Letzte-Hilfe-Kurs

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Hinführung
Was machen die Toten mit uns Lebenden?

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Wenn wir als Besucher in einem Krankenhaus sind, gehört es zum gewohnten Bild, in den Gängen Patienten in Krankenbetten zu erblicken. Ohne nennenswerte Empfindung gehen wir an diesen bettlägerigen Menschen vorüber. Wagen wir folgendes Gedankenexperiment: Bedecken wir eine Person in einem solchen Krankenbett komplett mit einem Leintuch, das die Silhouette des Körpers erkennen lässt. Unweigerlich assoziieren wir bei diesem Anblick, dass sich darunter eine Leiche befinden muss.

Von welchen Gefühlen und Gedanken begleitet passieren wir nun dieses Krankenbett? Manche von uns würden sich ihm nicht mehr nähern wollen und der Rest würde vermutlich mit einem unbestimmten, mulmigen Gefühl vorbeigehen oder sogar erschaudern.

Bevor wir uns weiter in die Thematik vertiefen, ist eine Begriffserklärung hilfreich, weil die Begriffe „Sterben“ und „Tod“ oft gleichwertig gebraucht werden. Sterben findet noch im Leben statt, es ist sozusagen die letzte Phase zwischen Sein und Nicht-mehr-Sein. Mit einem sterbenden Menschen können wir vielleicht noch sprechen. Nüchtern festgestellt: „Sterben ist nicht mehr, wenn ein Toter vor uns liegt.“3 An die Stelle von Leben ist der Tod getreten und das verändert unsere Wahrnehmung und Empfindung völlig. Wir sehen daran auch, wie schwierig oder vielleicht unmöglich es ist, den Tod eines geliebten Menschen gedanklich vorwegzunehmen, auch wenn wir um den nahenden Tod wissen, den geliebten Menschen vielleicht sogar im Sterbeprozess begleiten. Es ist ganz etwas anderes, wenn er dann tatsächlich tot vor uns liegt: stumm, blicklos, zu nichts mehr zu bewegen. Wir können dieses als „Leichenparadoxon“4 bezeichnete Phänomen kaum fassen. Was ist da jetzt eingetreten? Was ist jetzt verschwunden, was gerade eben noch da war?

In meiner Tätigkeit als Bestatter begleitete ich viele Hinterbliebene dabei, wenn sie sich am offenen Sarg von ihrem verstorbenen Angehörigen verabschiedeten. Auch wenn die Betroffenen den geliebten Menschen bereits in der Sterbephase bis zum letzten Atemzug begleitet haben, kann die Begegnung zwei, drei Tage später am offenen Sarg noch einmal eine tiefere Dimension des Realisierens der Endgültigkeit und Unwiederbringlichkeit eröffnen. So war eine häufige, spontane Reaktion beim ersten Blick auf ihren toten Anverwandten die Aussage: „Das ist er nicht mehr!“

In der weiteren Betrachtung noch ein paar philosophische Klimmzüge, worauf uns der tote Körper hinweist. Er konfrontiert uns mit der unglaublichen Macht des Todes. Die zugreift, entreißt, gegenüber der wir nichts ausrichten können. Wir können noch so viel Technik benützen und Wissenschaft betreiben, letztlich werden wir alle zu einem Leichnam. Und da stehen wir schon vor dem nächsten Problem: Wir wissen, dass wir sterben werden, aber wir haben über diesen Tod keinen Erkenntnisgewinn. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, tot zu sein, wir können nur glauben. Bei Nahtoderfahrungsberichten muss man vorsichtig sein: Denn wer per definitionem tot ist, kann nachher nicht erzählen, wie es war. Das war etwas anderes, ein naher Tod, aber eben nicht nah genug. Das eine schließt das andere immer kategorisch aus. Solange ich vom Tod reden kann, habe ich ihn noch nicht erfahren – und umgekehrt. Diese Tatsache nennt sich die „Widersprüchlichkeit der Todeserfahrung“.5

