Читать книгу: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», страница 44

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Müllers VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur stehen am Ende einer langen Debatte um den Geschmacks- und Kunstrichterbegriff und zugleich am Beginn einer neuen Kritikdiskussion. Das Programm der vermittelnden Kritik, in erster Linie der Gedanke der Nostrifizierung, unterstreicht die endgültige Verabschiedung der aufklärerischen Literaturkritik, die längst, ihren emanzipatorischen Ursprung vergessend, zum Regelkritizismus erstarrt war. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich die literarische Kritik von einer normativen Poetik zu emanzipieren versucht.25 GottschedGottsched, Johann Christoph konstituierte die rationalistische Literaturkritik unabhängig von der philologischen TextkritikTextkritik neben der Philosophie als weitere Vernunftwissenschaft. Für die Literaturkritik ist nicht mehr die Verpflichtung auf antike Autoren oder sakrosankte Texte und Autoritäten konsensbildend, sondern allein die Allgemeingültigkeit vernünftiger Regeln. In seinem Versuch einer Critischen DichtkunstVersuch einer Critischen Dichtkunst (1730) schreibt Gottsched: Unter einem Kriticus „verstehe ich nämlich nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren, oder Grund anzeigen kann“26. Synonyme für den Begriff Kunstrichter sind „philosophische Poeten“ und „poesieverständige Philosophen“.27 Ein Kritiker ist also derjenige Philosoph, der darüber „nachzugrübeln“ verstehe, „woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist; dieses wohl, jenes aber übel gefällt“.28 In der Vorrede zur zweiten Auflage von 1737 kann GottschedGottsched, Johann Christoph seinen Kritikerbegriff bereits als elementaren Bestandteil des literaturkritischen Diskurses voraussetzen:

„Das Kritisiren ist seit einigen Jahren schon gewöhnlicher in Deutschland geworden, als es vorhin gewesen: und dadurch ist auch der wahre Begriff davon schon bekannter geworden. Auch junge Leute wissens nunmehr schon, daß ein Kriticus oder Kunstrichter nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gedanken; nicht nur mit Sylben und Buchstaben, sondern auch mit den Regeln ganzer Künste und Kunstwerke zu thun hat. Man begreift es schon, daß ein solcher Kritikus [!] ein Philosoph seyn, und etwas mehr verstehen müsse als ein Buchstäbler; der nur verschiedene Lesarten, oder besser zu sagen, die Schreib- und Druckfehler sammlen.“29

Die „unveränderliche Natur der Menschen“ und „die gesunde Vernunft“ bilden jene Bezugsgrößen, an denen sich die LiteraturkritikLiteraturkritik zu orientieren hat.30 Christlob MyliusMylius, Christlob rekapituliert 1743 das Primat der Kritik über die Literatur: „Die Critik […] erweist, und setzt die Regeln feste, die ein Schriftsteller beobachten muß, damit sie keinen ungegründeten Ausspruch abfasse“31. Die Kritik wird als Lehrerin, Richterin, Auslegerin und Verbesserin bezeichnet,32 „die Critik ist eine Wissenschaft, eine gründliche Einsicht und Erkenntniß“33. Jakob Immanuel PyraPyra, Jakob Immanuel geht 1744 noch einen Schritt weiter, indem er die Grenzen für denjenigen, „der über andre nach den Regeln urteilen will“, klar benennt: „Niemals darf er sich an die von GOtt oder der Obrigkeit bestätigte Ordnung vergreifen“.34 Selbst wenn so energisch wie in MeiersMeier, Georg Friedrich Abbildung eines KunstrichtersAbbildung eines Kunstrichters (1745) das Recht auf „critische Freyheit“35 eingefordert wird, geschieht dies immer unter dem Vorbehalt der Unantastbarkeit der eigenen kunstrichterlichen Position wie der Unumstößlichkeit staatlicher und religiöser Normen.36 Der Protest von Michael Conrad CurtiusCurtius, Michael Conrad (1753) gegen das Verfahren, Literatur „nach den Regeln der philosophischen Sittenlehre“37 zu beurteilen, mit dem Hinweis darauf, dass die Dichtkunst ihre eigene Sittenlehre habe, die sich „nicht so sehr nach den Gesetzen der Weltweisheit, als nach den Begriffen des Volks richtet, für welche der Dichter schreibt“38, bleibt folgenlos. GellertGellert, Christian Fürchtegott sagt in einer Rede von 1756: „Gute Regeln sind Vorschriften der gesunden Vernunft, die sich auf die Natur der Sache und auf die Erfahrung gründen“39. Die Regeln werden das Echo der Vernunft genannt und als Stimmen der Natur definiert, die guten Regeln als Anordnungen der Vernunft und der Natur, die Kritik ist die vom Geschmack angewandte Regel.40 Mit Gellert erreicht der Regelkritizismus einen Höhepunkt.

