Die kürzeste Geschichte der Musik

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Auf anderen Feldern ist man da schon weiter. So hat sich inzwischen auch im Westen das »Qi-Gong« durchgesetzt, eine Art meditativer Selbsterfahrung mit körperlichen Übungen und Musik. Da finden auch Erwachsene nichts dabei, wenn solche Übungen »Reiten des wilden Pferdes« oder »Der doppelte Drachen springt aus dem Meer« heißen, fühlen sich vielmehr an ganzheitliche leib-seelische Erfahrungen angeschlossen.

Manche europäischen Komponisten haben sich einen Sinn bewahrt für die kosmologischen Zusammenhänge, von denen hier die Rede war. Antonio Vivaldi schrieb einen Zyklus von vier Violinkonzerten, der seinen Hörern die Vorstellung von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in Tönen nahebringen soll. Von Dietrich Buxtehude, einem Lehrer Johann Sebastian Bachs, stammen sieben Klaviersuiten mit dem Titel Die Natur oder die Eigenschaft der Planeten. Und Alexander Skrjabin komponierte Musik für ein Farbenklavier. Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 war Karlheinz Stockhausen, ein ebenso interessanter wie umstrittener Komponist, damit beschäftigt, die letzten Teile eines gewaltigen musikdramatischen Zyklus mit dem Titel Licht. Die sieben Tage der Woche zu vollenden.

Von Mönchen und Spielleuten
Die Musik im europäischen Mittelalter

Vieles aus der Musik der Naturvölker und der alten Reiche lebt im europäischen Mittelalter fort. Auch dieses kennt Sagen von der Macht der Musik. So ist in dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kudrun-Lied vom Helden Horant die Rede, der durch seinen bezaubernden Gesang das Herz der schönen Hilde von Irland für seinen Herrn, König Hettel von Dänemark, gewinnt. Doch damit nicht genug: Weder Gesunde noch Kranke können aufhören, Horants Melodien zu lauschen; die Tiere verlassen den Wald, die Würmer vergessen, sich durchs Gras zu winden, die Fische hören vor Entzücken auf zu schwimmen. Gegen Horants Stimme verblasst sogar der Chorgesang der Geistlichen, und die Kirchenglocken klingen nicht mehr so schön wie zuvor.

Ferner ist auch dem Mittelalter die Vorstellung nicht fremd, dass in Gottes großer Schöpfung alles aus einem komme und alles miteinander zusammenhänge. In der Bibel heißt es, Gott habe die Welt nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet, und folglich suchen die gelehrten Mönche Übereinstimmungen zwischen den Proportionen, die im Kosmos herrschen, und denjenigen, welche sie in der Musik erkennen. Sie gehen davon aus, dass es Sphärenklänge – die »musica mundana« – gibt, die der Mensch beständig mit seinem inneren Ohr hört und die er unwillkürlich in die eigene Musik umsetzt. »Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang«, dichtet noch Goethe in seinem Faust.

Da wundert man sich nicht über die Stellung, welche die Musik unter den sieben freien Künsten des Mittelalters hat: Sie zählt mit Geometrie, Arithmetik und Astronomie zum »Quadrivium« der rechnenden und messenden Künste, dem das an der Sprache orientierte »Trivium« von Rhetorik, Grammatik und Dialektik gegenübersteht.

Ein besonders interessanter Vergleich lässt sich zwischen der Machtpolitik des europäischen Mittelalters und derjenigen der alten Reiche ziehen: Hatte die streng genormte höfische Musik zum Zusammenhalt des chinesischen Riesenreiches beigetragen, so übernimmt im karolingischen Reich der gregorianische Choral einen Teil dieser Funktion. Gemeinsam mit der lateinischen Sprache soll er für einen einheitlichen christlichen Ritus in ganz Westeuropa sorgen – in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Schottland, Irland und Skandinavien. Auf diese Weise soll nicht nur der Bestand des Papsttums und der römischen Kirche gesichert, sondern auch die weltliche Herrschaft von Karl dem Großen und seinen Nachfolgern auf dem Kaiserthron legitimiert werden. Dahinter steht die Hoffnung, dass Menschen, die jeden Sonntag auf dieselbe Weise die Messe feiern und den gleichen Gesängen lauschen, sich einem großen Ganzen zugehörig fühlen und nicht gegen die kirchliche oder weltliche Zentralmacht aufbegehren.

