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Goethe Rede zum Schäkespears Tag (1771)
Wie aktuell GoethesGoethe, Johann Wolfgang Rede zum Schäkespears TagRede zum Schäkespears Tag ist, dokumentiert ein 2009 erschienener Sammelband mit repräsentativen Texten verschiedener Sturm-und-Drang-Sturm und DrangDichter, die von Autorinnen und Autoren der Gegenwart genau oder assoziativ kommentiert werden. Judith KuckartKuckart, Judith hat sich Goethes Rede zum Schäkespears Tag ausgewählt: „Leben wird schreibend zum Material, das sich nur widerspenstig öffnet, auch wenn man es bestürmt und bedrängt. ShakespeareShakespeare, William hat jenes Lebens-Material ebenfalls verwendet, mit kriminellen Energien aufgeladen, und danach die Figuren einer erschriebenen Welt ausgeliefert, die nicht besser ist als die, in der wir täglich leben.“1 Beim jungen Goethe wird die Literarisierung des Lebens als ästhetisches Konzept wie auch als Lebensmodell auf den Weg gebracht, seine Shakespeare-Rede ist ein frühes Dokument davon.
In die Zeit seines Straßburger Aufenthalts fällt Goethes Begegnung mit Herder. Sie wird als der Beginn der Literatur des Sturm und Drang gewertet. Unbestritten übt der ältere HerderHerder, Johann Gottfried, der sich von September 1770 bis April 1771 in Straßburg aufhält, großen Einfluss auf Goethe aus. Herder war als Autor schon hervorgetreten, hatte 1766/67 Über die neuere deutsche Literatur. FragmenteÜber die neuere deutsche Literatur und 1769 die Kritischen WälderKritische Wälder veröffentlicht. Er öffnete Goethe das grundlegende Verständnis für HomerHomer, PindarPindar und OssianOssian. Ihm ist es auch zu verdanken, dass Goethes Neigung für Volkslieder geweckt, sein Interesse an Bau- und Architekturgeschichte vertieft und sein ästhetisches Denken grundlegend gefestigt wird. Zwölf Volkslieder hat Goethe bei seinen Streifzügen durchs Elsass gesammelt, wie auch Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold Volkslieder gesammelt hat, die aber nicht erhalten sind; so schreibt dieser etwa in seinem Brief an den Straßburger Aktuar SalzmannSalzmann, Johann Daniel Anfang August 1772: „Ich habe einen vortrefflichen Fund von alten Liedern gemacht […]“2. Ein neunstrophiges Volkslied, dessen ältester Teil bis auf eine Nürnberger Liedersammlung von 1586 zurückreicht, arbeitet Goethe in ein eigenes, volksliedhaftes Gedicht um, das bekannte HeidenrösleinHeidenröslein mit den Anfangszeilen „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn / Röslein auf der Heiden“3. Das Anliegen HerdersHerder, Johann Gottfried, der das Wort Volkslied in die deutsche Sprache einführte, galt der Sammlung alter Volksdichtung, freilich mit weltliterarisch-ethnografischem Anspruch, die er als VolksliederVolkslieder 1778/79 veröffentlichte und worin er drei Volkslieder, die GoetheGoethe, Johann Wolfgang gesammelt hatte, abdruckte: Das Lied vom Herrn von FalkensteinDas Lied vom Herrn von Falkenstein, Das Lied vom jungen GrafenDas Lied vom jungen Grafen und Das Lied vom eifersüchtigen Knaben.Das Lied vom eifersüchtigen Knaben
Nach Frankfurt zurückgekehrt, beantragt Goethe zwar die Zulassung als Rechtsanwalt, führt aber insgesamt nur 28 Prozesse, und dies auch eher nebenbei. Sein Hauptinteresse gilt der Literatur, ganz besonders einem Literaten, der zur Ikone der jungen Autorengeneration wird, William ShakespeareShakespeare, William (1564–1616). Am 14. Oktober 1771 finden aus Anlass des 155. Todestages Shakespeares Feiern in Goethes Elternhaus und in Straßburg statt. Goethes Rede zum Schäkespears Tag wird in seinem Elternhaus vorgelesen, fraglich bleibt, ob Goethe selbst seinen eigenen Text rezitiert hat. Im September 1771 schreibt er diese Rede, das Manuskript (oder eine Abschrift davon) schickt er unverzüglich nach Straßburg. Ob die Rede dort auch in der SalzmannSalzmann, Johann Danielschen Gesellschaft zum Vortrag gelangt, da sie immerhin auf Straßburger Details anspielt, ist nicht mehr festzustellen. Erst 1854 wird Goethes Text gedruckt.
