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Hier sind die Ikonen der jungen Literaten genannt. Diese Binnenperspektive des zeitgenössischen literarischen Betriebs schildert sehr genau das Klima, aus dem heraus Goethe seinem ‚Drang‘ nach Literatur ein eigenständiges Profil geben wird. Auch HerderHerder, Johann Gottfried beteiligt sich an der Shakespeare-Begeisterung. In seinem Aufsatz ShakespeareShakespeare entwickelt er ansatzweise eine Poetik des Sturm-und-Drang-Dramas. Der Dichter müsse, so schreibt er dort, eine eigene Welt, eine Traumwelt mit Traumhandlungen und eigenen Gesetzmäßigkeiten entwerfen und den Leser dahinein mitreißen. Der Verstoß gegen literarische Normen und Konventionen sei unabdingbar: „[…] wäre es nicht eben jedes Genies […] Erste und Einzige Pflicht, dich in einen solchen Traum zu setzen?“48, fragt Herder. Ein gutes Drama sei „ein völiges Grösse habendes Eräugniß einer Weltbegebenheit, eines Menschlichen Schicksals.“49 Über das Genie schreibt er weiter: „Er wetteiferte mit dem PrometheusPrometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in Kolossalischer Größe; darin liegts daß wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft.“50 Diese Forderung sieht Herder in der deutschen Literatur erstmals durch GoetheGoethe, Johann Wolfgang erfüllt. Am Ende seines Aufsatzes weist er bereits auf dessen Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen voraus. Zu diesem Zeitpunkt kennt HerderHerder, Johann Gottfried bereits die erste Fassung des Götz von 1771.
In einem schönen Wortspiel vom 28. November desselben Jahres erklärt Goethe seine Lebenssituation. Frankfurt empfindet er als ein Nest, als „Nidus wenn Sie wollen. […] meine Freunde müssen mir verzeihen, mein nisus vorwärts ist so starck, […]“51. In dem Wortspiel von nidus und nisus drückt sich weit mehr als der Sprachwitz eines 22-jährigen Jungautors aus. Nisus bedeutet in der zeitgenössischen Philosophie das Tun, unterschieden wird u.a. zwischen nisus agendi (dem Handeln) und nisus cogitandi (dem Denken). Nisus heißt aber auch Drang, womit ein Teil der epochemachenden Formel vom Sturm und DrangSturm und Drang schon bezeichnet ist. Der Drang zu handeln ist bei Goethe ein Schreibdrang, „es ist eine Leidenschafft, eine ganz unerwartete Leidenschafft“52, schreibt er an SalzmannSalzmann, Johann Daniel. Goethe erinnert ihn an die FriederikenBrion, Friederike-Geschichten, an die Leidenschaftlichkeit, mit der er sich dieser Beziehung und ihrer Literarisierung gewidmet hatte. Nun stellt er fest: „Ich kann nicht ohne das seyn“53 und meint die leidenschaftliche Besessenheit, von einem „Objeckt“54 vollständig eingenommen zu sein. Er erinnert SalzmannSalzmann, Johann Daniel also an Friederike, um ihm die Entstehung seines ersten Sturm-und-Drang-Dramas zu erklären. Goethe ruft Erfahrungen und Erklärungen aus seinem Leben auf in der Absicht, LiteraturLiteratur zu beschreiben. Um in Goethes Bild des Raritätenkastens zu bleiben: Goethe beschreibt sich, wie er in den Raritätenkasten schaut und dort das inszenierte Spiel mit Friederike beobachtet. Sein Entschluss heißt, „koste was es wolle, ich stürze mich drein“55. Im Gegensatz zur Friederiken-Geschichte seien dieses Mal keine Folgen zu befürchten. Dann fällt der entscheidende Satz: „Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen“56. Gerade einmal sechs Monate nach der Liebesbeziehung mit Friederike BrionBrion, Friederike entwickelt GoetheGoethe, Johann Wolfgang dieselbe Leidenschaft, nur gilt sie nun der Literatur und nicht mehr einer real-historischen Person seiner Biografie. Die Literarisierung des Lebens als einem ästhetischen Konzept wie auch als ein Lebensmodell ist erfolgreich ins Werk gesetzt. Durch die Veröffentlichung des Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen wird Goethe auch den Öffentlichkeitsstatus suchen, der ihm die Meinungsführerschaft der Sturm-und-Drang-AutorenSturm und Drang sichert.
