Verloren und Gefunden

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Verloren und Gefunden

Mary Elizabeth Braddon

Inhaltsverzeichnis

Erstes Capitel

Zweites Capitel.

Drittes Capitel.

Viertes Capitel.

Fünftes Capitel.

Sechstes Capitel.

Siebentes Capitel.

Achtes Capitel.

Neuntes Capitel.

Zehntes Capitel.

Elftes Capitel.

Zwölftes Capitel.

Dreizehntes Capitel.

Vierzehntes Capitel.

Fünfzehntes Capitel.

Sechszehntes Capitel.

Siebzehntes Capitel.

Achtzehntes Capitel.

Neunzehnten Capitel.

Zwanzigstes Capitel.

Einundzwanzigsten Capitel.

Zweiundzwanzigster Capitel.

Dreiundzwanzigstes Capitel.

Impressum

Erstes Capitel

Bilderhandel

Es war ein glühend heißer Tag im August. Die Sonne, die seit dem frühen Morgen am wolkenlosen Himmel stand, sendete ihre Flammenstrahlen nieder, bis das Pflaster der Straßen und Gassen in der großen Weltstadt dem milden Fußgänger unter den Füßen brannte.

Wer hätte in einer solchen Zeit, wie diese, in London bleiben mögen, wenn er nicht durch die eiserne Hand der Verhältnisse zurückgehalten wurde. Wer hätte in dem ungeheuren Steinlabyrinth verweilen mögen, ausgenommen die Armen, die eine Niete in der Lotterie des Lebens gezogen, die den ewigen unveränderlichen Kampf um das tägliche Brod zu kämpfen haben?

Mitten unter den vielen Ringern um diesen ärmlichen Preis, mitten unter den Unglücklichen, die um das tägliche Brod kämpfen, wie reichere Menschen sich um Titel und Ländereien, um Ehre und Ruf, um die Gunst eines Königs, oder um die Bewunderung einer Nation bemühen, mitten unter den zahllosen Geschöpfen der Erde, die einander nur das elende Vorrecht eines freudlosen Lebens streitig machen, trabte ein junger Mann, der etwas in einem grünen Tuche unter dem Arme trug, an diesem heißen Augustnachmittag durch die Straßen von London.

Er war hübsch und trotz seines sehr abgetragenen ärmlichen Anzugs ließ sich nicht ganz verkennen, daß er den besseren Ständen angehörte.

Aber in diesem blassen olivenfarbigen Gesicht, in den düstern Tiefen dieser dunkelgrauen Augen lag etwas, was nicht angenehm anzusehen war.

Dieses Etwas war Verzweiflung.

Verzweiflung war so deutlich aus dem Gesichte des Mannes ausgeprägt, als wären die Buchstaben, aus denen das Wort besteht, mit einem glühenden Eisen aus seiner Stirne eingebrannt gewesen.

Trotz und Verzweiflung hatten um die Oberhand in der Brust dieses Mannes gekämpft. Er hatte versucht, der Welt Trotz zu bieten, aber die Welt war stärker als er, gewesen Sie hatte ihm Brod verweigert. Sie hatte ihn dem Hunger preisgegeben, aber sie hatte ihn nicht erniedrigt. Er trug noch immer seinen Kopf hoch. Wäre er um des Brodes willen ein Betrüger, ein Dieb, ein Schurke geworden, so hätte ihn die Welt durch den Zwang des Hungers in die Verbrecherlaufbahn gestoßen. Insoweit aber war er stärker gewesen, als die Welt, und hatte bis jetzt noch nicht auf den Versucher gehört, obschon der Himmel weiß, daß er niemals an dem Laden eines Juweliers vorüberging, niemals das Blitzen von edlen Steinen in der Sonne zittern sah, ohne eine teuflische Stimme zu hören, die ihm zurief: »Für diese könntest Du Brod kaufen.«

Es ließ sich nicht annehmen, daß dieser starke Mann für sich allein Brod zu erhalten suchte. Er war dazu viel zu sorglos und gleichgültig, als daß er um dessentwillen Stunden lang auf dem heißen Pflaster durch die staubigen Straßen gewandert wäre. Er für seine Person war des Lebens müde, und er wäre zufrieden gewesen, sich in einem Winkel dieser Welt, in der er so schlimm behandelt worden, niederzulegen und zu sterben, oder er hätte das Handgeld der Königin genommen, um sich irgendwo im Dienste Ihrer Majestät erschießen zu lassen.

Für sich selbst war er ganz gleichgültig; aber zu Hause wartete ein kleines Wesen aus ihn, ein Kind von drei Jahren, das seit Tagen und Wochen von dem schrecklichen Gespenste des herannahenden Hungertodes bedroht war.