„Mir kommt vor, das sei die edelste von unsern Empfindungen, die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint. Dieses Leben, meine Herren, ist für unsre Seele viel zu kurz, Zeuge, daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste, eher alles müd wird, als zu leben; und daß keiner sein Ziel erreicht, wornach er so sehnlich ausging – denn wenn es einem auf seinem Gange auch noch so lang glückt, fällt er doch endlich, und oft im Angesicht des gehofften Zwecks, in eine Grube, die ihm, Gott weiß wer, gegraben hat, und wird für nichts gerechnet.
Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“4
Nach einer knappen Einleitung beginnt der Text mit diesen Worten. Goethe setzt damit gleich eine Individualitätsmarke. Es geht zwar oberflächlich um Shakespeare – obwohl Goethe mit keinem Wort auf einen der Texte Shakespeares zu sprechen kommt oder ihn zitiert –, in der Tiefenskriptur handelt der Text aber ausschließlich von Goethe selbst. Nicht ohne Grund hat man diesen Aufsatz bzw. diese Rede auch als ein Sendschreiben an die (noch interne) literarische Öffentlichkeit oder auch als Programmschrift des Sturm und DrangSturm und Drang gelesen. Er dient vornehmlich der Selbstvergewisserung, das macht schon der Bildbereich deutlich, den GoetheGoethe, Johann Wolfgang rednerisch geschickt ausschöpft: Große Schritte, unendlicher Weg, stärkster Wanderertrab, Siebenmeilenstiefel, Schritte, Tagesreise, emsiger Wanderer, gigantische Schritte, Fußstapfen, Schritte, abmessen, Reise, Tapf, größter Wanderer – das sind innerhalb von 13 Zeilen die verwendeten Metaphern. Man solle sich auf die Reise begeben, ruft er seinen Lesern zu, die in erster Linie seine Kommilitonen und Autorenkollegen sind. ShakespeareShakespeare, William vergleicht er mit dem größten Wanderer, dem sich zu nähern das Ziel der Reise sei. Diesen Reiseappell wird Goethe auch selbst im darauffolgenden Jahr wörtlich nehmen. Er pendelt zwischen Frankfurt, Darmstadt und Homburg, er schreibt unterwegs Hymnen, er zelebriert Naturerlebnisse. All das findet seinen literarischen Niederschlag in dem Gedicht Wanderers SturmliedWanderers Sturmlied5 und in dem lyrischen Dialog Der WandrerDer Wandrer6, die neben ihren Naturbeschwörungen vor allem auch durch das darin ausgedrückte literarische Selbstbekenntnis wichtig geworden sind. In Wanderers Sturmlied heißt es, „ich wandle Göttergleich“7 und „ich schwebe […] Göttergleich“8, im Wandrer ist gar vom „Götterselbstgefühl“9 die Rede. Damit charakterisiert Goethe bereits die exklusiv-genialische Lebenshaltung der Sturm-und-Drang-Autoren, die zu einer ebensolchen Schreibhaltung sich weitet. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold wird einige Jahre später in seinem Lied zum teutschen TanzLied zum teutschen Tanz von ca. 1776 bekennen: „Frei wie der Wind / Götter wir sind“10.