Seine SchäkespearsRede zum Schäkespears Tag-Rede beendet der junge Autor abrupt mit den Worten: „Ich will abbrechen […]“57. Lassen wir stattdessen noch einmal Judith KuckartKuckart, Judith zu Wort kommen:
„Wie wäre es Goethe, dem angehenden Juristen im hechtgrauen Anzug, gegangen, wenn er in Straßburg hätte am Galgen vorbeireiten müssen auf seinem Weg ins Theater? Wäre er, wie ShakespeareShakespeare, William, unter der Last dieser Eindrücke auch auf eine Tragödie gekommen, in der eine Frau namens Lavinia vergewaltigt wird, und anschließend reißt man ihr die Zunge heraus und hackt ihr die Hände ab? Lavinia heißt sie bei Shakespeare in Titus Andronicus. Wie hätte sie bei Goethe heißen können? Und hätte man ihr in seinem Stück nicht nur die Haare abgeschnitten und den Ehering vom Nachttisch geklaut?“58
Adam Müllers Literaturkritik (1806)
Adam MüllersMüller, Adam Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und LiteraturVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur aus dem Jahre 1806 markieren mit ihrem programmatischen Begriff der vermittelnden Kritik einen Wendepunkt in der deutschen LiteraturkritikLiteraturkritik. Kontinuität garantieren in diesem Sinne Müllers Vorlesungen nicht, sie kennzeichnen einen Bruch mit der Kritik der AufklärungAufklärung und repräsentieren zugleich doch einen weiter radikalisierten Typus der Binnenkritik der Aufklärung. So wird die vermittelnde Kritik müllerscher Provenienz selbst zur Vermittlerin und trotz des Traditionsbruchs zur Garantin literaturkritischer Kontinuität. In Form einer schlagwortartigen These ließe sich dies als Kontinuität in der Diskontinuität formulieren. Müllers Idee von der Einbürgerung der Kunst in den historischen Prozess, wobei der Literaturkritik die entscheidende Vermittlungsfunktion zufällt, dieser Nostrifizierungsgedanke bedeutet zudem in der Geschichte der deutschen Literaturkritik ein Novum. August Wilhelm SchlegelSchlegel, August Wilhelm erhebt hiergegen zwar Protest, gebraucht freilich den Vermittlungsbegriff eher im komparatistischen Sinne als Vermittlung verschiedener Nationalliteraturen. In seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und LiteraturVorlesungen über dramatische Kunst und Literatur schreibt er:
„Dieses schicklichen Ausdrucks hat sich, wo wir nicht irren, Hr. Adam Müller in seinen ‚Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Litteratur‘ zuerst bedient. Wenn er sich aber für den Erfinder der Sache selbst ausgiebt, so ist dieß, aufs gelindeste gesagt, ein Irrthum. Längst vor ihm hatten andre Deutsche versucht, den Widerstreit des Geschmacks zwischen Zeitaltern und Nationen auszugleichen, und aller ächten Poesie und Kunst die gehörige Anerkennung zu verschaffen. Zwischen Gut und Schlecht ist freylich keine Vermittlung möglich“1.
Müller berührt in der Tat die Frage nach der Bewertung von Literatur nur flüchtig. Gut und schlecht sind relationale Eigenschaften, die immer nur „in Beziehung auf ein Ganzes oder auf ein höchstes alle übrigen Güter umfassendes Gut [erscheinen]“2, führt er aus. Als das Ganze versteht er das Gesamt der menschlichen Gesellschaft, das sich nicht an den Fehlern des einzelnen Werks orientiert, sondern auch das Mangelhafte als Teil des Ganzen in das Gesamt inkorporiert. Neue Gegenstände tragen durch die Kontinuität der Aufnahme in das bereits Aufgenommene zur Akkumulation des Kunststaatinventars bei. Im konkreten Fall des Buches ist „der Staat der Literatur nur steigend und sich erweiternd zu denken“3. Angesichts dieser diffusen Erklärung der Bewertungsfrage wundert es nicht, wenn MüllerMüller, Adam eingestehen muss, dass eine solche Kritik noch nicht existiere. Es bleibt aber festzuhalten, Müller bringt mit seinem Terminus der vermittelnden Kritik in den literaturkritischen Diskurs einen Begriff ein, der eine eindeutig politische Funktion erfüllen soll.
Und doch scheint mir die Herkunft des Vermittlungsbegriffs sowie Müllers partielles Applikationsinteresse unzweifelhaft zu sein. Der Begriff entstammt dem theologisch-dogmatischen Diskurs, er wird bei Müller entchristologisiert und kryptotheologisch gewendet. Diese Perspektive einer christologischen Referenz des Vermittlungsbegriffs geht am deutlichsten aus der achten Vorlesung hervor, wo Müller unter den Stichworten Buchstabe und Tradition kurz die Methodenfrage anspricht und an einem christologischen Beispiel ausführt, wie historische Erkenntnis, geschickt und sinnreich vermittelt, auf die aktuelle Situation appliziert werden könne.4 Der BuchstabeBuchstaben, der sich nur für die Individualität einer Person oder eines Werks interessiere, lässt Christus als einen „frommen, geduldigen, moralischen Mann bewundern“5. Die Tradition, die den Reflex eines Menschen oder eines Werks auf sein Zeitalter untersucht, vermittle Christus als „Mittler der Menschheit überhaupt, als der Mittler der alten und neuen Welt“6.
