt.

Wie noch merklicher an der Komposition der Eroica zu sehen, verweigert sich Beethovens »neuer Weg« zunehmend der Verdinglichung musikalischer Vorgänge. Und geradezu im Wortsinn gilt das für die beiden Rezitative, die der Komponist in den Kopfsatz der Sturm-Sonate einschaltet. Bezeichnet man die Formteile »Exposition«, »Durchführung« und »Reprise« hypothetisch als Dinge, so bricht in diese ›Dingwelt‹ die menschliche Stimme ein. Man muss nicht wissen, was diese Stimme sagt. Man muss meines Erachtens nicht einmal mit Laurence Kramer darüber spekulieren, ob sie feminin besetzt sei16, oder mit Christian Thorau, ob sie eine Reaktion des Subjektes auf »Negation des Subjekts durch die übermächtigen ›Sturmmusik‹« darstelle.17 Denn wir wissen nicht, was Beethovens Anspielung auf Skakespeares Sturm letztendlich bedeuten sollte.

Wesentlich ist hingegen Kramers Hinweis auf Rousseaus Protest gegen eine gnadenlose, subjektfeindliche Spielart der Aufklärung. Denn mit Rousseau hat der »neue Weg« unzweifelhaft etwas zu tun. Und es ist mehr als eine Marginalie, zu wissen, dass eben jener Carl Czerny, dem wir Beethovens Ausspruch über seinen »neuen Weg« verdanken, über den Komponisten als »jungen Mann« sagte: »Sein Charakter glich sehr dem von Jacques Rousseau.«18

Von Rousseau her gedacht, erhält der Sonaten-Satz in Gestalt der Rezitative eine persönliche Stimme; dieser gelingt es, das bedrohlich-straffe »Haupt«(?)-Thema, das ja in der Reprise nicht mehr auftaucht, aus seinem Gesichtsfeld zu verbannen. Man muss das nicht unbedingt so deuten; und schon gar nicht sollte man Beethoven unterstellen, es so gesehen zu haben. Zudem bleibt festzuhalten, dass hier kein erzählbares Programm zur Diskussion steht, dass es vielmehr um Denkformen musikalischer Gestaltung geht, die unmittelbare Entsprechungen im leib-seelischen Bereich haben.

Über Rousseau hinaus könnte man an Goethes Verständnis von der ebenso produktiven wie unberechenbaren Kraft des Dämonischen denken. Das Dämonische ist für Goethe ein gesetzmäßig nicht zu erfassendes Seinsmoment, nämlich »eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht, so daß man die eine für den Zettel, die andere für den Einschlag könnte gelten lassen«.19 Ein Vergleich aus der Webersprache, der sich mit der nötigen Phantasie auf die Situation im ersten Satz der Sturm-Sonate anwenden lässt: Dem »Zettel« – also dem längs in den Rahmen eingespannten Garn – entspricht das Schema des Sonatensatzes; die »Einschlag« genannten Querfäden stehen für die spontanen körpersprachlichen Impulse.20

Letztlich hinkt der Vergleich; denn das Notenbild von Beethovens Sonate erinnert an alles andere als an eine schlichte Webarbeit: Sie gleicht vielmehr einer aufwendigen Textur, deren Kompliziertheit einem Hörer, der vor allem auf die narrativen Züge der Musik, also auch auf den »Einschlag« achtet, freilich gar nicht bewusst wird. Doch so aufwendig die kompositorische Textur auch ist: Vor allem hinsichtlich der oben diskutierten Momente – Satzeröffnung und Rezitativeinschübe – ist ein Sich-zu-erkennen-Geben des kompositorischen Ichs festzustellen, das die Struktur des Sonatensatzes nicht nur formal, sondern auch gestisch angreift. Die herausragenden Ereignisse des Satzes sind diejenigen Elemente, die sich nicht oder nur schwer ins übliche Schema integrieren lassen. Und eben das ist der »neue Weg«: seine Ichheit akzentuiert gegen die Konvention durchsetzen. Und das Geniale an dem Satz ist, dass Beethoven diese Konvention nicht etwa ignoriert, sondern das Thema ›Ichheit heraustreiben versus Regeln befolgen‹ geradezu auskomponiert: Er macht die Norm sichtbar und unterläuft sie zugleich. Das hat kein anderer Komponist auch nur annähernd so überzeugend geschafft. Man ist an Tischsitten erinnert: Nur wenn die anderen manierlich speisen, fällt es auf, dass einer aus dem Rahmen fällt.

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