Der Name des Mannes, oder der Name, unter dem er Denjenigen bekannt war, mit denen er lebte, war Gervoise Gilbert. Er war ein Künstler, und das Packet, das er unter dem Arm trug, enthielt ein Bild, so frisch gemalt, daß die Farben kaum trocken waren.

Seit dem frühen Morgen hatte er versucht, das Bild zu verkaufen, von Straße zu Straße, von Laden zu Laden gehend, in der Hoffnung, einen Käufer zu finden. Er hatte sich an Bilder- und Möbelhändler und an Geschäftsleute gewendet, die mit allen Arten von Seltenheiten handelten und alte schmutzig und rauchig aussehende Bilder in ihren Ladenfenstern hatten, für die sie fabelhafte Preise verlangten; aber Niemand wollte etwas von seinem Bilde wissen, einer einfachen Skizze eines Kindes, das im hohen Gras einer Wiese saß, den Schoß volI Gänseblümchen.

Der junge Mann nannte sein Bild die Gänseblümchenkette und das Gesicht des Kindes war ein Portrait seines eigenen Sohnes, des kleinen Knaben, der auf die Nahrung wartete, die ihm sein Vater heimzubringen hoffte, des Kindes, das die Qualen des Hungers erduldete, während der Vater in den grausamen Straßen der großen Stadt umherlief.

Endlich, als der Mann so weit gegangen war, daß er vor Ermüdung kaum weiter konnte und im Begriffe war, mit leeren Händen nach seiner elenden Wohnung zurückzuschleichen, kam die ersehnte Hilfe.

Gervoise Gilbert war in eine ruhige Straße gekommen, wo die Läden zwar klein waren, aber ein ziemlich gutes Aussehen hatten. Er schritt langsam dahin, im Gehen rechts und links blickend, aber er sah keinen Laden, in welchem er sein Bild zum Verkaufe anbieten konnte.

Nein, es befanden sieh keine Trödler, keine Bilderhändler in dieser ruhigen Straße, und der junge Mann war im Begriffe sie zu verlassen, als der Anblick von drei goldenen Kugeln, das Zeichen, woran die Armuth ihren letzten Freund, den Pfandverleiher, erkennt, seine Aufmerksamkeit erregte.

»Das ist die lebte Hoffnung,« murmelte er: »einige Pfandverleiher weigern sich, Bilder wie das meinige anzunehmen; aber dieser Mann ist vielleicht besser, als die übrigen, ich will es versuchen.«

Der Laden war dunkel und düster und der Name J. Moulem stand über der Thüre angemahlt.

Mr. Moulem machte einigen Anspruch darauf, ein Juwelier zu sein. Er hatte in seinem Schaufenster ein halbes Dutzend große silberne Uhren, zwei oder drei Paar Ohrringe, eine Anzahl Hemdknöpfchen und eine silberplattirte Theekanne ausgestellt; aber der größere Theil der Gegenstände in dem Fenster bestand aus getragenen Kleidern, aus Resten von Seiden- und Sammetzeugen, einer Robe, einem Flageolet, einer alten Guitarre und einigen Bildern.

Der junge Mann blickte hoffnungsvoll aus diese Bilder. Sie waren einen guten Theil schlechter, als dasjenige, das er unter dem Arme trug; aber aus der andern Seite hatten sie sich glänzender, wenn auch beschmutzter Rahmen zu rühmen und waren deshalb leichter verkäuflich.

Gervoise Gilbert öffnete die Thüre und trat in den Laden, der ein vollkommenes Magazin von alten Kleidern war, die überall von der Decke herabhingen.

Mr. Moulem kam aus seinem kleinen Wohnzimmer hinter dem Laden hervor, den Mund voll Brod und Butter und eine Schnitte zwischen den Fingern. Es war halb sechs Uhr und der Pfandverleiher hatte sich soeben mit seiner Familie zum Thee gesetzt.

»Es scheint, daß man seinen Thee niemals mit Ruhe genießen kann, mag man ihn nehmen, wann man will oder kann,« brummte Mr. Moulem, während er in den Laden trat. »Nun denn, junger Mann, was giebt es noch?«

Er sagte dies in einem beleidigten Tone, als ob Gervoise Gilbert ihn den ganzen Tag über belästigt hätte, während ihn der Künstler früher noch mit keinem Auge gesehen hatte.

»Nun denn« was ist es?« fuhr der Pfandverleiher fort. »Ist es ein Plätteisen? Es ist fast immer ein Plätteisen, wenn ich von meiner Tasse Thee weggerufen werde.«

Gervoise Gilbert nannte sein Geschäft und deckte sein Bild auf, aber der Pfandverleiher schüttelte den Kopf, noch ehe der Künstler das Tuch entfernt hatte.