Von der Forschung sind diese Zusammenhänge bislang kaum berücksichtigt worden. Galt deren Interesse nahezu ausschließlich Müllers staatsphilosophischen und ökonomischen Schriften, so ist erst in jüngerer Zeit die literaturwissenschaftliche Einzelforschung auf Müllers VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur aufmerksam geworden.7 Die historische Situierung sowie die funktionsgeschichtliche Bestimmung des Vermittlungsbegriffs spielten dabei aber eine vollkommen periphere Rolle. Auch die jüngste Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980)Geschichte der deutschen Literaturkritik8 erkennt nicht die Bedeutung dieser VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur des jungen Adam MüllerMüller, Adam. In der Forschung wurde Müllers Intention, LiteraturkritikLiteraturkritik gesellschaftlich zu institutionalisieren, jener Impuls abgesprochen, der gerade die konzeptuelle Tragfähigkeit seines Kritikbegriffs unter dem Gesichtspunkt der historischen Entwicklung der deutschen Literaturkritik ausmacht: die Politisierung der Kritik.9 Stattdessen wurde kritisiert, Müllers Intention führe „zu einem organizistischen Modell, das dem Staat einen bestimmenden Einfluß einräumt“10. Zugespitzt könnte man formulieren, dass damit das als Entpolitisierung der Kritik gegen Müller gewendet wird, was als Politisierung der Kritik von Müller inauguriert wurde. Möglicherweise verleitete einer der textuellen Revokationsschübe, von denen noch die Rede sein wird, zu dieser Fehleinschätzung. Historisch gesehen führte Müllers Kritikbegriff sicherlich nicht in unmittelbarer Folge zu einer Politisierung der Literaturkritik, doch trifft es auch nicht zu, dass Müller in den Vorlesungen den gesellschaftlichen Status quo saturiere. Diese Einschätzung ist schon für das Entstehungsjahr der Vorlesungen unzutreffend, da Müller entschiedener Gegner der napoleonischenNapoleon Bonaparte Machtpolitik war. Erst die einseitige restaurative Ausrichtung der mediatorischen Funktion von Literaturkritik mündet in jene geschichtliche Entwicklung, die zutreffend gedeutet wurde: „Das Bündnis mit den konservativen Kräften […] wird möglich durch einen Begriff von Kritik, der im verstehenden Aneignen der Tradition den politischen Status quo unterstützt. Dieser Zusammenhang mußte das hermeneutische Verfahren, dem Adam Müller offensichtlich verpflichtet ist, den liberalen Kritikern suspekt machen.“11
Dieser Beitrag ist konzeptuell in zwei Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil werde ich kurz Müllers Programm unter den Leitbegriffen von Vermittlung und Einbürgerung darstellen. Im zweiten Teil werde ich eine erste historische Situierung skizzieren, eine kritische Analyse von MüllersMüller, Adam Programm versuchen und nach dem Erkenntnisinteresse wie Erkenntniswert des Vermittlungsbegriffs fragen.
In den ersten beiden Vorlesungen entwickelt Müller den Konnex von literarischem und politischem Prozess. Die historisch-ökonomische Analyse liefert den Rahmen, innerhalb dessen Müller seine literarkritischen Reflexionen entfaltet. Der literarische und politische Einfluss Frankreichs, die „Hemmung […] durch französische Autoritäten“, sei jetzt vorüber, man habe sich „von ihrem unmittelbaren Drucke emanzipiert“ (S. 33).12 Dem „Despotismus der französischen Kritik“ (S. 34) setzt Müller LessingLessing, Gotthold Ephraim und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich „als leitendes Zwillingsgestirn der deutschen Kritik“ (S. 33) entgegen. Damit nennt er zwei Namen, die für ihn trotz der Kritik an Friedrich Schlegel eine normative Vorgabe bedeuten. Müller rettet LessingLessing, Gotthold Ephraim in einen aktuellen literaturkritischen Autoritätencorpus, mit ihm beginnt die deutsche LiteraturkritikLiteraturkritik. Für Müller ist es unzweifelhaft, dass der Mensch nicht „abgesondert von der Bühne der Welt, auf der er und für die er lebt“ (S. 36), betrachtet werden kann. Das gilt sowohl für die kritische Bewertung des Autors als auch für die Inhalte, die dieser in Texten transportiert. Die politische Revolution in FrankreichRevolution in Frankreich von 1789 korrespondiert mit einer literarischen Revolution in Deutschland, „welche durch die kritische Philosophie veranlaßt […] und durch Friedrich Schlegel […] ausgeführt wurde“ (S. 38). In der neunten Vorlesung bringt Müller dies auf die prägnante Formel: „Keine Revolution kann den Staat ergreifen, die nicht zugleich die Wissenschaft träfe“ (S. 95).13 Die Misere, die deutsche Misere, liegt zum einen darin, dass sich diese politische Revolution im duodezstaatlichen Deutschland „in das Unglück von drei Jahrhunderten auseinandergesponnen [hatte]“ (S. 31); zum anderen, dass die Umkehrung jener Formel nicht gilt, keine Revolution kann die Wissenschaft bzw. die Literatur ergreifen, die nicht auch den Staat träfe. Die kritische Revolution, von der Müller spricht, war in Deutschland wirkungslos,
„weil sie in das Wesen der gleichzeitigen Bewegungen der Gesellschaft sowohl in ihren öffentlichen als in ihren Privat-Beziehungen tätig und fortgesetzt einzugehn aus einem gewissen ganz unziemlichen Stolze verschmähte. Den Staat […] setzte sie mit idealistischer Selbstgenügsamkeit über die Seite“ (S. 42).