Diese notgedrungen fragmentarischen Hinweise41 veranschaulichen, dass der Prozess der EmanzipationEmanzipation der LiteraturkritikLiteraturkritik von einer normativen Poetik zu Beginn des siècle lumières sich früh vom bürgerlichen EmanzipationsprozessEmanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert abkoppelt, sich nicht stabilisiert und sich sein ursprünglich progredierendes Interesse in ein regredierendes Interesse verkehrt. Diese exponierten Standpunkte regulativer Literaturkritik entfalten die Kontrastfolie, vor der sich die eigentliche Leistung des programmatischen Begriffs der vermittelndenPoetik Kritik Adam MüllersMüller, Adam abhebt. Die VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur markieren einen Wendepunkt in der deutschen Literaturkritik; die unhinterfragbaren Berufungsinstanzen des Kritikers sind nicht mehr die Natur des Menschen, die gesunde Vernunft oder die gute Regel, sondern Verständlichkeit, Klarheit und Zugänglichkeit des Textes (vgl. S. 117), Kategorien also, die nicht apriorisch im Text begründet liegen, sondern kontextbezogen je neu erschlossen werden müssen. Müller beschreitet dabei den Grat zwischen spekulativem Räsonnement und präskriptiver Rezeptur, dies muss man kritisch festhalten, doch vollzieht er einen Perspektivenwechsel, der in der Binnenkritik der AufklärungAufklärung angelegt war. Das Engagement des Literaturkritikers soll sich nicht mehr mit apriorischen Wahrheiten, sakrosankten Normen und kunsttheoretischen Hypertrophien verbünden, sondern wird dem bürgerlichen Begriff des republikanischen Kunststaates, dessen Gesamt die Literatur, dessen Bürger das BuchBuch ist, zugeordnet. Jedes Buch hat das prinzipielle Recht auf Aufnahme in den Kunststaat, die der Kritiker vermittelt. Entkleidet man diesen Gedanken Müllers seiner Metaphorik, zeigt sich ein reichlich dürres Skelett, denn es muss natürlich eine Form des stillschweigenden Konsenses darüber geben, mit welcher nicht eigens thematisierten Vorbedingung diese Einbürgerung verknüpft ist. Die normative Kritik benannte zumindest, was Müller zu verschweigen scheint. In seinen gleichfalls 1806 gehaltenen Vorlesungen Über die dramatische KunstÜber die dramatische Kunst schreibt er über die Pflichten des Kritikers:

„Es ist nur zweite, untergeordnete Pflicht des Kritikers, die unmittelbare Einsicht in die Werke der Poesie zu geben. Aber mit seinem Publikum gemeinschaftlich und (wie der Lustspieldichter) nie ohne Rücksicht auf Meinungen und Einwendungen des Publikums die Augen der Seele zu klären und zu schärfen, gemeinschaftlich mit dem Publikum das Herz zu beleben und so den echten Eingang in die Poesie zu öffnen, das ist des Kritikers erste Pflicht“ (S. 248).

Im Mittelpunkt der Aufgabenbeschreibung eines Literaturkritikers steht nicht mehr die Belehrung des unkundigen und unmündigen Publikums, sondern das Bündnis zwischen Publikum und Kritiker lenkt den Blick des Publikums einerseits von der Regelfixierung, andererseits von der Geniezentrierung weg auf die Vermittlung von LiteraturLiteratur bzw. LiteraturkritikLiteraturkritik und Gesellschaft. In die Vermittlung wird die Darstellung des Zusammenhangs von poetischer Produktion, ökonomischer Kondition und politischer Situation involviert. Das ursprünglich zu Beginn des 18. Jahrhunderts erkämpfte Recht auf allgemeine kritische Freiheit wird endgültig zum Postulat bürgerlicher politischer Freiheit. Zwischen diesem Anspruch und der historischen Wirklichkeit soll die Kritik vermitteln.