Doch vor allem in den germanischen Ländern, die zunächst von den Römern und später von den Karolingern unterworfen und oft mit Gewalt zum Christentum »bekehrt« worden sind, ist eine solche Idee nicht unumstritten. Noch in dem bereits erwähnten Kudrun-Lied wird der Gesang des germanischen Helden Horant über den Gesang der katholischen Kleriker und ihr Glockengeläut gestellt. Und obwohl die alten germanischen Bräuche seit dem 8. Jahrhundert von den herrschenden Karolingern streng verboten und fast alle Aufzeichnungen über heidnische Kulte verbrannt worden sind, gibt es immer wieder Proteste gegen die katholische Messe.

So ist in mittelalterlichen Chroniken von einem rituellen Reigen die Rede, den im Jahr 1020 aufrührerische Bauern auf dem Kirchhof des mitteldeutschen Dorfes Kölbingk tanzen, um die Weihnachtsmesse zu stören. Eine dazu überlieferte Gesangsstrophe lautet:

Ritt einst Bowo durch den Wald so grüne,

führte mit sich Merswint die Schöne.

Was stehn wir? Warum nicht gehn wir?

Der Sinn dieser Zeilen ist unklar; jedoch hielt die damalige Obrigkeit die Aktion in Kölbingk für so gefährlich, dass sie die Legende ausstreuen ließ, der erzürnte Priester habe die Bauern dazu verdammt, ein ganzes Jahr durchzutanzen.

Es gibt auch andere Zeugnisse dafür, dass das germanische Brauchtum im christlichen Mittelalter nicht völlig untergegangen ist. Selbst das gelegentlich noch heute zu hörende Spiellied

Ringel, rangel, reihe,

sind der Kinder dreie,

sitzen unterm Hollerbusch,

machen alle husch, husch, husch

ist nicht so »harmlos«, wie es den Anschein hat: Der Holler- oder Holunderbusch steht für die altgermanische Frau Holda oder Frau Holle, die ursprünglich eine Göttin der Fruchtbarkeit war und später unter dem Einfluss des Christentums zur Anführerin der Schar ungeborener Kinder wurde, die als elfen- oder hexenhafte Wesen während der »Zwölf Nächte« zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag durch die Lüfte fahren. In seinem Tannhäuser, einer im Mittelalter spielenden Oper, lässt Richard Wagner einen jungen Hirten singen:

Frau Holda kam aus dem Berg hervor,

zu ziehn durch Wälder und Auen;

gar süßen Klang vernahm da mein Ohr,

mein Auge begehrte zu schauen …

Im Mittelalter gaben freilich andere »süße Klänge« den Ton an – nämlich diejenigen des gregorianischen Chorals und der katholischen Liturgie. Und beide sollten, wie gesagt, möglichst im gesamten Abendland auf ein und dieselbe Weise erklingen. Das ist bekanntlich in erstaunlichem Maße geglückt: Noch im 21. Jahrhundert ist der gregorianische Choral in vielen Ländern ein fester Bestandteil der katholischen Messe. Wer heute in Deutschland einen solchen Gottesdienst besucht, wird dort Weisen hören, die nach wie vor an der mehr als tausend Jahre alten Gregorianik orientiert sind, obwohl die Texte der Liturgie inzwischen nicht mehr in lateinischer, sondern in deutscher Sprache vorgetragen werden.

Einheitlichkeit von solchem Ausmaß konnte dauerhaft nur erreicht werden, wenn man die Töne des gregorianischen Chorals schriftlich fixierte und entsprechend verbreitete. Zwar verwendeten schon andere Völker eine Notenschrift, unter anderem Chinesen und Griechen. Doch das waren Wort- oder Buchstabenschriften. Demgegenüber machen Mönche in den europäischen Klöstern des 7. bis 13. Jahrhunderts die phantastische Entdeckung einer Notenschrift von ganz neuer Qualität.

Am Anfang stehen »Neumen«; man könnte sie vage als Wegmarken beim Vortrag des einstimmigen gregorianischen Chorals bezeichnen. Später werden sie durch Noten im heutigen Sinn ersetzt, die ihren Platz in einem ausgeklügelten Liniensystem finden und die Tonhöhe genau angeben. Nach und nach differenziert man außerdem zwischen unterschiedlichen Tonlängen, so dass sich auch rhythmisch komplizierte Melodien exakt notieren lassen. Das Ganze ist ein langer Prozess, der erst im 13. Jahrhundert mit der »Mensuralnotation« zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Ihr Name kommt vom Lateinischen »mensurare« (»messen«) und besagt, dass man mit ihrer Hilfe die relative Zeitdauer der einzelnen Töne genau angeben kann.