Aus dieser literarisch-politischen Position heraus führt MüllerMüller, Adam in der dritten Vorlesung den Begriff der vermittelnden Kritik ein. Vor dem hier nur kurz skizzierten Hintergrund der revolutionären Situation in Gesellschaft und Wissenschaft bekommt der Vermittlungsbegriff eine dezidiert gesellschaftspolitische Funktion übertragen. Die theologische Konnotation14 des Vermittlungsbegriffs darf dabei aber nicht unterschätzt werden, denn dies ist ein wesentlicher Aspekt der Entschärfung des Terms ‚vermittelnde Kritik‘. Das geht auch aus dem ersten provisorischen Begriffsgebrauch hervor: „Es gibt eine höhere Kritik […], die […] vermittelnde meine ich, die nicht bloß zu streiten, sondern im Streite selbst zu versöhnen weiß“ (S. 40). Damit ist die eristische und die irenische Funktion von LiteraturkritikLiteraturkritik festgeschrieben. Dem versöhnenden, friedensstiftenden Anteil der Kritik dient als Telos die Fiktion eines Kunststaates. Aufnahme und Einbürgerung sind die Schlagworte, unter denen Müller dies abhandelt. Am Beispiel der Literaturkritiker, deren Mehrzahl er „Flachheit, Leerheit und Unwissenheit“ (S. 49) attestiert, führt Müller aus: „Eine wahre Rezension ist die Geschichte unsers Kampfes mit einem Buche, deren Resultat aber notwendig die Aufnahme dieses neuen Bürgers in dem Staate unsrer Literatur sein muß“ (S. 48). Wieder erfolgt der Hinweis auf LessingLessing, Gotthold Ephraim und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich als die Begründer dieser ‚Idee‘. Man kann also vorläufig eine Subfunktion festhalten, die ich mit dem Begriff der Nostrifizierungsfunktion der Literaturkritik kennzeichnen möchte. Die Einbürgerung in einen Kunst- oder Literaturstaat ist aber auch hier nur das eine Moment einer triadischen Bewegung.
Unpräzise und diffus in der Argumentation bleibt MüllerMüller, Adam, wenn er die Aufgabe der Kritik damit umschreibt, jeden neuen Gegenstand „zu begreifen, das heißt, ihn aufzunehmen in den Zusammenhang des übrigen bereits Begriffenen“ (S. 48). Unmissverständlich beklagt er das Fehlen einer durchgreifenden Kritikerautorität, eines „vermittelnden Direktor[s]“ (S. 49). LessingLessing, Gotthold Ephraim als der „Vater der deutschen Kritik“ (S. 50) übe die Funktion einer konsensstiftenden Autorität längst nicht mehr aus. Die Vermutung liegt nahe, dass Müller selbst den Status eines vermittelnden Direktors prätendiert, bezeichnet er die vermittelnde Kritik doch als „Stolz“ und „höchste[n] Gewinn aller Bildung überhaupt und der deutschen insbesondre“ (S. 53). Zudem lässt sich seine Kritik an Friedrich Schlegels Geschlossenheitsvorstellung eines literarischen Produkts auch gegen ihn selbst wenden. In einem „Anfall von taumelnder Paradoxie“ begehre man, „vielleicht sich selbst unbewußt, die Stelle derselben Autorität, die man umzustürzen glaubt“ (S. 41). Doch bei aller innovatorischen Energie, Umsturz ist Müllers Sache nicht, dazu ist sein Konzept der vermittelnden Kritik zu harmoniebedürftig. Darin ließe sich ein Aspekt der Kontinuität in der Geschichte der deutschen LiteraturkritikLiteraturkritik sehen. In der vierten Vorlesung nennt Müller die vermittelnde Kritik auch dialektische Kritik (vgl. S. 51). Damit ist ein höchst problematischer Begriff genannt, der zwar ein weiteres Epitheton einführt, in der Sache aber wenig weiterhilft. Ich verzichte daher auf Müllers Explikationsakrobatik (vor allem in den philosophischen Schriften) und beschränke mich zunächst auf die weitere Darstellung der Vermittlungsinhalte und das eigentliche Procedere der Vermittlung. Diese Kunst der „notwendigen Vereinigung des Glaubens und des Zweifels“15 nennt Müller an anderer Stelle Dialektik. Die „Vernachlässigung des gesellschaftlichen Zustandes der Welt und seiner Bedingungen“ (S. 54) ist der Vorwurf Müllers, der nicht nur die Philosophie und LiteraturLiteratur, sondern die Wissenschaft insgesamt trifft. Damit ist das zweite Moment der Subfunktion von Literaturkritik genannt. Neben der Nostrifizierung der Literatur in einen Literaturstaat geht es Müller um die Nostrifizierung von gesellschaftlicher Wirklichkeit in die Literatur. Unklar und unausgeführt bleibt aber, wie diese Vermittlung durch Literaturkritik realiter aussehen soll, ist der Gedanke der Vermittlung in diesem Zusammenhang doch eher eine produktionsorientierte ästhetische Norm als ein literaturkritisches Regulativ.