MüllerMüller, Adam enthält sich jeder revolutionären Rhetorik, das Pathos seiner VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur speist sich eher aus mystifikatorischen Quellen. Denn die vermittelnde Kritik destruiert nicht, trotz der ihr abverlangten politischen Tiefenschärfe, Herrschaft, sondern sie ist „ewige Vermittlung zwischen Freiheit und Gesetz, zwischen Herrschaft und Gehorsam“ (S. 117). Freiheit heißt für Müller zuallererst frei sein „von jeder ausschließenden Regel“ (S. 241), der Künstler soll sich „frei von jeder unbedingten Autorität […] bewegen und soll mit immer wachsendem Willen, mit immer steigender Kraft trotz allen früheren Jahrhunderten, trotz allen verehrten Namen – seine Gegenwart, seine Zeit und sich selbst geltend machen“ (S. 241f.), so lautet die Formulierung in der Schrift Über die dramatische KunstÜber die dramatische Kunst. Garant dieser Freiheit ist für den Schriftsteller der Literaturkritiker, der diese Freiheit sozusagen reterritorialisiert. Das ist die entscheidende Seite von Müllers Nostrifizierungsgedanken, die Vermittlung von künstlerischer Freiheit und historisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit durch die Literaturkritik auf der Grundlage ihrer eristischen und irenischen Funktion.

Die produktive RezeptionRezeption oder Adaption von Müllers Begriff der vermittelnden Kritik ist ausgeblieben (soweit man dies unter Vorbehalt der derzeitigen Forschungslage sagen kann). Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich widmete in den Heidelbergischen Jahrbüchern von 1808 den Vorlesungen Müllers eine ausführliche Besprechung. Er hält den Term vermittelnde Kritik für einen Pleonasmus, da jede Kritik notwendig eine vermittelnde sei.42 Indem er darauf verweist, dass die eigentlichen Gegenstände der Kritik Poesie und Kunst seien, entpolitisiert er erstens MüllersMüller, Adam Kritikbegriff, dies umso mehr, als das „Meisterstück“ der Kritik sei, „die Gebilde und Gewebe des philosophischen Geistes zu deuten und zu entwirren“.43 In der fünften Vorlesung hatte sich Müller in scharfer Polemik, die eristische Funktion des Vermittlungsbegriffs ausübend, gegen jene „Zeitgenossen“ gewandt, denen es als „Entweihung“ gelte, „wenn man auf den Lustplätzen der Poesie jener Sorgenstätten des häuslichen Lebens, wenn man unter den Spielen sogenannter moralischer Freiheit der düstern, harten physischen Schranken des bürgerlichen Lebens, seiner Gesetze und Konvenienzen gedenkt“ (S. 54). Unversöhnlich wirft er der deutschen Philosophie, und mutatis mutandis gilt dies auch für die Literatur, wie aus dem Kontext hervorgeht, „Vernachlässigung des gesellschaftlichen Zustandes der Welt und seiner Bedingungen“ (S. 54) vor.44 SchlegelSchlegel, Friedrich setzt der vermittelnden Kritik den Begriff der philosophischen Kritik entgegen, das Epitheton solle auf „das freie Studium der Ideen“45 verweisen. In der Sache bedeutet dies zweitens die Enthistorisierung von Adam Müllers Kritikbegriff. Historische Ansicht, moralisches Urteil und kritische Ansicht werden voneinander abgegrenzt, „die kritische Ansicht darf nicht so ganz in die historische verfließen, als Herr A. Müller es zu wollen scheint“46. Was die eristische und die irenische Funktion der LiteraturkritikLiteraturkritik betrifft, meint Schlegel: „Die philosophische Kritik ist an und für sich weder polemisch noch irenisch, sondern sie ist beides zugleich“47. Die Zusammengehörigkeit beider Funktionen darzustellen war aber gerade die Intention von Müllers VorlesungenVorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur. In einem Punkt ist Schlegels Kritik allerdings zuzustimmen: Da das Christentum der Mittelpunkt von Müllers Ausführungen sei, werde der harmoniebedürftige, versöhnende „Charakter der höhern Kritik […] in einem ganz allgemeinen, beinah mystischen Sinne“48 gebraucht, der die eigentliche Idee der Vermittlung verdunkle und wesentliche Missverständnisse produziere. Auf die LiteraturLiteratur seiner Zeit blickend, fordert SchlegelSchlegel, Friedrich: „Diese ästhetische Träumerei, dieser unmännliche pantheistische Schwindel, diese Formenspielerei müssen aufhören“49. Kontrastiert man diese binnenästhetische Forderung mit dem politischen Postulat des Ältesten Systemprogramms des deutschen IdealismusÄltestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, das lautet: „jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören“50, dann wird deutlich, welche politische Bedeutung ein literaturkritisches Vermittlungskonzept müllerscher Provenienz besitzt. Es liegt in der Konzeption von MüllerMüller, Adams Vermittlungsbegriff, dass diese Denkfigur keine Akzeptanz erfuhr, und darin kann man auch einen Aspekt seiner Schwäche sehen. Die Funktion der Vermittlung ist dann erfüllt und damit entbehrlich, wenn die Vermittlung zur Darstellung gelangt ist. Oder anders formuliert, vermittelnde Kritik ist dann als Vermittlung erschöpft, wenn sie vermittelt ist. Das literaturkritische Vermittlungskonzept Müllers erleidet in dem Augenblick eine Funktionsinsuffizienz, wo die eristisch-irenische Funktion durch die Nostrifizierung funktionslos geworden ist. Zu fragen bliebe, ob dieses Schicksal nicht jeder Funktion von LiteraturkritikLiteraturkritik droht.