Die Bedeutung der Natur für GoetheGoethe, Johann Wolfgang trat schon im Gedicht MaifestMaifest mit den Anfangszeilen „Wie herrlich leuchtet / mir die Natur!“11 aus der Straßburg-Sesenheimer Zeit hervor. Natur und Liebe stifteten hier eine neue Identität. Doch nun, im Schäkespears-Aufsatz, wird Natur nicht besungen, also literarisiert, sondern programmatisch gefordert. „Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen.“12
ShakespeareShakespeare, William wird unmissverständlich als Identifikationsziel benannt. Die Entschlossenheit, aufzubrechen und Neues zu wagen, ist offensichtlich. Ordentlich schreiben, so wehrt Goethe die Erwartungen ab, werde er nicht, und das heißt, er wird nicht in der Ordnung aufgeklärten Denkens schreiben. Sprunghaft, assoziativ, rhapsodisch – wie man es zeitgenössisch auch nannte – ist sein Text, nicht aus Mangel an Überlegung, sondern im Sinne einer demonstrativen Schreibgeste. Gegen die „Herrn der Regeln“ richten sich seine Worte, „Fehde“13 kündigt er den poetischen und ästhetischen Konventionen an, unverbrüchliche Normen will er aushebeln:
„Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft, und fühlte erst daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo da ich sahe wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte, und nicht täglich suchte ihre Türne zusammen zu schlagen.“14
Kein Zweifel, die Shakespeare-Lektüre ist für den jungen Goethe der Beginn einer literarischen Weichenstellung. Die Literatur Shakespeares verschafft ihm das, was ihm selbst noch mangelt, nämlich die entschlossene und konfliktbereit nach außen getragene literarische Identität. Goethes Schreiben drängt vehement auf Öffentlichkeit. Er wusste zwar schon, dass er Autor ist, nun weiß er aber, was für ein Autor er ist. Bei der Erklärung dieser Zusammenhänge verwendet Goethe ein sehr aufschlussreiches Bild. Er fühle sich als ein Blindgeborener, fährt er fort, der durch die Lektüreerfahrung Shakespeares plötzlich sehen kann. Goethe wörtlich: „Ich erkannte, ich fühlte“15; Erkennen und Fühlen sind eins, die Patenschaft Herders ist unverkennbar. Das ungewohnte Licht des neuen Denkens und Fühlens mache ihm die Augen schmerzen. „Nach und nach lernt ich sehen“16, so beschreibt er diesen Zustand der wachsenden ästhetischen Erfahrung. Wenig später erklärt er, der zeitgenössische, herrschende Geschmack verneble die Augen von Autoren wie Lesern derart, dass man eine „neue Schöpfung“17 benötige, um aus dieser Finsternis herauszufinden. GoetheGoethe, Johann Wolfgang kündigte sich mit diesen Worten selber an. Zeitgleich zum SchäkespearsRede zum Schäkespears Tag-Aufsatz entsteht übrigens auch die erste Fassung des Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen.
Doch diese Textpassage insgesamt ruft weitere Bedeutungsbilder auf. Einmal schließt sie sich an das bereits verwendete Bild von Dunkelheit und Helle an. Sie bewahrt damit dem Text den Bedeutungsbezug von ShakespeareShakespeare, William als dem Lichtbringer, eine übrigens ausgesprochen originelle Variante zur zeitgenössischen Lichtsymbolik, wonach die AufklärungAufklärung im Sinne von Klarheit als Licht der Erkenntnis verstanden wird, während Shakespeare in dieses Thema keineswegs passt. Zum anderen spielt sie auf die in diesen Jahren in den Kreisen der jungen Autoren äußerst populäre Vorstellung vom Dichter als dem ‚second maker‘ an. Der Dichter als Schöpfergott erschafft sich eine, nämlich seine eigene neue Welt, auch sie entsteht, wie die Welt des göttlichen Schöpfers, aus der Finsternis. In England wurde die Diskussion über das Wesen des Genies durch ShaftesburyShaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of – von dem auch die Formel ‚second maker‘ stammt18 –, AddisonAddison, Joseph und YoungYoung, Edward populär. Den Begriff Genie kennt Goethe natürlich schon, nur hat er ihn noch nicht exemplarisch in sein ästhetisches Denken implementiert, obwohl er etwa in seinem Brief an BehrischBehrisch, Ernst Wolfgang vom 16. Oktober 1767 schreibt: „Es ist eine schöne Sache um’s Genie“19; da er aber den Brief mit den Worten abschließt, „ich binn besoffen wie ein Bestie“20, sind leise Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Genieäußerung angebracht.