 

»Sie brauchen es mir nicht zu zeigen,« sagte er mit entschiedenem Tone. »Ich habe dergleichen Zeug schon genug. Meine Fenster sind damit angefüllt; Sie hätten es sehen können, wenn Sie hingeschaut hätten.«

»Ich habe die Bilder gesehen,« antwortete der junge Mann mit schwacher Stimme, denn er war zu schwach, um laut zu sprechen. »Ich habe sie gesehen und gedacht, weil Sie Bilder zu verkaufen schienen, so möchten Sie —«

»Weil ich sie zu verkaufen schien?« rief der Pfandverleiher verächtlich; »weil ich sie nicht verkaufe, hätten Sie sagen sollen. Wenn ich diese Bilder verkaufen könnte, so würde ich sie nicht in meinen Fenstern haben, und ich habe sie in meinen Fenstern gehabt, bis die Fliegen sie so verdorben haben, daß man die Landschaft nicht mehr von den Figuren unterscheiden kann, und immer noch will sie Niemand kaufen.«

Gervoise Gilbert war zu ermüdet, um etwas zu entgegnen. Verzweifelnd schickte er sich mit seinem unglücklichen Bild unter dem Arm zum Fortgehen an.

»Wenn ich nur Steine auf der Straße klopfen könnte,« murmelte er, »so könnte ich wenigstens täglich einen Sixpence verdienen, so aber bin ich nur ein Künstler und kann keinen Pfennig verdienen.«

Er befand sich bereits auf der Schwelle der Ladenthüre, als eine freundliche angenehme Stimme hinter ihm sagte:

»Sie sollten doch das Bild ansehen, Vater. Der arme junge Mann sieht schrecklich ermüdet aus.«

Der Künstler drehte sich bei diesen willkommenen Tönen schnell um. Es war eine weibliche Stimme, die für ihn bat, der erste Beweis des Mitleids, den er an diesem Tage von einem lebenden Wesen erhalten hatte.

Die Sprecherin war Mr. Moulems älteste Tochter, eine kleine runde Person, die ein Kind auf dem Arm hatte.

»Das sieht Euch Weibern ganz gleich,« sagte der Pfandverleiher; »Du willst, daß ich dieses Bild nehme, weil ein Mann ermüdet aussieht, und jenen Rock, weil eine Frau hungrig aussieht, und ich soll auf ein Plätteisen einen unverhältnißmäßigen Vorschuß geben, weil ein Kind geweint zu haben scheint. Du würdest ein schönes Geschäft führen, wenn es Dir überlassen bliebe.«

»Sehen Sie das Bild an, Vater.«

Mr. Moulem sagte nicht, daß er es thun wolle, er sagte aber auch nicht, daß er es nicht thun wolle, und Gervoise Gilbert hatte das Bild wieder aufgedeckt, während der Pfandverleiher noch zauderte.

Das junge Frauenzimmer war über die einfache Skizze entzückt.

»Es ist herrlich!« rief sie, »gar nicht wie die häßlichen schmutzigen Dinger in dem Fenster, Vater. Ich wundere mich nicht darüber, daß Sie jene nicht verkaufen können; aber ich bin überzeugt, daß Sie dieses verkaufen werden. Und wenn Sie es nicht anbringen, so möchte ich es für unser Besuchszimmer haben. Was für ein lieber, süßer, kleiner Bursche!« setzte sie hinzu. »Ich habe noch kein so schönes Kind gesehen, und wie es lächelt, gerade als ob es lebte.«

Gervoise Gilbert seufzte.

»Es hat es nöthig, auf dem Bilde zu lächeln, das arme Kind!« sagte er.

Etwas in seinem Tone machte die Frau aufmerksam.

»Warum?« fragte sie.

»Weil es in der Wirklichkeit nicht oft lächelt. Es muß Hunger leiden!«

»Hunger leiden! Dieses liebliche Kind?«

»Ja. Es ist kein so ungewöhnliches Schicksal. Dies ist eine große Stadt und wir sind alle zu geschäftig, um an unsere Nachbarn zu denken. So nimmt Niemand viel Notiz von den Weibern und Kindern; ja selbst kräftige Männer sterben zuweilen Hungers. Ich bin heute von einem Ende Londons zum andern gegangen und habe umsonst versucht, fünf Schillinge für dieses Bild zu erhalten.«

»Vater, Vater,« rief die junge Frau, »Sie hören es. Ich bin überzeugt, daß Sie zehn Schillinge für das Bild geben werden. Sie werden eines Tages fünfzehn dafür erhalten oder fünfundzwanzig, wenn Sie es einrahmen lassen.«

Mr. Moulem zuckte die Achseln und sah seine Tochter mit einem Ausdruck unverhohlener Verachtung an.