Wäre es ihnen lediglich darum gegangen, einstimmige Melodien zu fixieren, hätten sich die mittelalterlichen Musikgelehrten den Kopf nicht so ausgiebig um die Notation zerbrechen müssen. Und in der Tat gilt ihr Interesse einem weiteren, viel spannenderen Phänomen: Während die Mönche ihre Weisen niederschreiben, kommt ihnen der Gedanke, eine zweite und womöglich dritte Stimme exakt unter die erste zu setzen; würde man dieses »mehrstimmig« Notierte tatsächlich aufführen, könnten die Weisen der Liturgie zur höheren Ehre Gottes in besonderem Schmuck erklingen.

Dergleichen hat freilich nur Sinn, wenn das jeweils untereinander Stehende auch gut zusammenklingt. Also muss man das »Komponieren« lernen, das heißt wörtlich: die sinnvolle Zusammenstellung von Tönen. Die »Partitur«, wie man die Zusammenschreibung mehrerer Stimmen später nennt, wird zu einer Art Landkarte. Auf ihr ist nicht nur der »Weg« der einzelnen Stimme eingezeichnet, vielmehr kann man auch den Gang der ganzen mehrstimmigen Komposition nachvollziehen und ihre schöne Ordnung auch lesend genießen.

Rückblickend erscheint es rätselhaft, dass die mittelalterlichen Gelehrten viele Generationen, ja Jahrhunderte gebraucht haben, um ihre Entdeckung wirklich zu nutzen und eine in unseren Ohren vollgültig mehrstimmige Musik zu komponieren. Man muss sich jedoch ihren Ausgangspunkt klarmachen: Einfache Mehrstimmigkeit wurde von den Volksmusikern längst praktiziert. Diese kannten zwar keine Noten, waren aber in der Lage, aus dem Kopf zu einer Hauptstimme eine zweite Stimme zu erfinden, welche die erste begleitet oder umspielt. (Heute gibt es Vergleichbares noch im Jazz.)

 

Solcherart improvisierte Mehrstimmigkeit wurde freilich von den mittelalterlichen Musikkennern geringgeschätzt, mochte sie ihnen insgeheim auch gut gefallen. Sie mussten daher den Eindruck erwecken, als würden sie die Mehrstimmigkeit neu entdecken. Und weil die dafür zuständigen Gelehrten das Komponieren – ähnlich wie im alten China – als eine philosophische und theologische Tätigkeit betrachteten, wollten sie vor allem beweisen, dass komponierte Mehrstimmigkeit dem göttlichen Schöpfungsplan entsprach. Für die Zusammenstellung der Töne waren somit dieselben Zahlenverhältnisse maßgebend wie für den gesamten Kosmos.

Fasziniert waren die Mönche von einer Beobachtung, die schon andere, zum Beispiel der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras, gemacht hatten: Teilt man eine Saite im Verhältnis 1 : 2 oder 2 : 3 oder 3 : 4 und zupft sie anschließend an, so erhält man zum Grundton die Oktave (1 : 2), die Quinte (2 : 3) und die Quarte (3 : 4). In diesem einfachen Zahlenverhältnis 1 : 2 : 3 : 4 sah man einen Wink der Schöpfung, wie sich die mehrstimmige Musik theologisch korrekt einrichten ließe, und man komponierte zunächst schlichte »Organa«, also Stücke, in denen die Parallelbewegung von Oktaven, Quinten und Quarten vorherrschte. Das hörte sich allerdings so langweilig an, dass die Mönche phantasievoller werden mussten, wenn die Praktiker nicht über sie spotten sollten. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts entstanden dann in der Tat wahre kompositorische Wunderwerke, die zwar weiterhin streng nach bestimmten Zahlenverhältnissen geordnet waren, zugleich aber ein reiches harmonisches Gewebe bildeten.