Im Anschluss an diese Darlegung entwickelte Goethe zu dieser Zeit einen Schönheitsbegriff, der sich nahtlos an das gewählte Bildfeld seines Schäkespears-Aufsatzes anfügt. Goethe hatte die Frage gestellt, was Schönheit sei und sie mit dem Hinweis darauf beantwortet, dass Schönheit weder Wahrheit (metaphorisch als Licht benannt) noch Unwahrheit (metaphorisch Dunkelheit) sei.21 Schönheit ist – dies muss man ergänzen – ein Drittes, das sich eben nicht mit der binären abendländischen Logik von wahr und falsch erklären lässt. GoetheGoethe, Johann Wolfgang bindet den Schönheitsbegriff eng an die literarische Schönheit, also an den Gegenstand ästhetischer Erfahrungästhetische Erfahrung, es geht ihm an dieser Stelle nicht um Naturschönheit. Selbstverständlich lassen sich diese Passagen sehr gut mit Goethes Kenntnissen der neuplatonischen und pietistischen Tradition erklären. Doch bleibt dabei eine Ebene der Deutung unberücksichtigt, die mir wichtig erscheint. Das SymbolSymbol der AufklärungAufklärung ist das Licht, das Dunkelheit zurückdrängt, das erhellt und Klarheit schafft. Wenn nun der junge Goethe ausdrücklich die literarische und ästhetische Schönheit aus dem Bereich des Lichts auslagert und dem Begriff der Dämmerung beigesellt, dann drückt sich darin auch eine unübersehbare Verweigerungshaltung des jungen Autors gegenüber der Tradition der Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus. Hier wird Kritik laut, die sich zunächst gegen eine erkenntnistheoretische Bewertung ästhetischer Erfahrung richtet. Nicht denken, sondern empfinden heißt nun die Devise. Das descartesscheDescartes, René ‚ich denke, also bin ich‘ lautet nun: ‚ich empfinde, also bin ich‘, oder wie es Michael Ignaz SchmidtSchmidt, Michael Ignaz 1772 formulierte: „Der Mensch fühlt zuerst, daß er ist“22, bevor er es rational begreift. Diese Aufwertung des Gefühls ist eng mit der Aufwertung der Literatur verbunden. Anderes Schreiben erfordert ein anderes Fühlen, anderes Lesen ein anderes Empfinden. Goethe spricht vom Geheimnis der großen Bücher, die zu ergründen ein „Pekulium [= Sonderbesitz] für den empfindsamenEmpfindsamkeit Weisen ist“23.
Die Metapher der Dunkelheit hat in Goethes ästhetischem Denken dieser Jahre eine zentrale Bedeutung. Noch in Straßburg hatte er am 19. April 1770 geschrieben: „ich gäbe manchmal was drum blind zu seyn […] Es ist ja doch alles Dämmerung in dieser Welt“24, und die Textstelle blieb eigenartig rätselhaft. Vom SchäkespearsRede zum Schäkespears Tag-Aufsatz her gesehen erhellt sie sich nun. Nahezu zeitgleich zur Entstehung jenes Textes schreibt er unter dem Datum des 21. Septembers 1771, „ein einziger Tapp im Dunckeln ist offt mehr wehrt als ein Spaziergang am schönsten Sonnentag“25. Dunkelheit und Dämmerung werden von ihm als notwendige Zustände, als geradezu mediale Voraussetzung dafür angesehen, Schönheit erzeugen und Schönheit erfahren zu können. Die Verschränkung der Hell-Dunkel-Metaphorik mit einer ästhetischen Theorie drängt schließlich auf Präzisierung. Und so stellt der SchäkespearsRede zum Schäkespears Tag-Aufsatz schlüssig die Verbindung von Literatur und Leben als einem ästhetischen Konzept her. Die Gelenkstelle liegt in GoethesGoethe, Johann Wolfgang scharfer Akzentuierung der Bedeutung von LektüreLektüre. Lesen lässt Schönheit erfahren. Diese ästhetische Erfahrungästhetische Erfahrung der Literatur durch Lektüre unterliegt nicht mehr den Schreib- und Lesevorgaben der AufklärungAufklärung, den Verstand zu bilden und moralisch-didaktisch zu wirken. Sie ist im herkömmlichen Sinne zweckfrei, sie verfolgt lediglich das Ziel der natürlichen Darstellung. Schon ein Jahr zuvor hatte Goethe erklärt, man solle weniger fragen, was Schönheit ist, als vielmehr wo sie ist. „Einmal für allemal bleibt sie unerklärlich; Sie erscheint uns wie im Traum, wenn wir die Wercke der grossen Dichter und Mahler, kurz, aller empfindenden Künstler betrachten; es ist ein schwimmendes glänzendes Schattenbild, dessen Umriss keine Definition hascht“26. LiteraturLiteratur macht Schönheit erfahrbar. Goethe versucht dies am Beispiel ShakespearesShakespeare, William zu erklären, wobei sein Aufsatz kaum Erklärendes bietet, sondern programmatisch formuliert ist. Die Voraussetzungen jedoch, die Leser wie Autoren gleichermaßen mitbringen müssen, sind für ihn eindeutig: „wenn Schönheit und Grösse sich mehr in dein Gefühl webt, wirst du gutes und Schönes thun, reden und schreiben ohne dass du’s weist warum“27.