In der sechsten Vorlesung wird der christologische Kontext des Vermittlungsbegriffs explizit, womit auch verständlich werden könnte, was MüllerMüller, Adam mit „höherer Kritik“ meinte. Müller beschreibt eine Intention seiner VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur damit, dass er darstellen wolle, „wie der Regeneration des Christentums und des Begriffs der Vermittlung die deutsche Philosophie entgegengeht“ (S. 68). Am Ende der Vorlesung spricht er schließlich deutlich vom „deutsche[n] und christliche[n] Begriff der Vermittlung“ (S. 72).
In der siebten Vorlesung nimmt Müller die irenische Funktionsbestimmung der LiteraturkritikLiteraturkritik wieder auf und wendet sie nun gesellschaftlich, allerdings so allgemein und erklärungsbedürftig, dass die eristische Schärfe des Vermittlungsbegriffs verlorenzugehen droht. Müller gelingt es nicht, eine von ihm dialektisch konstruierte Spannung, die sich meist im Sprachspiel von Begriff und Gegenbegriff erschöpft, auszuhalten. Sobald er sich dem einen Moment zuwendet, desavouiert er das andere. Die Vermittlungsintention potenziert sich zum zwanghaften Versöhnungswillen, der gefährlich nahe an die Affirmation bestehender gesellschaftlicher Missverhältnisse im Interesse der politischen restaurativen Wende dieser Jahre heranführt. Die Exemplifizierungen, die Müller bietet, verdeutlichen dies in einer nun kryptotheologischen Sprache. Der Begriff der Vermittlung, das „Friedenswort“ (S. 74 u. S. 80), sei weder gefunden noch erfunden.
„Vielmehr regt sich das Innerste und Heiligste dessen, was ich damit meine, an allen Altären der Welt, in jedem reinen Herzen, in jeder ernstlich frohen Empfindung des Lebens. Herrschaft heißt es auf dem Throne, Gehorsam – im Hause des freien Bürgers, genialische Kraft – in der Werkstätte des Künstlers, Sitte – im Gewühle des gesellschaftlichen Lebens, Tugend – in den verborgensten Handlungen des kindlichsten Herzens. Jeder irdische Besitz ist ein Mittelglied zwischen mir und dem ewigen, unbegreiflichen Eigentume des Lebens, zu welchem ich berufen bin; jedes Wort, das ich verstehe, jeder Wink, den ich erkenne, ist ein Zeichen des Unaussprechlichen, ist eine Deutung auf reinere Worte, auf höhere Winke. Jedes in seiner Art vermittelt mich und die widersprechenden Dinge untereinander: wir verständigen uns, um gemeinschaftlich höheren Widersprüchen und ihrer Lösung entgegenzugehn. – So der Begriff der Vermittlung selbst“ (S. 73f.).
Die irenische Bedeutung des Vermittlungsbegriffs ist das Telos, an dem sich Müllers Darstellung der deutschen Wissenschaft und LiteraturLiteratur orientiert, wie er selbst betont, das einzelne BuchBuch oder Kunstwerk wird so zum „Friedensstifter“ (S. 74). Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht allen Stellenbelegen des Vermittlungsbegriffs nachgegangen werden, der Kontext ist jeweils zu disparat, als dass er die literaturkritische Relevanz an jedem Ort einsichtig machen könnte, wobei ein Grund für die Disparatheit in der akroamatischen Struktur von Müllers Text liegen mag.16
Am Ende der achten Vorlesung scheint sich Müller wieder auf das Programm zu besinnen, das er zu Beginn der VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur vorgegeben hatte. „Ich kann nicht […] ein müßiger, sich selbst aus den Gliedern der Geschichte herausnehmender absoluter Beschauer sein“ (S. 93). Damit ist der wohl wichtigste Aspekt des Vermittlungsbegriffs genannt, der auch den Maßstab der Kritik an MüllersMüller, Adam Konzept angibt. Vermittlung – unabhängig in welcher Funktions- bzw. Subfunktionsbestimmung – vollzieht sich nicht außerhalb der Geschichte, sondern steht im historischen Prozess, sie ist selbst Teil der Geschichte. Mit dieser Bedeutung des Vermittlungsbegriffs ist eng die gesellschaftliche Standortbestimmung von LiteraturLiteratur und Wissenschaft verknüpft, auf die Müller in der neunten Vorlesung zurückkommt. Die Frage, weshalb der Staat „so empfindlich die Angriffe des gelehrten Standes und des fortschreitenden Wissens [fühlt]“ (S. 95), wird programmatisch beantwortet. Der Staat unterschätzt das sogenannte eingebildete Reich der Wissenschaften, er schreibt ihm „praktische Ohnmacht“ (S. 95) zu. Der Kritiker muss nun beide zu betrachten wissen, muss in beiden als „Mittler“ herrschen „und ihrer vermittelten Einheit