Natürlich können wir ein Bild von unserem Totsein imaginieren. Wir können im Geiste unsere Traueranzeige formulieren und uns unseren Körper regungslos in einem Sarg, samt den weinenden Angehörigen rundherum, vorstellen. Doch wann immer wir uns ein Bild unseres toten Körpers in der Phantasie machen, sind wir als die, welche sich dieses Bild gerade machen, anwesend. Kurzum, wir schauen mit Bewusstsein auf etwas, dessen Bewusstsein zum Stillstand gekommen ist. Der Tod fügt sich nicht der Wissenschaft, nicht der Rationalität, er ist unerklärlich – und wir können ihm nicht entkommen.6

Wenn man einen toten Körper länger bewusst betrachtet, schlägt uns diese atemlose Unfassbarkeit entgegen, dass sich da nichts mehr bewegt – der Brustkorb steht still. Wir ahnen, das könnte auch unserem Bewusstsein passieren. Wie ein traumloser Schlaf oder der Zustand vor der Geburt. Wo waren wir da? Wir wissen es nicht. In der Begegnung mit Verstorbenen werden wir damit konfrontiert. Das passiert nicht bewusst, aber diese Gegenüberstellung drückt sich oft in den so schwierig einordenbaren und benennbaren Emotionen aus, die man Verstorbenen gegenüber haben kann. Der Leichnam ist das verkörperte Memento mori: „Sei dessen eingedenk, dass auch du sterben wirst.“ Er konfrontiert uns auch mit der Unverfügbarkeit des Lebens. Wir haben unser Leben und das unserer Lieben nicht in der Hand. Eine Sekunde reicht, und alles ist für immer anders.

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Gerade noch hat er den Rasen gemäht und zu seiner Frau gesagt, dass er schnell ins Altstoffsammelzentrum fährt, um den Grünschnitt zu entsorgen, und dann liegt er schwer verletzt im Kreisverkehr, wird vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht und stirbt im Schockraum. Er hat noch seine Arbeitshose an, die nach Rasenmäherbenzin riecht, vermengt mit dem Geruch vom frischgeschnittenen Gras. Am Abend wäre er zum Sechziger bei seinem Schwager eingeladen gewesen und nächstes Jahr hätte auch er einen runden Geburtstag gefeiert.

Wir leben in einer Illusion, in einer Blase. Wir meinen oft, wenn wir ein bisschen aufpassen und gesund leben, werden wir mit unseren Lieben alt. Diese Blase bekommt feine Risse, wenn in unserem näheren Umfeld Nachrichten über plötzliche Tode einschlagen. Das könnte auch ich, meine Tochter oder mein Vater sein … Dieses Gewahrwerden der Unverfügbarkeit des Lebens drückt sich in der Sorge um unsere eigenen Angehörigen aus. Man schickt der Tochter schnell eine Nachricht, ob alles passt und ob es ihr gut geht. Und ist erleichtert, wenn sie sich meldet: „Mama, was ist denn mit dir los?“

DIE STRAHLKRAFT DER LEICHE

Wir können also den Tod weder begreifen noch erfahren, aber müssen mit dem offensichtlichsten Zeugnis des Todes umgehen – der Leiche. Diese können wir im wahrsten Wortsinn begreifen und erfahren. „Wir erfahren Tote, keinen Tod.“7 Aus der langjährigen Praxis in der Begleitung Betroffener als Bestatter und den unzähligen Berichten in Seminaren und bei Vorträgen sowie aus der wissenschaftlichen Feldforschung mit Leichenberufen lässt sich feststellen, dass die Begegnung mit dem toten Körper für viele eine mehr oder weniger große Herausforderung ist. Für manche Menschen bedeutet es schon eine Überwindung, einen Raum zu betreten, in dem ein Toter liegt. Die meisten Pflegekräfte werden sich gut daran erinnern können, wie es sich anfühlte, als sie erste Mal in ihrer Berufskarriere in ein Zimmer mit einem verstorbenen Patienten hineingingen. Auch die Angehörigen können sich damit im ersten Moment schwertun. Die Füße können plötzlich bleiern werden, man steht wie gelähmt vor der Tür.