Obwohl es die kunstvolle Mehrstimmigkeit gewesen ist, welche der europäischen Musik eine bis heute andauernde Weltgeltung verschafft hat, wäre es falsch zu glauben, dass sie das Musikleben des europäischen Mittelalters durch und durch geprägt hat. Wir vergessen leicht, dass sie zunächst nur in wenigen kirchlichen und weltlichen Zentren heimisch gewesen, der einfachen Bevölkerung jedoch unbekannt geblieben ist.

Das Volk erfreute sich vor allem an der schriftlosen Kunst der Spielleute, die – anders als die Mönche – auf unmittelbaren Kontakt mit ihrem Publikum bedacht waren. Sie spielten mitreißend zum Tanz auf, begleiteten sich zu ihren Heldengesängen und wirkten bei den unterschiedlichsten Theateraufführungen und Gaukeleien mit. Anders als die strenge kirchliche Kultur setzten sie auf die Abenteuer-, Hör-, Lach- und Bewegungslust von Menschen, die für einen Augenblick wieder »Kind« werden und sich naiv freuen oder gruseln wollten.

Die Vertreter von Obrigkeit und Kirche reagierten säuerlich oder feindlich. Sie nannten die Spielleute »Lockvögel des Teufels«, verwehrten ihnen bürgerliche Rechte und machten sie damit zwangsläufig zu »Fahrenden«, die überall und nirgends auf der Welt zu Hause waren und von jedermann angegriffen werden konnten. Und bekam ein Fahrender ausnahmsweise einmal gegenüber einem Bürger oder einem Adeligen recht, so durfte er nur dessen Schatten schlagen, musste sich also mit einer symbolischen Genugtuung begnügen.

Dass man ihnen oft sogar die christliche Beerdigung verweigerte und sie auf freiem Feld verscharrte, belegt ein Spruch des Nürnberger Volkspoeten Hans Sachs: »Stolp, stolp, stölperlein, da wird ein Pfeifer begraben sein.« Volkstümliche Redensarten wie »Spielleute und Lumpen wachsen auf einem Stumpen« oder »Gigel, geigel, Fidelboge, was der Spielmann sagt, das ist erloge« beleuchten diese heikle soziale Situation und kommen natürlich nicht von ungefähr: Wer von der Hand in den Mund leben muss, kann in seinen Überlebensstrategien nicht zimperlich sein.

Um die Spielleute vom »ordentlichen« Teil der Bevölkerung abzugrenzen, gab es allerlei Kleiderordnungen. Anders als etwa kirchliche Sänger durften sie hier und da nur kurze Kittel tragen. Und weil sie vielfach die abgenutzten Kleider aus den Truhen der Reichen geschenkt bekamen, war ihre Tracht nicht selten buntscheckig oder von grotesker Pracht. Beliebt waren auch schuppenartige Überzüge, wie man sie von Papageno aus Mozarts Zauberflöte kennt. Aufgenähte bunte Lappen, welche die Behörden zur Kennzeichnung der Fahrenden manchmal ausdrücklich verlangten, verstärkten das Bild der Absonderlichkeit. Jüdische Musiker, die »Klezmorim«, wurden oft gezwungen, hohe, spitze Hüte aufzusetzen. Das am 1. August 1551 von Kaiser Ferdinand I. erlassene »Mandat des gelben Flecks« nimmt sogar den menschenverachtenden »Judenstern« aus der Zeit des Nationalsozialismus vorweg.

Sowenig die Spielleute einerseits galten, so unentbehrlich waren sie andererseits, um Freude und Farbe in den Alltag zu bringen und große Menschenansammlungen zu unterhalten. Nach einem Bericht der Limburger Chronik kamen anlässlich des Frankfurter Reichstags im Jahr 1397 außer achthundert Dirnen auch »funftehalp hondert farender lude, so spellude, pifer, dromper, sprecher und farende schuoler« in die Stadt. Wer Glück hatte, konnte sich dem Gefolge eines Fürsten anschließen und vielleicht sogar zum fest angestellten Trompeter aufrücken. In dieser Position trug er dann zur Ausgestaltung des höfischen Alltags bei, der im Fall Heinrichs XI. von Liegnitz mit den Worten beschrieben wird: »Ihro Fürstliche Gnaden liessen täglich 7 Trompeter neben Schlagung der Kessel-Drommel zu Tische blasen, sonsten übten sich I. F. G. täglich mit Ringe-Rennen, Spatzieren reiten, mit Tantzen, Mummereyen, Trincken und anderen Uppigkeiten und Kurtzweilen.«