gehorchen“ (S. 96). Bedenkt man, dass Müller den gelehrten Stand in der zweiten Vorlesung noch den natürlichen Feind des Adels genannt hatte (vgl. S. 30), so ist der Schritt von der natürlichen Feindschaft zum vermittelnden Gehorsam nur schwer nachzuvollziehen. Müller droht sein kritisches Gepäck zu verlieren. Spricht er von der Vermittlung von Adel und Bürgertum – Müller denkt durchaus ständisch, er spricht von „Bürgerstand“ (S. 99)17 und davon, dass „die Vermittlung dieser beiden Wesen […] das höchste Problem aller Staatsweisheit überhaupt [ist]“ (S. 99) –, scheint der Gedanke der eristischen Funktion von Kritik nun aufgegeben, die Überlegung der Nostrifizierung zur platten Saturierung verflacht. Dieser Einwand liegt zweifellos nahe, daher ist es interessant, wie MüllerMüller, Adam ihm unter dem Rekurs auf den Begriff der Einbürgerung begegnet. Die Dichter müssen, schreibt er in der zehnten Vorlesung, „eingebürgert werden in den Staat von Deutschland“ (S. 109). Damit ist das dritte Moment der Subfunktion von Literaturkritik genannt, die Nostrifizierung der Schriftsteller in die Gesellschaft. Alle drei Momente der Nostrifizierungsfunktion zentrieren sich um die Beschreibung der gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion von LiteraturLiteratur. Die Schlüsselstellung hat dabei die mediatorische Funktion – als eristische und irenische – der LiteraturkritikLiteraturkritik. Müller betont wiederholt die gegenseitige Abhängigkeit von politischer, ökonomischer und poetischer Existenz und beklagt die Gleichgültigkeit der Dichter wie der Leser gegenüber dem „gesellschaftlichen Zustand von Deutschland“ (S. 109). Dies ist eine bemerkenswerte Präzisierung, die bereits auf die politisch sensibilisierte Literaturkritik der Jungdeutschen hinweist.18 Die Literatur der vergangenen 200 Jahre ist für Müller ein Konvolut von „Restaurationsversuche[n] der antiken und modernen Dichter“ (S. 110). Wer so argumentiert, spricht der Literatur eine gesellschaftliche Funktion zu, die von der Literaturkritik in die Gesellschaft zurückvermittelt wird, Literatur ist nicht länger exterritorialisiert. Müller datiert den Beginn dieses Prozesses der „höhere[n] Einbürgerung der Kunst“ (S. 112) mit Goethes WertherDie Leiden des jungen Werthers, GoetheGoethe, Johann Wolfgang eröffne die Kunst dem wirklichen Leben.
In der elften Vorlesung versucht Müller den Vorgang der Nostrifizierung weiter zu bestimmen, gleitet aber unversehens ins Allgemein-Mystische ab. Die Einbürgerung bestehe aus Betrachten, Verstehen, Ergreifen, sie ziele auf die Erzeugung eines „harmonischen Kunststaat[es]“ (S. 115)19, der Dichter müsse den antiken und modernen Kunststaat „tragen, beherrschen und verkündigen“ (S. 116). MüllerMüller, Adam verfällt einer Vermittlungsmystifikation, die ihre kryptotheologische Herkunft nach außen kehrt und den Begriff der Vermittlung seiner literaturkritischen Brauchbarkeit depriviert. Er reduziert in dieser vorletzten Vorlesung die Kritikertätigkeit auf ein „Dichten über den Dichter“ (S. 118), quasi eine AutonomieästhetikAutonomieästhetik für den Literaturkritiker, die Frage nach Absicht und Zweck von LiteraturLiteratur sei eine „Absurdität“ (S. 118), die die Kritik des 18. Jahrhunderts charakterisiere, aber keine Relevanz mehr besitze. Der Begriff der Vermittlung findet im Text zwar weiterhin seine Anwendung, wird aber deutlich mit Herrschaftsmetaphern verknüpft. Literatur bilde aus ihren „Beschauern“ (S. 117) einen eigenen kleinen Kunststaat, die Beschauer seien „gleichsam die freien Untertanen des Werks und seines Meisters“ (S. 117). Unklar ist, ob mit den Beschauern die Kritiker oder die Leser schlechthin gemeint sind. In der sich daran anschließenden Passage verfällt Müller expressis verbis jener aufklärerischen Dichotomisierung von wahrem Kunstverständigen bzw. Kunstrichter und breitem, ungebildetem Publikum, die er zu Beginn seiner VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur vehement kritisiert hatte:
„Inwiefern nun der Künstler, bei der Arbeit, nicht sein Publikum, aber die echten Kunstbetrachter aller Zeiten und Völker, die er verstanden hat, als wahre Untertanen im Auge hatte, insofern hat sein Werk Bedeutung, Umfang, Leben. – Verständlichkeit, Klarheit, Zugänglichkeit der Kunst, das ist demnach ihre wahre Bedeutung“ (S. 117).