Goethe gebraucht nun gegen Ende des Schäkespears-Aufsatzes ein erhellendes Bild. Shakepeares Theater, das bedeutet also die Literatur Shakespeares, stellt für ihn einen schönen „Raritäten Kasten“ dar, „in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt“.28 Als der geheime Punkt von Shakespeares Stücken wird der Zusammenprall von Individualität als Freiheit der Selbstbestimmung („das Eigentümliche unsres Ichs“29) und den sozialen und kulturellen Erfordernissen bezeichnet. Das ist Goethes Vorbild und es ist literarisch. Das Bild des Raritätenkastens enthält eine komprimierte VerweissymbolikSymbolik. Es setzt einmal die Hell-Dunkel-Metaphorik der ästhetischen Erfahrung fort, zum anderen erklärt es bildlich erstmals den Standpunkt einer Ästhetik der doppelten Beobachtung, wie sie GoetheGoethe, Johann Wolfgang ja schon literarisch im Gedicht Erwache FriederickeErwache Friedericke erprobt hatte. Die Literatur beobachtet den Beobachter, der Literatur beobachtet. Am Beispiel ShakespearesShakespeare, William heißt dies, der Autor zeigt in seiner Literatur Weltgeschichte, wir, die Leser, beobachten dieses Schauspiel und wissen, es ist die literarisierte Darstellung von Geschichte, es ist eine durch das Medium LiteraturLiteratur vermittelte Darstellung. Wir beobachten, wie literarische Figuren Geschichte beobachten. Kritisch gewendet bedeutet das, Medien, wie zum Beispiel Literatur, sind nicht Darstellungsformen von Wirklichkeit, sondern Wahrnehmungsfilter.
Nach landläufigen Kommentierungen wird der Raritätenkasten meist mit einem Guckkasten verwechselt, welcher der Betrachtung von Kupferstichen mit Vergrößerungslinsen gedient haben und auf Jahrmärkten meist von Italienern gezeigt worden sein soll. Hier gilt es aber historisch genau zu unterscheiden. Der Raritätenkasten wird in Zedlers Enzyklopädie von 1741 folgendermaßen beschrieben:
„Raritäten-Kasten, ist ein Kasten, in welchem diese oder jene alte oder neue Geschichte im kleinen und durch darzu verfertigtes Puppenwerck, so gezogen werden kan, vorgestellt wird. Es pflegen gemeine Leute, so mehrenteils Italiäner von Geburth, mit solchen Kasten die Messen in Deutschland zu besuchen, auf den Gassen herum zu lauffen und durch ein erbärmliches Geschrey: Schöne Rarität! Schöne Spielwerck! Liebhaber an sich zu locken, die vors Geld hinein sehen. Weil nun solche Dinge mehr vor Kinder als erwachsene und angesehene Leute gehören, so pflegt man daher, Dinge, die man herunter und lächerlich machen will, Schöne Raritäten, schöne Spielwercke zu nennen.“30
Die Figuren wurden an Drähten gezogen, vergleichbar dem Theatrum mundiTheatrum mundi. Der Guckkasten hingegen wurde beim Transportieren von einem so benannten Guckkästner auf dem Rücken – bei kleinerer Ausführung vor dem Bauch – getragen und auf einem Stativ montiert. Er war „von allen Seiten geschlossen, nur durch eine Kerze erleuchtet. Wer gegen ein geringes Entgelt durch das Guckloch schaute, sah meist eine Reihe mechanisch auswechselbarer Landschaften, mitunter auch aktuelle Ereignisse der Malerei“31. Schon in das Stammbuch seines Frankfurter Jugendfreundes MoorsMoors, Friedrich Maximilian hatte Goethe 1765 die Verse geschrieben:
„Dieses ist das Bild der Welt,
Die man für die Beste hält,
[…]
Fast, wie Köpfe von Poeten,
Fast, wie schöne Raritäten,
Fast, wie abgesetztes Geld,
Sieht sie aus die beste Welt.“32
Das Spiel mit dem Wort von LeibnizLeibniz, Gottfried Wilhelm, dass diese Welt die beste aller möglichen Welten sei, wird durch die Raritätenmetapher als eine vom Beobachterstandpunkt abhängige Beobachtung ausgewiesen; das ist eine durchaus moderne Erklärung des subjektiven Faktors in der Erkenntnisarbeit. Das Beobachtete ist medial vermittelt, eine Wirklichkeit an sich gibt es nicht.