Mörike Mozart auf der Reise nach Prag (1855)

MörikesMörike, Eduard MozartMozart auf der Reise nach Prag-Novelle gehört wohl zu den meistinterpretierten und bestinterpretierten Erzählungen der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte.1 Und doch ist es bemerkenswert, dass sich manche Text-Details bislang dem interpretativen Blick verstellt haben. Deshalb will ich die berühmte Gartenszene einer MikrolektüreMikrolektüre unterziehen und sie als eine Art literarische Psychografie verstehen. Erschöpfend ist dies allemal nicht, und man kann bei jedweder weiteren Lektüre immer neue Details erkennen, die zuvor überlesen wurden.

Die Novelle Mozart auf der Reise nach PragMozart auf der Reise nach Prag erscheint in zwei Teilen in der Juli- und der Augustausgabe 1855 des Morgenblatts für gebildete Leser. Eine Buchausgabe wird unmittelbar danach veröffentlicht. Anlass ist MozartsMozart, Wolfgang Amadeus 100. Geburtstag im Jahr 1856. Als Mörike am 6. Mai 1855 das nahezu vollständige Manuskript der Novelle an seinen Verleger Georg von CottaCotta, Georg von (1796–1863) schickt, schreibt er in einem Begleitbrief:

„Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde Mozarts (das erste seiner Art so viel ich weiß) aufzustellen, wobei, mit Zugrundlegung frei erfundener Situationen vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger concentrirter Anschauung gebracht werden sollte. […] Das Büchlein könnte als Vorläufer der im Januar 1856 einfallenden Feier des hundertjährigen GeburtsTags Mozarts betrachtet und angekündigt werden […]; und versichern darf ich hier, nie etwas mit mehr Liebe und Sorgfalt gemacht zu haben.“2

MörikeMörike, Eduard wünscht sich von seinem Publikum Heiterkeit und wehmütige Rührung, womit bereits Merkmale einer biedermeierlichenBiedermeier Ästhetik umrissen sind.

Der Autor verfolgt ein doppeltes Anliegen. Einmal will er eine literarische Charakteristik der Person MozartsMozart, Wolfgang Amadeus liefern, zum anderen führt er einen teils unterschwelligen, teils deutlichen ästhetischen Diskurs über Fragen einer angemessenen RezeptionRezeption von Kunst. In diesem Zusammenhang geht es selbstverständlich dann auch um das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft. Wem die Sympathien des Autors gelten, ist von Beginn an offensichtlich. Auch die Absicht einer Charakteristik Mozarts enthüllt sich dem Leser schnell. Als Referenzwerk dient Mörike die Mozart-Biografie von Alexander OulibicheffOulibicheff, Alexander Mozart’s LebenMozart’s Leben (dt. Übersetzung: Stuttgart 1847). Im Text selbst verweist Mörike auf diesen Zusammenhang, wonach sich seine literarische Ausgestaltung auf ein anderes Buch stützt, denn er spricht in Parenthese von „dem unserer Darstellung zugrunde liegenden Bericht“3.

Mörike ist ein Liebhaber mozartscher Musik, schon als Tübinger Student hat er dessen Kompositionen verehrt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die literarische Charakteristik der Novelle mit dem hohen Ton der „Bewunderung“ (S. 914)4 für den Tonkünstler Mozart verbindet.