Dies heißt de facto die Rückkehr zum Modell einer normativ-poetologischen Justierung der Literatur an sogenannten Autoritäten. Träfe diese Beurteilung zu, dann wären die Literaturkritiker wieder jene „Polizeibediente des Literaturgerichts“20, von denen GoetheGoethe, Johann Wolfgang in einer frühen Rezension gesprochen hatte, der Vermittlungsgedanke wäre damit endgültig liquidiert. An dieser Stelle führt MüllerMüller, Adam die Begriffe Vermittlung und Einbürgerung wieder zusammen:
„Das Leben, das Geschäft des Kunstwerks wie das des Meisters oder des Betrachters ist ewige Vermittlung zwischen Freiheit und Gesetz, zwischen Herrschaft und Gehorsam. In diesem Sinne erweitert jeder die Bedeutung, die Sphäre des Werkes, das er betrachtet […]. Indem ich diese vortrefflichen Werke in meinen Kunststaat einbürgere, ihren Gehalt durch die neuen Verhältnisse, in die ich sie zu bringen weiß, erweitere, tue ich, was ich soll“ (S. 117).
Die LiteraturkritikLiteraturkritik versetzt den Dichter, die Topoi wiederholen sich, in eine „weitere Sphäre“, sie bürgert ihn in einen „größeren Staate“ ein (S. 119). Müller resümiert am Beispiel von Wilhelm Meisters LehrjahrenWilhelm Meisters Lehrjahre Aufgabe und Eigenschaften eines Literaturkritikers, was einer faktischen Entwertung des Begriffs der Vermittlung gleichkommt. Aufgabe des Kritikers ist es nämlich, „Harmonie mit dem Dichter“ (S. 119) herzustellen, „ihn zu verstehn“, wofür die Eigenschaft, „in seinem Geiste zu dichten und zu leben“ (S. 119), unabdingbare Voraussetzung ist. Das Wesen der Literatur beruht „nach deutschen Begriffen auf Vermittlung“ (S. 119).
GoetheGoethe, Johann Wolfgangs Werk verkörpert für Müller eine Art von Literatur, „um neue Zustände der Gesellschaft zu beleuchten und zu erzeugen“ (S. 123), der Nostrifizierungsgedanke, „die Idee von der Einbürgerung der Kunst“ (S. 123), dient dabei als Leitmotiv. Von der Literatur insgesamt gilt, was Müller über die Bühne sagt, dass sie „ganz besonders das Schicksal der politischen Gemeinschaft, auf der sie beruht“ (S. 131), teilen wird. Mit dem Begriff der Vermittlung verbindet Müller auch einen Fortschrittsoptimismus – und damit schließt er seine VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur – in der Hinsicht, dass Wissenschaft und Kunst, „Sprache in Bild und Schrift“ (S. 137), sich immer mehr einbürgern werden, mit ihnen sei, so Müller emphatisch, „ein immer festerer Bund geschlossen“ (S. 137). Allein in ihrem Wachstum liegt ihre Subversivität, auf den historischen Prozess einwirken und ihn korrigieren zu können. Der Begriff der Vermittlung bewahrt sich so einen letzten utopisch-emanzipatorischen Rest.
Man kann aus Adam Müller einen „unbewußte[n] Revolutionär“21 machen, der sich in seiner radikalen Ablehnung der aufklärerischenAufklärung LiteraturkritikLiteraturkritik gar nicht mehr des revolutionären Potenzials seines Vermittlungsgedankens bewusst war. In diesem Falle müsste man aber Müllers Text gegen MüllerMüller, Adam lesen. Dagegen sprechen vielerlei Gründe, nicht zuletzt die Unbestimmtheit seiner Ausführungen und seine spätere politische Biografie. Es soll hier keineswegs der Versuch unternommen werden, den frühen Müller für eine Sozialgeschichte der LiteraturkritikLiteraturkritik zu reklamieren. Doch zeigt Müllers Vorgehen in den VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur eines deutlich: Die Entwicklung und Darlegung eines literarisch-methodischen Begriffs wie desjenigen der Vermittlung oder der Einbürgerung geschieht vor dem Hintergrund einer historisch-gesellschaftlichen Analyse. Müller erkennt das kritische Potenzial von Wissenschaft, worunter er auch die Literaturkritik subsumiert, und steht damit in der Tradition der Binnenkritik der Aufklärung. Diese Kritik hat einen eindeutig politischen Impetus beispielsweise dann, wenn Müller die Wissenschaft als natürlichen Feind des Adels bezeichnet. MercierMercier, Louis-Sébastien schreibt 1773 in seinem von WagnerWagner, Heinrich Leopold 1776 übersetzten Neuen Versuch über die SchauspielkunstNeuer Versuch über die Schauspielkunst: „Wahre Gelehrte sind heut zu Tage die nützlichsten Bürger, und verdienen den größten Dank […]. Sie werden von den Tyrannen gefürchtet und gehaßt, weil sie für Freunde der Wahrheit und Erhalter der Rechte des Menschen von ihnen gehalten werden. Das sind sie auch in der That“22. Müllers Vorlesungen sind in dieser Hinsicht Garantin einer kritischen Tradition der Aufklärung. Hinzu