Angesichts der Unkontrollierbarkeit fahrender Spielleute gingen die mittelalterlichen Städte dazu über, einige wenige Musiker zu »Stadtpfeifern« zu machen und mit Zunft- und Bürgerrechten auszustatten. Dass diese neuen städtischen Bediensteten gern über die angeblich geringe Kunst von »Bierfiedlern« und anderen unsteten Kollegen wetterten, war häufig Ausdruck reinen Neids. Denn so viele Stümper es unter den Fahrenden gegeben haben mag: Die meisten waren in der Welt herumgekommen, hatten viele musikalische Stile kennengelernt und spielten ohne Rücksicht auf verknöcherte Zunftregeln frei und virtuos auf. Bis heute steckt in jedem richtigen Musiker, und sei er noch so etabliert, auch ein Spielmann.

DAS EUROPÄISCHE MITTELALTER ist ein riesiger Schmelztiegel. Von älteren Hochkulturen unterscheidet es sich durch die erst sehr zögerliche, später jedoch zunehmende Bereitschaft, die Idee einer theologisch und philosophisch abgezirkelten Kunst mit der Virtuosität, Vitalität und Sinnenfreude von Volksmusik zu verschmelzen. Nur auf diese Weise konnte es zu den großen musikalischen Formen, zu der durchkonstruierten und zugleich blühenden Mehrstimmigkeit kommen, die man heute mit dem Etikett »Kunstmusik« versieht.

Deren Voraussetzung ist eine Notenschrift, die zeit-räumliches und visionäres Denken beflügelte. Oder umgekehrt gesehen: Die Bereitschaft zu einem solchen Denken ist die Voraussetzung für die Entdeckung der modernen Notenschrift gewesen. Hat all das etwas mit dem Wesen des Christentums zu tun? Oder mit dem neuen Wissenschaftsbegriff, der im europäischen Mittelalter aufkommt? Oder mit dem anbrechenden Zeitalter der großen Entdeckungen? Oder mit einer allmählichen Öffnung der Gesellschaft, die sich viele Jahrhunderte später einmal »aufgeklärt« nennen wird?

Eines jedenfalls ist sicher: Ebenso wenig wie die gotischen Dome der Phantasie eines einzelnen Baumeisters entsprungen sind, ist die mittelalterliche Musik losgelöst von der Gesellschaft denkbar, in welcher sie entsteht. Für jeden, der sich mit mittelalterlicher Musik beschäftigt, gilt somit der provokante Satz: »Wer nur was von Musik versteht, versteht auch davon nichts!«

»Soli deo gloria« oder
»Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«?
Von den traditionellen Gattungen der Kirchenmusik

Beginnen wir mit der Motette. Sie trägt ihren Namen nach dem französischen »mot«, das heißt »Wort«; und das kommt so: Einige der mittelalterlichen Komponisten, die Teile der Liturgie zu einer mehrstimmigen Komposition verarbeiteten, sahen keinen Sinn darin, allen Stimmen denselben Text zu unterlegen. »Wenn es in einem mehrstimmigen Stück schon verschiedene Melodien gibt«, so fanden sie, »sollte es auch verschiedene Texte geben; erst dadurch bekommt jede Stimme ihren eigenen unverwechselbaren Charakter.« Die Bezeichnung »Motette« steht also für die auch textlich eigenständigen Stimmen, welche zum liturgischen »cantus firmus« – meist ein Ausschnitt aus dem gregorianischen Choral – hinzukommen.

Die ersten solcher mehrtextigen Kompositionen sind nach dem heutigen Stand der Forschung um 1200 in der Komponisten- und Sängerschule der Pariser Kathedrale Notre-Dame entstanden – dem bedeutendsten Zentrum hochmittelalterlicher geistlicher Musik. Obwohl die Komponisten auch dort vor allem Kleriker waren, wurde es ihnen zu langweilig, sich ausschließlich mit gottesdienstlichen Texten und Weisen zu beschäftigen. Vielmehr bezogen sie in ihre Stücke das in Paris kursierende weltliche und volkssprachliche Liedgut mit ein. Manchmal schmuggelten sie geradezu schlüpfrige Texte in ihre geistlichen Werke.