AUS DER PRAXIS

Eine Frau wollte sich nach dem Tod ihres Mannes noch einmal leiblich von ihm verabschieden. Wir hatten vereinbart, dass sie um 10 Uhr vormittags zu mir in die Bestattung kommt. Im Verabschiedungsraum hatte ich alles vorbereitet, der Sarg war offen, der Leichnam des Mannes schön hergerichtet. Die Frau kam pünktlich, ich empfing sie und lud sie noch zu einem Kaffee ein, bei dem wir darüber sprachen, wie es ihr gerade ging. Dann machten wir uns auf den Weg zum Verabschiedungsraum. Gerade als ich die Tür öffnen wollte, griff die Frau nach meiner Hand und sagte: „Nein, bitte warten Sie, ich trau’ mich nicht!“

Ihre Angst vor den eigenen Emotionen war für mich verständlich: „Was passiert mit mir, wenn ich da jetzt meinen verstorbenen Mann im offenen Sarg liegen sehe?“ Und möglicherweise eine weitere Dimension: „Wenn ich ihn jetzt so im offenen Sarg liegen sehe, ist der Tod wirklich wahr.“ „Wir haben alle Zeit der Welt, nur nichts übers Knie brechen, das Begräbnis ist erst in vier Tagen“, sagte ich zu ihr, „wann immer Sie es versuchen möchten, können Sie das.“ Wir haben dann noch einen Kaffee getrunken – doch auch beim zweiten Anlauf war es ihr nicht möglich. Letztendlich machte sie einen Spaziergang und beim vierten Versuch, es war bereits früher Nachmittag, gingen wir hinein. Sie war hinterher sehr froh, ihren Mann nochmals gesehen und berührt zu haben.

Andere wiederum können zwar in einen Raum hineingehen, wo ein Verstorbener liegt, aber sie tun sich schwer, ihn zu berühren. Das kostet oft eine große Überwindung, gerade beim ersten Mal. Nicht wenige Berufskräfte, die mit Verstorbenen umgehen müssen, berichten darüber, dass etwas an ihnen „haftet“, wenn sie Verstorbene berührt haben. Obwohl sie Handschuhe getragen haben, überfällt sie nachher das Gefühl, sie wären „verunreinigt“, und sie haben das Bedürfnis, sich die Hände mehrmals zu desinfizieren oder gar die Dienstkleidung zu wechseln oder ausgiebig zu duschen.

Ein Sanitäter in einem Tagesseminar schilderte mir einmal, wie er gemeinsam mit dem Notarzt versucht hatte, einen Familienvater nach einem plötzlichen Herztod wiederzubeleben – leider erfolglos. Der Tote lag auf dem Wohnzimmerboden, die beiden wollten ihn auf die Couch betten. Um ihn leichter hinaufbefördern zu können, zog der Sanitäter den Mann zuerst auf seine Oberschenkel. Den ganzen restlichen Tag habe er dann das Gefühl gehabt, es hafte etwas an seiner Hose, das sich nicht abstreifen ließ.

All das sind doch ziemlich heftige „Anrührungen“, die da in uns auftauchen können. Woher kommen sie?

 

DAS LEICHENTABU – EINE SPURENSUCHE

In allen Kulturen existiert ein Phänomen, das überaus wirksam und deutlich beobachtbar ist: das sogenannte Leichentabu. Ethnologen und Kulturwissenschaftler gehen davon aus, dass die Entstehung solcher Tabuvorschriften weit in die Menschheitsgeschichte zurückreicht und wesentlich älter als etwa die Entwicklung von Normen ist. Ihre Entstehung reicht wahrscheinlich sogar in die Zeiten vor der Entstehung von Religionen und Gottheiten zurück. Wie schon Sigmund Freud in seinem Werk „Totem und Tabu“ vermutet, dürfte es sich bei Tabus wie dem Leichentabu um die ältesten Gesetzeskodizes des Menschengeschlechtes handeln.8 Dieses Erbe schlummert nach wie vor in uns. In der konkreten Begegnung mit dem Leichnam kann dieses Leichentabu in uns wiedererwachen.