Ganz nebenbei klärt sich bei der Beschäftigung mit Mörikes MozartMozart, Wolfgang Amadeus eine bislang dunkel gebliebene Bemerkung. Mörike hält in seinen Notizen und EinfällenNotizen und Einfälle auf einem Zettelchen den nach 1854 entstandenen Satz fest: „Der unbekannte Verfasser der Mozartsch ψευδοσυμφονία C MOLL“5. Die Historisch-kritische Mörike-Ausgabe schreibt dazu: „Unbekannter Sachverhalt“ (Mörike: WuBr, Bd. 7, S. 677). Und weiter: „Ein entsprechendes Werk ist in Ludwig von Köchels ‚Chronologisch-thematischem Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts‘ (8. Aufl., bearb. v. Franz Giegling, Gerd Sievers und Alexander Weinmann, Wiesbaden 1983) nicht nachgewiesen“6. Das ist auch schwerlich möglich, denn natürlich hat MozartMozart, Wolfgang Amadeus keine Symphonie in c-moll komponiert, sondern MörikeMörike, Eduard spielt hier auf einen anderen Mozart an, deshalb spricht er von pseudosymphonia. Er meint jenen Dichter und Komponisten, der auch als der Odenwälder oder der Badener Mozart bezeichnet wurde, Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin (1756–1792). Vom Berliner Tagesspiegel wurde er am 20. Juni 2006 sogar zum „Gegen-Mozart“ erklärt. Kraus komponierte im mozartschen Stil, und von ihm gibt es eine Symphonie in c-moll, op. 142, aus dem Jahr 1783. Kraus ist nicht nur schwedischer Hofkapellmeister und ein anerkannter Komponist geworden, sondern er stand auch mit den Dichtern des Göttinger HainGöttinger Hain in enger Verbindung und verfasste selbst ein Sturm-und-Drang-Sturm und DrangDrama namens TolonTolon (1776)7. Kein Geringerer als Joseph HaydnHaydn, Joseph (1732–1809) schrieb über die c-moll-Symphonie von Kraus: „Ich besitze von ihm eine seiner Sinfonien, die ich zur Erinnerung an eines der größten Genies, die ich gekannt habe, aufbewahre. Ich habe von ihm nur dieses einzige Werk, weiß aber, daß er noch anderes Vortreffliches geschrieben hat“8. Haydn und Kraus begegneten sich im Oktober 1783, als Kraus auf Europareise war und Halt auf Schloss Esterházy in Eisenstadt machte. Die c-moll-Symphonie ist in Wien komponiert und Haydn gewidmet.

Zurück zu Mörikes Text: Der historische Rahmen der Novelle ist dünn, worin sich wiederum Mörikes klare Absicht einer Charakteristik spiegelt. Literatur ist kein Ersatznarrativ für Geschichtsschreibung. Der historische Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) ist im Oktober 1787 zusammen mit seiner Frau ConstanzeMozart, Constanze (1762–1842) auf der Fahrt von Wien nach Prag. Am Ersten des Monats fährt er ab, am Vierten kommt er an. Anlass der Reise ist die Uraufführung seiner Oper Don GiovanniDon Giovanni im Prager Nationaltheater am 29. Oktober 1787 unter MozartsMozart, Wolfgang Amadeus Dirigat. Im Frühjahr dieses Jahres hatte er erst mit der Komposition begonnen.

MörikeMörike, Eduard nimmt die Rolle eines auktorialen Erzählers ein. Er weiß über das Innenleben seiner Figuren bestens Bescheid und vermag so die einzelnen kleinen Episoden souverän zu arrangieren.

Die Rahmenhandlung besteht in der Schilderung von Mozarts Reiseaufenthalt in einem kleinen böhmischen Dorf und dem dortigen Schloss des Grafen von Schinzberg. Der erzählerische Tempuswechsel in der Eingangspassage der Novelle schafft eine Gegenwärtigkeit des Erzählten, der auf der inhaltlich-thematischen Seite die Unmittelbarkeit ästhetischer Anschauung korrespondiert. Denn der Leser wird Zeuge, wie einige kleine Melodien und musikalische Ideen Mozarts entstehen. Die Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit verdichten sich schließlich auf einer dritten, der erzählerischen Ebene, indem der Autor gleichmäßig und regelmäßig das Geschehen kommentiert und mit aktuellen Reflexionen über Momente ästhetischer Erfahrung verknüpft. Diese Ruhe der Gegenwart steht in deutlichem Kontrast zur Eile des Lebens, wie sie Mozart erfährt, und zur Rastlosigkeit des Musikgeschäfts.