Im Laufe der Jahrhunderte gelang es den Kirchenoberen allerdings, die Kirchenmusik von solchen Unreinheiten wieder zu säubern. Zur Zeit ihrer Hoch- und Spätblüte unter Giovanni Pierluigi da Palestrina – um die Mitte des 16. Jahrhunderts – ist es dann mit dem Wildwuchs endgültig vorbei: Nicht nur wegen der Ausgewogenheit des musikalischen Satzes, sondern auch wegen der Einheitlichkeit der liturgischen Texte sind Palestrinas Kompositionen ein Muster an Reinheit und Makellosigkeit.

Wo von »Motette« die Rede ist, meint man freilich nicht nur eine bestimmte Gattung kirchlicher Musik, sondern auch einen bestimmten Kompositionsstil, nämlich die Polyphonie, das heißt »das vielfältig Klingende«. Die zu ihrer Blütezeit meist vierstimmige Motette besteht aus selbständigen, in unterschiedlichen Abständen einsetzenden und pausierenden, oft einander imitierenden Stimmen. In diesem Sinne kann man die Teile der mehrstimmigen Messe – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus mit Benedictus, Agnus Dei – als Spezialformen der Motette betrachten.

In der Geschichte von Motette und Messe stoßen wir auf eine lange Reihe von Namen großer Komponisten. Aus dem 14. Jahrhundert ragt Guillaume de Machaut hervor, der vor allem an der königlichen Kathedrale zu Reims wirkte, als Dichter und als Komponist gleich angesehen war und neben seinen geistlichen viele weltliche Werke schuf.

Die Musik des 15. Jahrhunderts wurde in besonderem Maße durch Guillaume Du Fay geprägt. Er stammte aus der berühmten Sängerschule der Kathedrale zu Cambrai im heutigen Nordfrankreich, stand in Diensten des päpstlichen Hofs sowie des Hofs von Savoyen und lebte zuletzt in seiner Heimat Cambrai. So prominent er seinerzeit war – von seiner Kunst hätte er sich nicht ernähren können. Er war darauf angewiesen, dass ihm seine weltlichen und kirchlichen Gönner gut dotierte Pfründen verschafften. An der Kathedrale zu Cambrai wirkte er nicht nur als Musiker, vielmehr trug er auch für die Weinvorräte des Domkapitels und für notwendige Kanalarbeiten Sorge.

Ähnliches ist von Josquin des Prez zu berichten. Von den Zeitgenossen ein »Fürst der Musik« genannt, wirkte er als Sänger und Komponist in der päpstlichen Kapelle und danach als Hofkapellmeister in Ferrara, um schließlich im französischen Condé Propst des Domkapitels zu werden. Als solchem unterstanden ihm der Dekan, der Schatzmeister, 25 Kanoniker, 18 Kapläne, 16 Vikare und sechs Chorknaben. Obwohl Josquin des Prez, der 1521 starb, kein Anhänger der Reformation war, wurde er von Martin Luther hoch verehrt. Durch ihn, meinte der Wittenberger Kirchengründer, habe Gott gezeigt, dass man das Evangelium auch durch die Musik predigen könne.

Palestrina, dessen Musik die Jahrhunderte überdauerte, entstammte ebenfalls der päpstlichen Cappella Sistina, musste diese allerdings verlassen, als Papst Paul IV. nach seinem Amtsantritt im Jahr 1555 dort nur noch Kleriker duldete. Jahrzehnte später heiratete er die wohlhabende Pelzhändlerswitwe Virginia Dormoli.

Überblickt man die Geschichte der Polyphonie von ihren Anfängen im 9. bis zu ihrer Hochblüte im 16. Jahrhundert und zugleich die Geschichte des Berufsstandes »Komponist«, so stellt man einen erstaunlichen Aufstieg fest: Binnen weniger Jahrhunderte werden aus unbekannten Mönchen, die in ihren Klosterzellen mit der Mehrstimmigkeit oft nur auf dem Papier experimentieren, kleine Musikfürsten mit hohem Ansehen. Darüber darf man freilich nicht vergessen, dass die kunstvolle Kirchenmusik bis ins 16. Jahrhundert hinein einen Luxus darstellt, den sich nur größere Höfe und reiche Kirchen leisten können. In den Dörfern und kleineren Städten kommt davon so gut wie nichts an.

 

Auf das Zeitalter der Motette und der Polyphonie folgt ab etwa 1600 dasjenige von Konzert und Generalbass. Die Menschen erleben damals einen gewaltigen stilistischen Umbruch, der nur mit dem Übergang zur »neuen Musik« im 20. Jahrhundert vergleichbar ist. Viele Musikforscher lassen hier die Neuzeit der Musikgeschichte beginnen.