Wenn die Menschheit etwas mit einem Tabu belegt, steht eine tiefere Absicht dahinter. Die Idee hinter dem Leichentabu dürfte sein, uns vor Bedrohung und Gefahr zu schützen, als könnte man sich gerade und besonders durch Berührung eines Leichnams mit dem Tod in irgendeiner Weise „anstecken“. Darum ist das Leichentabu in erster Linie ein Berührungsverbot. Wenn nun manche Menschen diffuse, rational unklare, hemmende Empfindungen bei der Berührung eines toten Körpers haben, könnte das sozusagen bereits die erste Strafe für diesen archaischen Tabubruch sein: „Du tust da jetzt etwas, was du nicht tun darfst, und darum geht es dir nicht gut dabei.“ Es wird in diesem Moment das in uns schlummernde, dem Rationalen verborgene Leichentabu wieder zum Leben erweckt.

Bleiben wir noch kurz bei dieser Theorie: Wenn die Idee hinter dem Leichentabu die ist, dass wir uns durch Berührung mit dem Tod, der diesen Leichnam umgibt, anstecken, könnten wir diesen Tod ja auch übertragen. Darum folgt die zweite Strafe für diesen Tabubruch auf dem Fuß: Sie kommt aus unserem Umfeld und ist sozialer Natur, weil der Tabubrecher selbst zum Tabu wird. Er wird mit dem Abbruch sozialer Kommunikation bestraft. Ich könnte mehrere Bücher darüber schreiben, wie das soziale Umfeld mit jemandem umgeht, der einen Leichenberuf ausübt. Dazu eine Schilderung aus eigener Erfahrung.

AUS DER PRAXIS

Ich fuhr mit dem Leichenwagen durch die Innenstadt und musste an einer roten Ampel halten. Direkt neben meinem Seitenfenster sah ich eine gute Bekannte. Ich begrüßte sie und wir plauderten einen kurzen Moment, bis die Ampel auf Grün sprang. Neben ihr war eine mir unbekannte Dame gestanden. Wochen später traf ich meine Bekannte erneut und sie erzählte mir, dass sie wie jedes Jahr auch heuer wieder eine große Nikolausfeier plane und dabei auch ein Nikolaus auftreten solle, um die Kinder zu beschenken. Leider habe gerade ein Freund, der den Nikolaus mimen sollte, abgesagt. Sie überredete mich, ihn zu vertreten.

Nach meinem Auftritt bei der Feier begleitete sie mich hinaus und berichtete mir für mich im ersten Moment Unglaubliches: Als wir uns vor Wochen an besagter Kreuzung getroffen hatten, war ihre Schwester dabei gewesen – die von mir wahrgenommene unbekannte Dame. Als ich wieder losgefahren war, sei diese in heller Aufregung gewesen: Wie meine Bekannte es wagen könne, mit einem Bestatter, der im Leichenwagen sitzt, zu reden, wie furchtbar dies alles sei. Als sie dann später erfuhr, dass ich an der Nikolausfeier teilnehmen würde, sagte sie ihre Teilnahme ab. Ich versuchte noch einige Zeit nach dieser Begebenheit, in Kontakt mit der Schwester zu kommen. Zu gerne hätte ich mehr über deren Gefühle und Beweggründe erfahren, sie zur Reflexion eingeladen, doch eine solche Gelegenheit kam nicht zustande.