Die Charakterisierung Mozarts fällt sehr differenziert aus. Mörike nennt sie eine „schmerzliche Betrachtung“ (S. 914), weil sie bereits die Ursachen für Mozarts frühen Tod benennt. Mozart ist zutiefst empfindsam, er ist ein Suchender nach dem Inhalt seines Lebens, er ist als Künstler unbefriedigt, er ist gesellig bis zur Selbstaufgabe, ohne Maß und Ziel. Hinzu kommen Schwermut, Trübsinn und Gram, verbunden mit der Ahnung eines frühen Todes. „Allmittelst geht und rennt und saust das Leben hin – Herr Gott! bedenkt man’s recht, es möcht einem der Angstschweiß ausbrechen“ (S. 914), klagt er. Das Wort Angstschweiß verweist bereits auf den Todesschweiß. Denn der Erzähler interveniert, nennt Mozarts Reflexionen eine „Selbstanklage“ (S. 914) und weist nun explizit auf dessen frühes Ende hin. Mörike fügt ein knappes Psychogramm Mozarts ein und hebt die prekäre ökonomische Situation hervor. Über die Musik Mozarts heißt es, sie sei die durch Fülle und Tiefe gekennzeichnete „lauterste Schönheit“ (S. 917), ein Begriff, der entscheidend dadurch kontrastiert wird, dass der Gedanke zu sterben ihn verfolgt „wie eine endlose Schraube“ (S. 917). Die Naturstimmung und das religiöse Gefühl werden durch ein mechanisches Bild abgelöst.

Der Garten wird zu einem symbolischensymbolisch Ort. Als gezähmte Natur steht er in Kontrast zum Tannenwald der Berghänge um das Dorf herum, durch den zuvor Mozart mit seiner Frau einen Spaziergang gemacht hatte. Dort war es die wilde Natur, „die grüne Wildnis“, die „Tannendunkelheit“ und die „Finsternis“ (S. 911), wie es Figur und Erzähler nennen. Zugleich wird aber die erfrischende Kühle gegen die spätsommerliche Glut außerhalb des Waldes und in der Kutsche gesetzt. Erst MozartsMozart, Wolfgang Amadeus Ausruf: „man ist als wie in einer Kirche!“ (S. 912), macht die hohen Baumstämme zu Säulen einer Kathedrale. Das quasireligiöse Gefühl von Ergriffenheit oder Spiritualität ist zugleich Vorbedingung für den schöpferischen Akt des Komponierens. Mozart pflückt einen Pilz – der Beschreibung nach ist es ein Giftpilz, er hat einen hochroten Schirm und weißliche Lamellen (vgl. S. 912), nicht auszuschließen, dass dies ein Fliegenpilz ist. Auf der symbolischen Ebene wird damit bereits das schleichende Ende des Komponistengenies Mozart vorweggenommen. Alles, was er nun noch sagt oder komponiert, sagt oder komponiert er gegen die verbleibende restliche Lebenszeit und der Ahnung eines frühen Todes. Mozart verspürt die Sehnsucht nach einem anderen Leben, das durch Pflichten und Rücksichten verstellt ist und nicht gelebt wird. Die Rückkehr in die Naturkathedrale des Waldes lässt Mozart die Last der gesellschaftlichen Zwänge spüren. Insofern nimmt diese Charakterisierung in Anspruch, die unverstellte und nicht-gezähmte Beschreibung von Mozarts wahrer Natur zu sein. Mörike korreliert die Beschreibung der äußeren Natur mit der Schilderung der inneren Natur der Hauptfigur. Wie dieses Gleichgewicht von innerer und äußerer Natur in Schieflage gerät, schildert der Autor später, als Mozarts Frau über einen Spaziergang ihres Mannes in Wien berichtet: „Die schöne Ruhe der äußern Natur widersprach seinem innern Zustand“ (S. 951), heißt es dann.