kommt, dass Müller die Enthistorisierung der Literatur und der Literaturkritik, die am Ende des 18. Jahrhunderts einen nicht unbedeutenden Kulminationspunkt in SchillersSchiller, Friedrich BürgerBürger, Gottfried August-Kritik und Horen-AnkündigungHoren-Ankündigung erreicht hat, rückgängig zu machen versucht.23 Seine Kritik an Schiller und seine entschiedene Absage an eine ‚Idealisierkunst‘, an alle „sentimentalen Klagen über die Unerreichbarkeit des Ideals, über die Schranken der Wirklichkeit, über die unbefriedigte Sehnsucht nach dem Vollkommenen“ (S. 75), unterstreichen seine Ablehnung eines enthistorisierten Literaturbegriffs. Der verengte Blick des Kritikers auf innerliterarische Fragestellungen, formale Absichten und werkimmanente Interpretationsinteressen ist für Müller die Engführung einer historischen Entwicklung. Sein Programm einer vermittelnden Kritik ist ein früher Umschlagversuch dieser Entwicklung. LiteraturLiteratur und LiteraturkritikLiteraturkritik werden nun verstanden als Teil eines historischen Prozesses, den sie selbst prägen und von dem sie geprägt werden. Die mediatorische Funktion gelangt hier zur Geltung, Literaturkritik ist Vermittlung zwischen historischem Prozess auf der einen und Literatur auf der anderen Seite. Und damit ist die Crux von MüllersMüller, Adam Vermittlungskonzept genannt, denn mit dieser Funktionsbeschreibung wird die Trennung von Literatur und historischem Prozess (bei Müller fallen die Begriffe „Staat“, „Gesellschaft“, „Geschichte“) festgeschrieben. Was aber vermittelt werden muss, ist zuvor geschieden worden. Dieser Gesichtspunkt ist bei Müller völlig ausgeklammert, die Ursachenforschung interessiert ihn hier weniger, sein deskriptives Engagement mündet direkt in einen doch wieder idealisierten, wenn nicht mystifizierten Weltentwurf. Dieser Sachverhalt lässt sich als erster Punkt einer Kritik der vermittelnden Kritik festhalten. Der zweite Punkt einer Kritik an Müllers Kritikbegriff betrifft die Tatsache, dass der Text der VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur regelrechte Revokationsschübe erfährt. Überall dort, wo Müller genötigt ist, seine Aussagen zu reifizieren, flüchtet er in eine kryptotheologische Argumentation, wobei die christologische Konnotation des Vermittlungsbegriffs den Revokationscharakter verstärkt. Zum Dritten kehrt sich dabei der Begriff der Vermittlung unter der Hand gegen sein historisch-gesellschaftliches Interesse. Die Literaturkritik droht nun, folgt man der Argumentation Müllers, zum bloßen Affirmationsritual bestehender Herrschaftsverhältnisse oder regelgeleiteter Normfixierungen instrumentalisiert zu werden.Topos24 Literaturkritik verlöre damit ihre Kritikfähigkeit, und unklar bleibe, warum die ursprüngliche Vermittlungsfunktion der Literaturkritik Literatur nicht selbst übernehmen könne, weshalb Literaturkritik überhaupt noch notwendig wäre. Beide Formen von Revokationsschüben, die kryptotheologischen und die kritikdeprivierenden, entwickeln sich aus der irenischen Funktion der Literaturkritik, sie lösen sich von dem Nostrifizierungsgedanken, verselbstständigen sich und kehren sich gegen die eristische und irenische Primärfunktion. Diese dreigliedrige Bewegung lässt sich im Text immer wieder aufweisen, das mag die Rezeption von Müllers Programm einer vermittelnden Kritik erschwert, wenn nicht sogar die produktive Adaption verhindert haben. Der Text ist aufgrund dieser wiederkehrenden Revokationsschübe irritationsgesättigt. Da MüllerMüller, Adam an seinem Kritikkonzept festhält, ist es erforderlich, diese Gefahren zu beschreiben, aber auch legitim, davon auszugehen, dass das Kritikkonzept nicht schlechthin desavouiert ist. Die Revokationsschübe sind substrukturelle Züge des Textes, die, indem sie ihren eigenen Ansatz immer wieder unterlaufen, deutlich machen, mit welchen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten die LiteraturkritikLiteraturkritik des frühenPoetik 19. Jahrhunderts in ihrer Emanzipation von der Literaturkritik der Aufklärung zu rechnen hatte. Weit davon entfernt, eine kritikimmune, geschlossene Systematik liefern zu wollen, zeigt Müllers Text, dass Kritik nur dann Kritik ist, wenn sie noch kritikfähig bleibt, andernfalls würde sie zum Dogma. Damit erfüllt Müllers Programm der vermittelnden Kritik selbst eine mediatorische Funktion, was für die literaturhistorische Betrachtung unter der Frage nach diachroner Kontinuität oder Diskontinuität aufschlussreich ist.