Doch wie verträgt sich dies mit GoethesGoethe, Johann Wolfgang oben beschriebenem „Natur! Natur!“-Programm? Die Natur ist nicht das Dargestellte, sondern die Darstellung selbst. Nicht das medial Beobachtete ist Natur, sondern die Tatsache, dass ein Beobachter medial beobachtet. Die Forderung nach Natur bedeutet also letztlich die Forderung nach einer Ästhetik der doppelten Beobachtung. Wir betrachten die Welt wie in einem Guckkasten und betrachten dabei uns selbst. Goethes erklärende Antwort findet sich über die verschiedenen Textformen dieser Zeit verstreut. Neben den Briefen, den fiktionalen und den nicht-fiktionalen Texten wie beispielsweise dem SchäkespearRede zum Schäkespears Tags-Aufsatz muss nun eine Textform berücksichtigt werden, die der junge Goethe erstmals für sich erprobt, die literarische Rezension. Goethe arbeitet im Jahr 1772 als Mitherausgeber – wie er sich in der Schlusserklärung dieses Jahrgangs bezeichnet – bzw. Rezensent an der Zeitschrift Frankfurter gelehrten AnzeigenFrankfurter gelehrte Anzeigen mit. Nur bei wenigen Rezensionen ist Goethe eindeutig als Verfasser Petersen, Johann Wilhelmnachzuweisen, bei vielen haben zwei oder mehrere Rezensenten zusammen den Text geschrieben.33 Diese Form der sogenannten Protokollrezension, über die Goethe in Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit (12. Buch) berichtet, können als konsequente Form der AutorgemeinschaftAutorgemeinschaft des Sturm und DrangSturm und Drang verstanden werden. Insgesamt haben etwa 40 Beiträger Rezensionen für die Frankfurter gelehrten Anzeigen geschrieben. Die meisten Besprechungen stammen allerdings von Goethe, MerckMerck, Johann Heinrich, HerderHerder, Johann Gottfried, SchlosserSchlosser, Johann Georg und Petersen. Seit Anfang März 1772 arbeitete Goethe mit. Seine Rezensionen werden nicht nur von den Verfassern der besprochenen Bücher oft als verletzend empfunden. Im Ton sind sie gelegentlich maßlos, scharfzüngig und in der Regel vernichtend. Dies entspricht durchaus der Absicht dieser Zeitschrift, nicht Ausgewogenheit und Unverbindlichkeit sollen die Rezensionen charakterisieren, sondern individuelle Auswahl, Parteilichkeit und die Kraft der Überzeugung, für die richtige Sache einzutreten. In der Ankündigung der Zeitschrift wird das Kollektiv der jungen Autoren mit den Worten beschrieben: „Eine Gesellschaft Männer, die ohne alle Autorfesseln […] bisher […] als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich.“34 Bedeutend sind vor allem drei Rezensionen Goethes, zwei davon betreffen den Aufklärer Johann Georg SulzerSulzer, Johann Georg (1720–1779). GoetheGoethe, Johann Wolfgang bespricht dessen eben erschienene Tragödie CymbellineCymbelline. Im Vorbericht zu seinem Stück schreibe der Autor, er habe sich nach einer Erkrankung mit ShakespeareShakespeare, William beschäftigt. Goethes bissiger Kommentar lautet: „Wer an dem Leben, das durch Schäckespears Stücke glüht, Teil nehmen will, muss an Leib und Seele gesund sein“35. Diese Formulierung unterstreicht den vitalistischen Aspekt der kraftgenialischen Ästhetik, hier geht es nicht mehr um Gefühle, sondern um LeidenschaftenLeidenschaften. Der Verlust der sozialen Verträglichkeit individuellen Handelns zeichnet sich als ästhetische Position ab. Von Shakespeare wird die Legitimation hierfür geliehen, im Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen dann erstmals ins Werk gesetzt. Sulzer wolle mit seinem Stück ‚das Gold von Schlacken reinigen‘ – das ist ein Bild, das kurze Zeit später Goethe selbst verwendet. Goethe hatte das Manuskript der Geschichte Gottfriedens