Wenn später in der Gartenszene die Pomeranze bzw. die Orange als SubstitutionssymbolSymbol für den paradiesischen Apfel des Gartens Eden gelesen wird, dann muss man zuvor einen Vogel beachten, der leicht zu übersehen ist. Im Tannenwald sitzt ein „Gimpel“ (S. 912) – sofern man ausschließen will, dass Mozart an dieser Textstelle von sich selbst, eben pejorativ spricht. Der Gimpel oder auch Dompfaff genannt gilt in der religiösen Ikonografie als ein Bewohner, mithin als SymbolSymbol des Paradieses, das Mozart im Tannenwald begegnet. Vielleicht war MörikeMörike, Eduard auch vom Gedicht GimpelglückGimpelglück aus Des Knaben WunderhornDes Knaben Wunderhorn (1805/08) beeindruckt oder kannte Heinrich HeinesHeine, Heinrich Gedicht GimpelschmerzGimpelschmerz aus dem Buch der LiederBuch der Lieder (1827). Jedenfalls wird vor der Frucht in der kulturell überformten mobilen Gartenorangerie das Tier genannt, vor dem Sündenfall steht das Paradieserleben. Damit beginnt das, was Braungart die „Auslegungsgeschichte der paradiesischen Szene im gräflichen Garten“9 genannt hat, bereits im Naturkirchenraum des Tannenwalds am Beginn der Erzählung. In deren Eingangspassage wird von MozartsMozart, Wolfgang Amadeus ausgeprägter Sehnsucht nach einem anderen Leben berichtet. Sie wird auf der symbolischen Ebene durch den Gimpel als entscheidendes erstes Glied einer Verweistextur vertreten, die sich in dem PomeranzensymbolSymbol fortsetzen wird. Aber diese Sehnsucht – mit ihrem Herkunftsort des Paradieses – ist bereits durch den Tod bedroht, noch ehe – theologisch gesehen – Mozart die Entscheidung treffen konnte, vom Baum des Lebens oder vom Baum der Erkenntnis zu essen (vgl. 1. Mose 2, 9ff.).

Danach folgen eine ausführliche Charakterisierung Mozarts und einige Worte über die Entstehungsbedingungen der Oper Don JuanDon Juan. Dies schließt mit der Bemerkung des Erzählers ab, dass Mozart die „bunten Seifenblasen einer erträumten Zukunft“ (S. 922) niemals erlebte. Mörike reflektiert hier also auf die Funktion von Tagträumen, in die Mozart sich versenkt, und die auch in der Gartenszene als Attribut ‚träumerisch‘ gegenwärtig sind. Das ParadiessymbolSymbol Gimpel verweist in der Novelle auf den Tagtraum Zukunft, der sich als Wunschfantasie herausstellt, womit eine wichtige Funktion des Tagtraums bezeichnet ist: die Wunscherfüllung.

Dass LiteraturLiteratur seit jeher in Analogie zu Tagträumen gesetzt werden kann, ist nun keine neue Erkenntnis. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich nennt beispielsweise das fünfte Kapitel seines LucindeLucinde-Romans (1799) mit dem Titel Allegorie von der FrechheitAllegorie von der Frechheit explizit einen ‚wachenden Traum‘.10 Der Protagonist Julius lässt darin verschiedene Frauen- und Männergestalten auftreten, die unter anderem die öffentliche Meinung, die anakreontischeAnakreontik Schäferlyrik, die Frechheit und Delikatesse, die schöne Seele, die Sittlichkeit, die Bescheidenheit und Dezenz sowie die „allmächtige Fantasie“11 repräsentieren. Letztlich läuft dieser AllegorieAllegorienreigen auf die Opposition von – modern formuliert – Provokation und Anpassung hinaus.

Und dass die Beschäftigung mit Traumtheorien für die Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu konstitutiv ist, erklärt möglicherweise, weshalb sich ein Autor wie MörikeMörike, Eduard intensiv mit Fragen von Somnambulismus, von Geistererscheinungen, von Tagträumen und Prophezeiungen etc. beschäftigte. Okkulte Phänomene interessierten Mörike bekanntlich. Eine Zeitlang las er intensiv Bücher zu einschlägigen Themen. Zu dieser grundsätzlichen psychologisch-parapsychologischen Offenheit tritt bei Mörike die wissenschaftliche Neugier. Nachhaltig gefördert wird sie durch den schwäbischen Arzt und Dichter Justinus KernerKerner, Justinus (1786–1862). Mörike sammelt Beobachtungen und stellt sie teilweise Kerner als empirische Studien zu okkulten Phänomenen zur Verfügung. Beschreibungen von Geistererscheinungen und Traumdeutungen gehen hier fließend ineinander über.