Schauen wir noch einmal zurück: Die Motette und alle andere mehrstimmige Musik wurden in der Regel von einer kleinen Schola aufgeführt, die sich aus Mönchen und Sängerknaben zusammensetzte. Text und Melodie las man gemeinsam aus einem großen, im Altarraum aufgestellten Chorbuch ab. Musikinstrumente wirkten, wenn überhaupt, in untergeordneter Funktion mit.

Die »Schola cantorum«, wie man dieses liturgische Ensemble nannte, sang zwar auch zur Freude und Erbauung der Zuhörer, vorrangig aber zur Ehre Gottes. Es war deshalb nicht von entscheidender Bedeutung, ob die Zuhörer dem komplizierten polyphonen Gewebe der Motette wirklich folgen konnten; wichtig war, dass überhaupt kunstvolle Musik erklang.

Man kann in diesem Zusammenhang an die farbigen Kirchenfenster eines gotischen Domes denken, die manchmal so hoch oben oder an so versteckter Stelle angebracht sind, dass kein Kirchenbesucher die abgebildeten Motive im Detail erkennen kann. Gleichwohl sind diese Fenster mit großer Kunst und Sorgfalt angefertigt und keineswegs nutzlos: Wie der Gesang der Schola dienen sie dem Lob Gottes – nicht anders als jeder schön gewachsene Baum, jedes zweckmäßig geschaffene Tier, das durch seine bloße Existenz Gott lobt.

Während die Sänger der Schola Generation um Generation ihren Dienst verrichten, bricht allmählich eine neue Zeit herein: die Renaissance. Wörtlich übersetzt heißt das »Wiedergeburt«; und wiedergeboren werden soll die vorchristliche Ära der alten Griechen und Römer. In jener Zeit, so meinten die Menschen in der Renaissance, lief nicht alles in bloßer Andacht und allein zur Ehre Gottes ab. Es dominierte vielmehr eine »weltliche« Kunst, in welcher der Mensch sich in seiner eigenen Würde und mit seinen eigenen Fähigkeiten abbildete.

Ein typischer Renaissance-Künstler ist Leonardo da Vinci: Von ihm stammt nicht nur das bekannte Abendmahl, also eine biblische Szene, sondern auch das »weltliche« Porträt der Mona Lisa. Und er hat allerlei interessante Erfindungen gemacht, die zeigen, wie der Mensch durch kluge Planung seine Umwelt beherrschen kann.

Nun ist die Musik eine besonders traditionsverhaftete, geradezu langsame Kunst. Als sie sich um 1600 den Ideen der Renaissance mit Entschiedenheit öffnet, ist in den anderen Künsten schon fast alles vorbei. Doch jetzt dreht die Musik auf: Sie will ebenfalls nicht länger nur dienen, nur den Gottesdienst zieren. Zunehmend entstehen Werke, die für das weltliche Leben gedacht sind und unmittelbar das Gefühl ansprechen sollen. Außerdem versuchen sich die Komponisten mit Erfolg an reiner Instrumentalmusik.

Anstatt wie die Mönche früherer Generationen zu sagen: »In erster Linie machen wir eine komplizierte Kunst zur Ehre Gottes; in zweiter Linie achten wir darauf, dass sie schön klingt«, fordern sie umgekehrt: »Vor allem soll unsere Musik schön klingen und zu Herzen gehen; dass wir damit zugleich Gott ehren, versteht sich dann von selbst!« Den damals entstehenden Stil wird man später »Barock« nennen; hervorgegangen ist er aus dem Wunsch, Renaissance-Ideen nachzuholen.

Wie gesagt, werden jetzt zwei Kategorien wichtig: Konzert und Generalbass. »Konzert« wird meist mit »Wettstreit« übersetzt. Beim Klavierkonzert etwa »misst sich« der Solist mit dem Orchester; um 1600 aber geht es erst einmal um den »Streit« von zwei Vokalchören, und die frühesten Belege dafür stammen aus dem Markusdom von Venedig. Die »moderne« Kirchenmusik wird dort nicht mehr durch die Schola im Altarraum aufgeführt, sondern von zwei auf unterschiedlichen Emporen postierten Chören – manchmal sind es sogar vier Chöre auf vier Emporen. Sie singen sich wechselseitig zu: Der eine Chor beginnt laut, der andere antwortet leiser. Der eine wird von Violinen begleitet, der andere von Posaunen. Und manchmal wird ein Chor ganz durch ein Instrumental-Ensemble ersetzt.