von BerlichingenGeschichte Gottfriedens von Berlichingen an HerderHerder, Johann Gottfried geschickt, dieser antwortet mit einer eingehenden (nicht erhaltenen) Kritik. Goethe greift einen Kritikpunkt Herders auf und schreibt nun, etwa am 10. Juli 1772: „Die Definitiv ‚dass euch Schäckessp. ganz verdorben pp‘ erkannt ich gleich in ihrer ganzen Stärke, genug es muss eingeschmolzen von Schlaken gereinigt mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden. Dann solls wieder vor euch erscheinen“36. Über Sulzer heißt es nun in der im September erschienenen Rezension Goethes: „Er beschloß also: das Gold von Schlacken zu scheiden […] wenigstens einen Versuch zu machen, nichts weniger dem ehrsamen Publiko vorzulegen“37. Die Parallele beider Textstellen ist auffällig. Sie zeigt, wie eng die verschiedenen Textsorten Rezension, Brief und Drama beim jungen Goethe miteinander verwoben sind und wie sehr hier LiteraturLiteratur das Leben besetzt. Insgesamt ist SulzersSulzer, Johann Georg Stück für GoetheGoethe, Johann Wolfgang, wie er schreibt, ein völlig ungenialisches Unternehmen. Er empfiehlt am Ende den Lesern sogar, Sulzers Machwerk aus der Hand zu werfen. Dieser Art von zeitgenössischer Literatur hält Goethe nun sein literarisches Modell der lebendigen Schönheit entgegen, keine Puppen, keine Marionetten, keine Seifenblasen – das ist Goethes Vokabular in den Rezensionen. Er fordert stattdessen „lebendige Schönheit, nicht bunte Seifenblasenideale“38.
Die zweite wichtige Rezension erscheint im September 1772 und ist im Kollektivsingular geschrieben. ‚Wir‘ bedeutet mehr als den Nachweis mehrerer Verfasser, es ist zugleich Ausdruck eines Programms. Hier tut sich kund, was sich als Sturm und DrangSturm und Drang Geltung verschaffen will. Goethe und MerckMerck, Johann Heinrich (vielleicht unter Beteiligung Schlossers?) rezensieren die Schrift Zufällige Gedanken über die Bildung des Geschmacks in öffentlichen SchulenZufällige Gedanken über die Bildung des Geschmacks in öffentlichen Schulen von Johann Georg PurmannPurmann, Johann Georg, einem Frankfurter Gymnasialrektor. Wie ein Glaubensbekenntnis klingt es, wenn Goethe und Merck schreiben: „Wir gehören mitunter diejenige, welche […] die Frage: Was ist schön? für die Frage eines Blinden halten; und wir glauben, das Schöne ist so wenig zu erklären, als das Süße, das Bittere, das Helle u.dgl. […]: schön ist, was wir als schön empfinden. Die einzige beste Erklärung des Schönen, die wir kennen!“39 Diese Passage trägt zweifelsohne Goethes Handschrift. Man denke an die Frage ‚Was ist Schönheit?‘ aus seinem Brief an Friederike OeserOeser, Friederike vom Februar 1769, wo er dieselbe Frage stellt und auch mit der Hell-Dunkel-Metapher antwortet.40 Wenn Goethe in normativer Klarheit proklamiert, schön ist, was ich als schön empfinde, wird Schönheit individuell und subjektivistisch definiert, denn dann bestimmt allein dieses Ich, was schön ist, und dieses Ich ist das schreibende oder lesende Individuum. Diese Ästhetik verzichtet vollständig auf Definitionen und Normen, die festlegen, wie Schönheit nach objektiven Kriterien herzustellen oder wie sie zu rezipieren sei. Goethes Beispiel zeigt, Individualität erzwingt zu Beginn der ModerneModerne die öffentlichkeitswirksame Abweichung. Das Genie ahmt nicht mehr die Natur nach, wie es in der traditionellen Ästhetik der AufklärungAufklärung gefordert war, sondern – so verkündet nun GoetheGoethe, Johann Wolfgang – es schafft sich selbst „wie die Natur“41. Der Gedanke der Originalität und Individualität ist nun unlösbar mit dem Geniegedanken verknüpft.