Auch in Altersheimen reichten manche Pflegekräfte uns Bestattern zur Begrüßung nicht einmal die Hand, mit der ernstgemeinten Begründung: „Was ihr alles angreift!“ Als würde sich etwas auf unseren Händen befinden, das wir „übertragen“ könnten. Manche Leser mögen jetzt einwenden, das sei doch übertrieben. Denn auch Pflege- oder Einsatzkräfte berühren Tote und brechen somit das Leichentabu. Tatsächlich wird das diesen Berufsgruppen nicht passieren, denn sie haben eine andere Rolle: Es geht darum, Leben zu erhalten, zu schützen, zu hegen und zu pflegen. Da kann einmal der Tod „passieren“, aber in so einem Fall desinfizieren und waschen sie sich, ziehen sich um, gehen nach Hause und für die Umwelt ist das erledigt. Die Berufe hingegen, deren primäre Tätigkeit es erfordert, das Leichentabu ständig zu brechen, können sich nicht „reinwaschen“.

Wir sehen dies wunderbar daran, wie die Allgemeinheit über die verschiedenen Berufsgruppen redet. Zu Pflegekräften sagt man: „Was ihr alles macht, was ihr alles aushalten müsst! Ihr begegnet ja auch immer wieder dem Tod, dass ihr das tun könnt, ist schon eine Leistung – Hut ab!“ Über Berufsgruppen, die nur mit Leichen zu tun haben, sagt man – bezeichnenderweise in der dritten Person: „Na ja, geben muss es sie, aber ganz ehrlich, ganz dicht können die nicht sein, weil sonst kann man das ja nicht machen.“ Wenn ich mit Pflegekräften aus einem Krankenhaus mit einer Pathologieabteilung ein Seminar halte, sage ich gerne: „Nun, der Kellerprimar (also der Obduktionsassistent) ist schon irgendwie ein Kollege, aber beim Mittagessen muss man auch nicht mit ihm an einem Tisch sitzen, oder?“ Dies wird immer halb scherzhaft, halb ernst bestätigt. „Hoffentlich hat er sich die Hände desinfiziert“, gestehen sie dann freimütig ein.

Gibt es ein Leichengift?

In unserer Kultur, in der die Medizin die Deutungsmacht über den Tod innehat, er also eher rational interpretiert wird, wird der Leichnam auf dieser biologisch-stofflichen Ebene stark vergefährlicht. Ein Mythos, der sich in diesem Zusammenhang hartnäckig hält, ist der des Leichengifts. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass, sobald der Tod eingetreten ist, im toten Körper sofort Stoffe entstehen, die für uns Lebende gefährlich, ansteckend, giftig sein könnten. Eine gut beobachtbare Folge davon ist: Überall wo es einen Leichnam gibt, kommen überbordende Hygienemaßnahmen zum Einsatz. Wie irrational der Umgang mit dem Leichnam mitunter ist, zeigen die folgenden Beispiele:

Ein junger Mann berichtete mir:

Wir haben unseren Opa zu Hause gepflegt und dazu auch ein Pflegebett von einer Firma gemietet. Als er starb, riefen wir die Firma an und sagten: ,Das Pflegebett ist wieder frei.‘ Daraufhin fragte die Firma nach, ob er in dem Pflegebett gestorben sei oder nicht. Warum sie das wissen wollten, haben wir gefragt. Weil wir dann ein anderes Hygieneprogramm anwenden müssen.’“

Das ist bemerkenswert. Der Opa kann jahrelang in diesem Pflegebett liegen. Wenn er nicht in diesem Bett verstirbt, beispielsweise weil er noch ins Krankenhaus gebracht wurde, reicht Hygieneprogramm B. Wenn er aber in dem Bett zu Hause gestorben ist, braucht es Hygieneprogramm A.

Eine Witwe erzählte:

Ich habe meinen herzkranken Mann lange daheim gepflegt. Als er im Sterben lag, bin ich von Freunden, Nachbarn, mobilen Hospiz- und Palliativleuten, von der Hauskrankenpflege und unserem Hausarzt gut unterstützt worden. Eines Morgens trat das Schlimmste ein, mein Mann verstarb. Für mich war immer klar, wenn es so weit ist, will ich ihn noch ein paar Stunden bei mir haben, ihn noch ein letztes Mal waschen und ihm dann seinen schönen Anzug anziehen. Das sei kein Problem, meinte mein Hausarzt, schärfte mir aber ein: ,Sie müssen sich dabei auf jeden Fall Handschuhe anziehen!‘ Ich war verunsichert, weil ich meinen Mann vorher immer ohne Handschuhe berührt hatte – ebenso wie der Arzt. Aber ich habe dann doch seine Anweisung befolgt und Handschuhe angezogen.