Eine solche Musizierpraxis hat zwar Vorbilder in der Psalmodie; vor allem aber kommt sie aus der Volksmusik und vom geselligen Singen her: Die Gruppe der Frauen singt eine Strophe, die Männer antworten mit einer anderen. Oder: Ein Vorsänger beginnt, die übrigen Chormitglieder folgen. Die Struktur derartiger Musik ist vergleichsweise einfach und »natürlicher« als die einer Motette. Zumal viele prächtige Instrumente hinzukommen, macht das Ganze auf die Hörer einen zauberhaften Eindruck.

Es ist kein Zufall, dass diese konzertante Mehrchörigkeit ihre erste Blüte im Stadtstaat Venedig erlebt hat. Zum einen steht dort wegen des florierenden Überseehandels so viel Geld zur Verfügung wie nirgendwo sonst; man kann daher problemlos eine größere Truppe von Berufsmusikern bezahlen. Zum anderen bedarf es, um auswärtigen Besuchern zu imponieren, repräsentativer Staatsakte.

Man stelle sich vor, die Stadtregierung hätte die zwei japanischen Prinzen, die 1585 mit ihrem Gefolge zu einem offiziellen Besuch eintreffen, in der Staatskirche von San Marco mit einer zwar kunstvollen, aber auch schwer verständlichen Motette begrüßt, vorgetragen von einer kleinen Schola im Altarraum. Das hätte gewiss weniger Eindruck gemacht als das schon fast plakativ einfache, jedoch höchst effektvolle Musizieren eines modernen vokal-instrumentalen Ensembles. Mit vier Chören sei für die japanischen Gäste musiziert worden, schwärmt noch achtzig Jahre später der Chronist Francesco Sansovino: »Eine neue Bühne wurde für die Sänger errichtet. Zu den beiden bereits vorhandenen Orgeln kam eine dritte; und die anderen Instrumente machten die schönste Musik – mit Hilfe der besten Sänger und Musiker, die man in der Gegend finden konnte.«

Allerdings lässt sich die Gattung des geistlichen Konzerts nicht allein aus dem Wechselspiel zwischen vokal-instrumentalen Chören oder zwischen einem Chor und einem oder mehreren Solisten erklären. Auch ist es nicht mit dem Hinweis getan, dass eine dem Tanz nahestehende Metrik die Fasslichkeit von Kunstmusik begünstigt. Den Erfolg bringt besonders die neue Dur-Moll-Harmonik. Diese operiert bevorzugt mit der Kadenz, die von den Dreiklängen über der ersten, vierten und fünften Stufe (I – IV – V – I) gebildet wird.

Vor allem die Kadenzharmonik ist es, welche eine Komposition im modernen Sinne »spannend« macht. Zu ihrer klanglichen Umsetzung bedient man sich des Generalbasses, also einer Instrumentengruppe, welche die Komposition mit einer kontinuierlichen Folge von Akkorden »begleitet«. Dafür finden damals harmoniefähige Instrumente wie Orgel, Cembalo und Laute Verwendung; zur Verstärkung des Bassfundaments geht oft ein tiefes Streich- oder Blasinstrument mit.

Die vom »Basso continuo« realisierte Dur-Moll-Harmonik kann man mit einem Koordinatensystem vergleichen, das es dem Hörer erleichtert, in einem Musikstück die Orientierung zu behalten, auch wenn kühne harmonische Gänge über Höhen und durch Tiefen oder gar auf Abwege führen. Nicht zu Unrecht hat man ihre Entdeckung mit derjenigen der Zentralperspektive in der Malerei verglichen.

Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verändert die Gattung »geistliches Konzert« ihr Aussehen kontinuierlich. In Deutschland geht man bald zu kleineren, solistischen Besetzungen über – nicht zuletzt im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges, der das Musikleben auf eine fast unvorstellbare Weise zum Erliegen bringt. Dennoch sind viele Tausende geistliche Konzerte geschrieben worden – unter anderem von Heinrich Schütz, dem bedeutendsten deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts, und von Dietrich Buxtehude, dem schon erwähnten Lübecker Lehrer Johann Sebastian Bachs.

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