Die dritte Rezension vom Dezember 1772 schließlich gilt wieder einem Buch SulzersSulzer, Johann Georg. In diesem Zusammenhang verwendet Goethe (unter Mitarbeit MercksMerck, Johann Heinrich) die Metapher der doppelten Beobachtung, also das Bild des Raritätenkastens, nun negativ. Goethe wirft Sulzer vor, er lasse die einzelnen Künste Architektur, Beredsamkeit, Bildhauerei, Dichtkunst, Malerei und Tanzkunst in der Art einer Laterna magica auf eine Projektionsfläche werfen; „alle aus einem Loche, durch das magische Licht eines philosophischen Lämpgens auf die weiße Wand gezaubert, tanzen sie im Wunderschein buntfarbig auf und nieder, und die verzückten Zuschauer frohlocken sich fast außer Atem“42. Eine ähnlich abwertende Beurteilung finden wir auch in einer anderen Rezension Goethes, worin er schreibt, der Text eines Buches tauge zu mehr nicht, als dass er der „lehrbegierigen Jugend etwa […] im Raritätenkasten zur Ergötzung und Nutzen vorgezeigt werden“43 könne. Wird LiteraturLiteratur so verstanden, dient sie nur noch der Belehrung und Ergötzung. Dies ist die klassische Funktionsbestimmung der Literatur. Schon HorazHoraz hat in seiner Ars poeticaArs poetica von ‚aut prodesse aut delectare aut simul‘44 als der Funktion von Dichtung gesprochen, Literatur solle entweder nutzen oder Vergnügen bereiten oder beides zugleich. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein hat diese Formel als Selbstbestimmung der literarischen Aufklärung ihren festen Platz in der Verständigung über Literatur. Vor dem Hintergrund dieser Dichtungstheorie stellt das von Goethe gebrauchte Bild des Raritätenkastens die kulturelle Schwundform von Literatur dar, sie wird nur noch auszugsweise, nämlich in vorbestimmten Darstellungsformen rezipierbar. Dem widerspricht heftig das Sturm-und-Drang-Sturm und DrangVerständnis einer naturhaften ProduktionProduktion von Literatur, eines Neuerschaffens. Natur und Kunst werden als zwei gegenteilige Begriffe gegeneinander ausgespielt. Kunst entspringe aus dem Bemühen des „Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten“45, schreibt Goethe. Im SchäkespearsRede zum Schäkespears Tag-Aufsatz, dies sei erinnert, hatte es geheißen: „das Eigentümliche unsres Ichs“ sei die „prätendierte Freiheit unsres Wollens“, die mit dem „notwendigen Gang des Ganzen“ zusammenstoße.46 Damit ist zusätzlich ein Schlüsselbegriff des Sturm und DrangSturm und Drang genannt, die Freiheit. Was das Ich definiert, ist der Anspruch auf Freiheit.
Die Bedeutung ShakespearesShakespeare, William für die jungen Autoren lässt sich ermessen, wenn man zwei weitere Zeugnisse aus dem unmittelbaren Umfeld des jungen Goethe heranzieht. Auch GoethesGoethe, Johann Wolfgang Straßburger Freund Franz Christian LerseLerse, Franz Christian (1749–1800) hielt anlässlich der Shakespeare-Feiern eine Rede, die heute vergessen ist. Es lohnt sich aber, einen Blick in den Text zu werfen:
„In einem Jahrhundert, da dichten nichts anders, als ein bischen wizig reimen ist, da die Musen liederlicher Menscher sind, und auch als solche singen, da müßen Gedichte so verdorben, wie die Sitten unserer Zeit sein, da einige Narren die Zähne blöken zu machen, oder einem närrischen empfindsamen Herzen durch Liebe und Triebe in anakreontischem Verselgen, eine empfindsam Thräne abzulocken, elende Bänkelsänger zu Genies, zu Dichtern des Geschmaks des jetzigen Publikums erhebt, in einem solchen Jahrhundert, das so aufgeklärt ist, daß man vor lauter Klarheit gar nichts sieht, muß ich in der That erstaunen, daß sie den Muth haben nur vier einfältige Schüler der einfältige Natur, aber auch ihre Lieblinge, zu Ihren Schutzpatronen zu wählen: die Heilige Poesie, der erste unter allen, unsern Shakespeare, und die Barden der Vorwelt OssianOssian und HomerHomer.“47