Was Mörike in der Gartenszene der Mozart-Mozart auf der Reise nach PragNovelle beschreibt, wird Maximilian PertyPerty, Maximilian wenige Jahre später im Abschnitt Fernsehen im TraumeFernsehen im Traume als die „epimetheischen oder rückschauenden Träume“ bezeichnen, die „viel seltener“ seien als die prometheischen oder vorausschauenden Träume.12 Bei Mörike führt 1861 das Studium von Pertys Buch Die mystischen Erscheinungen der menschlichen NaturDie mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dieser spätromantischen Traumtheorie. Nach Friedrich NottersNotter, Friedrich Bericht hatte Mörike sein Exemplar des Buchs mit zahllosen Randbemerkungen versehen. Leider ist es nicht erhalten.13 Mörike rezipiert Pertys Traumtheorie, die im Wesentlichen eine Sammlung zahlreicher Fallbeispiele aus der Geschichte und der LiteraturLiteratur ist und nur wenige theoretische Reflexionen enthält, und skizziert unter anderem den Aufsatz Fernsehen im Träumen.14

MörikesMörike, Eduard Text Zwei mystische Thatsachen als Beitrag zu den Studien des Herrn Prof. Max PertyZwei mystische Thatsachen ist die Druckvorlage für seinen Essay Aus dem Gebiete der SeelenkundeAus dem Gebiete der Seelenkunde, der 1861 entstanden ist und im gleichen Jahr auch veröffentlicht wurde. Mörike beschreibt darin u.a. jenes Traumphänomen, das von Perty als prometheischer Traum oder als Fernsehen im Traum bezeichnet wird. In der Druckvorlage schreibt er im Manuskript den so nicht übernommenen Schlussabsatz:

„Ich [gestrichen: hatte] suchte damals die auf mich gemachte Wirkung dieser Action aus einem momentanen und unvollkommenen Fernsehen im Traume zu erklären. Ich dachte mir, die Seele bekam oder gab vielmehr sich selbst ihre Wahrnehmung sinnlich durch einen scheinbar äußeren Eindruck zu fühlen; ihr Schauen war dabei nur eine dunkle, ganz verworrene Vorstellung, die ihr im Entstehen gleich wieder verschwand. Seit ich jedoch das Werk von Perty kenne ‚Die mystischen Erscheinungen der menschl. Natur‘, bin ich fast überzeugt, daß hier ein unbewußtes Magische von der weiblichen Seite sein Spiel getrieben.“15

Im Kapitel Verschiedene Formen des magischen Erkennens von Pertys Buch findet sich der Abschnitt Das Fernsehen im Traume, auf den sich Mörike bezieht. PertyPerty, Maximilian unterscheidet drei Arten des Fernsehens im Träumen. Erstens „Träume, in welchen eben Geschehendes geschaut wird“16, zweitens die prometheischenPrometheus (oder vorausschauenden) Träume und drittens die epimetheischen (oder zurückschauenden) Träume. Auch in diesem Kapitel sind die theoretischen Überlegungen Pertys garniert mit zahlreichen Fallbeispielen aus der Literatur, genauer aus der KulturgeschichteKulturgeschichte des Traums. In der Vorrede zu seinem Buch legt Perty dar, dass die Phänomene des magischen Lebens teilweise „auf einer andern Ordnung der Dinge als der Natur, in welcher Raum, Zeit und Causalität gelten“17, beruhen. Man könne mit ihnen nicht experimentieren, sondern sie lediglich beobachten, und – wenn sie sich der Beobachtung darböten – in analogen Reihen zusammenfassen, Gesetzmäßigkeiten generieren; man müsse dafür offen bleiben, über das sinnlich Beweisbare hinaus zum Unbekannten fortschreiten zu können.18 PertyPerty, Maximilian positioniert sich damit durchaus noch, wenngleich auch am Ende, im romantischenRomantik Traumdiskurs. Dann gelangt er zu einer erstaunlich nüchternen, psychologischen Feststellung: „Die Götter-, Engel- und Dämonenwelt ist nur die Reflexion der innern Welt des Menschen in der Geschichte“19. Dieser Pragmatismus mag MörikeMörike, Eduard angezogen haben, der sich doch erheblich von Kerners naturphilosophischen Spekulationen unterscheidet. Dem Menschen, so Pertys Schlussfolgerung, wohne eine magische Kraft inne. Erst durch die Annahme eines magischen Seelenlebens könne ein vollständiger Begriff der menschlichen Natur gewonnen werden.

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