Als der Bestatter wie vereinbart zur Mittagszeit kam und meinen Mann abholte, erzählte ich ihm von den Handschuhen und fragte ihn, ob er wisse, warum der Arzt das angeordnet habe. Der Bestatter schüttelte den Kopf und meinte, er erlebe oft, dass selbst erfahrene Ärzte eine Ansteckungsgefahr‘ vermuten, ab dem Moment, in dem der Tod eingetreten sei. Berufskräfte müssten natürlich Handschuhe tragen, aber Angehörige müssten sich im Todesfall keine Handschuhe überziehen. Es sei denn, der Kranke sei infektiös gewesen, dann sei natürlich auch seine Leiche infektiös, aber da müssten die Angehörigen auch schon vorher auf Hygiene achten. ,Der Tod selbst ist ja nicht unhygienisch!‘, erklärte der junge Bestatter.“

Teilweise geistern noch andere Vorstellungen herum, die ebenfalls mit der Idee einer Ansteckungsgefahr zu tun haben: „Man darf den Sarg in der Leichenhalle nicht mehr öffnen, um sich zu verabschieden – wegen der Hygiene.“ „Einen Verstorbenen darf man auch nicht mehr für eine Weile bei sich zu Hause haben.“ Um dem Leichengift-Mythos den Stachel zu ziehen, möchte ich an dieser Stelle den Pathologen und Universitätsprofessor Hans Bankl († 2004) zitieren, eine Autorität auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin:

„Beim Eiweißzerfall entstehen im Leichnam viele beim Lebenden nicht vorkommende Substanzen. Diese stinken zwar, ihre Bezeichnung als ,Leichengifte‘ ist jedoch irreführend, da es spezielle Leichengifte nicht gibt. Eine lebensbedrohende Giftwirkung kommt diesen Stoffen nicht zu, insbesondere wirken sie weder über Hautkontakt noch über Einatmung. Lediglich bei Verschlucken (orale Aufnahme) könnte unter Umständen mit einer Wirkung ähnlich wie bei verdorbenem Fleisch gerechnet werden. Spezifische, postmortal entstehende ,Leichengifte‘ gibt es nicht. Es besteht allerdings die Gefahr einer Infektion durch Leichen von Personen, die an Infektionskrankheiten verstorben sind (z. B. Sepsis, Tuberkulose, Salmonellosen, Hepatitis, Aids u. a.).“9

In der Zeit vom Eintritt des Todes bis zum Begräbnis beziehungsweise zur Beisetzung gibt es grundsätzlich nichts zu befürchten – auch nicht, wenn wir den Leichnam berühren. Die Idee des Leichengifts ist stark verwoben mit dem Leichentabu, wie auch andere Phänomene, die wir in den nächsten Kapiteln noch zu ergründen versuchen. Die Auseinandersetzung damit ist deshalb so wichtig, weil die gesamte Dimension des Leichentabus auch in betroffenen Angehörigen, bei denen primär Trauer und Schmerz im Vordergrund des Erlebens stehen, trotzdem zum Vorschein kommen kann. Das Leichentabu kann auch das so wichtige „Begreifen“ des Todes stören.

Als Bestatter holte ich viele Verstorbene von zu Hause ab, die von ihren Angehörigen jahrelang gepflegt worden waren. Aber sobald der Tod eingetreten war, berührten sie den Leichnam nicht mehr, bis wir eintrafen. Die erste Frage an uns war dann meistens: „Darf ich die Oma noch anfassen? Darf ich ihr noch einen Kuss geben?“ „Selbstverständlich!“, lautete dann immer meine Antwort.

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