»Ja« Du verstehst Dich prächtig auf das Geschäft, Rachel,« sagte er. »Nun will ich Ihnen sagen, was ich thun will, junger Mann,« setzte er hinzu. »Ich brauche das Bild nicht und glaube nicht, daß ich es verkaufen kann —- denn was meine Tochter da betrifft, so ist sie eine gutherzige Frau, aber von dem Geschäfte eines Pfandverleihers und seinen Verlusten versteht sie nicht mehr als das Kind, das sie an der Brust hat; ich will Ihnen aber eine Krone dafür geben —- ja oder nein ?«

»Ja, also,« rief Gervoise Gilbert; »das Bild ist zwanzigmal so viel werth; aber wenn es mein Lebensblut wäre, so würde ich es Ihnen, wie ich glaube, verkaufen.«

Er nahm das Geldstück, das der Pfandverleiher auf den Ladentisch gelegt hatte, und war im Begriff, sich eiligst zu entfernen, als er plötzlich stehen blieb, seinen Hut abnahm und sich vor Mr. Moulems Tochter verbeugte.

»Gott segne und belohne Sie, Madame, für das erste mitleidige Wort, das ich heute gehört habe,« sagte er.

Im nächsten Augenblicke war er fort und die Thüre hatte sich hinter ihm geschlossen.

»Gott behüte und bewahre uns!« rief der Pfandverleiher, »wenn es mit diesem Gentleman recht im Kopfe ist, so giebt es keine Narren in Bedlam!«

»Nein, Vater,« sagte die junge Frau sanft, »er ist nicht närrisch — er ist blos unglücklich.«

Zweites Capitel.

G i n.

Die Straße, in der Mr. Moulem, der Pfandverleiher, wohnte, war ärmlich genug, aber verglichen mit dem schmutzigen Gäßchen, nach dem Gervoise Gilbert seine Schritte lenkte, war sie eben so glänzend als einer der schönsten Plätze in den aristokratischen Vierteln der Hauptstadt.

Hier an diesem traurigen Orte wohnte Armuth, Verbrechen, Laster und Unschuld nahe beisammen. Die Armen können ihre Gesellschaft nicht wählen, und der Mangel knüpft ein gemeinsames Band unter Geschöpfen, die in jeder anderen Beziehung so wenig miteinander gemein haben, daß sie, Bewohner verschiedener Planeten sein könnten. Das Gäßchen lag im Herzen von St. Giles und trug den Namen Purvis-Court.

Gervoise Gilbert hatte auf seinem Wege nach diesem elenden Platz einige Semmel und ein Viertelpfund gekochtes Fleisch gekauft. Er stieß die Thüre eines der Häuser auf, ging an einer Gruppe von Kindern vorüber, die in dein kleinen Hausflur spielten, und stieg die dunkle, gebrechliche Treppe bis zum Dache hinauf.

Er öffnete die Thür einer Kammer und trat hinein. Es waren nur sehr wenig Möbel in dem Gemache: nur ein Feldbett, mit einem alten gestickten Tuch bedeckt, ein paar Rohrstühle, ein Tisch von Tannenholz und eine leere Staffelei.

Eine Frau lag auf dem Bette — eine noch junge Frau, die einst hübsch gewesen war, aber deren aufgedunsenes Gesicht gegenwärtig die Spuren des schrecklichen Lasters der Trunkenheit an sich trug.

Sie schlief jetzt einen schweren trunkenen Schlaf, und sie rührte sich nicht, als die Thüre geöffnet wurde. Dieses schlafende Weib war Gervoise Gilberts Frau und sie war es, die den jungen Mann in den schwarzen Abgrund der Armuth und des Elends herabgezogen hatte.

Er hatte sie vier Jahre vorher getroffen, zu einer Zeit, als noch eine heitere Zukunft vor ihm lag, die ihn auf den Weg der Größe zu führen schien.

Als er diese Frau heirathete, war er stolz, ehrgeizig und hoffnungsvoll gewesen. Gegenwärtig oder war er nur trotzig und verzweifelnd.

Das schöne anmuthige Mädchen, das er geliebt hatte, war jetzt in eine betrunkene Furie oder in ein blödsinniges Geschöpf verwandelt, das die Dünste des Branntweins ausschlief.

Ja, der Ginteufel, der Tröster und Versucher der Armen, hatte seine verhängnißvolle Hand auf Agatha Gilbert gelegt. Sie war nicht im Stande gewesen, Armuth zu ertragen, sie war nicht mit jenem freudigen und genügsamen Geiste gesegnet, der die edelste Mitgift der Frauen ist. Durch die Weiber in ihrer Nähe in Versuchung geführt, hatte sie ihre Sorge in Branntwein zu betäuben gesucht.

Vielleicht trug der Maler selbst einige Schuld an der Erniedrigung seiner Frau, weil er über ihre Klagen, über ihre Thränen und über ihr Murren ungeduldig geworden war. Wenn sie ihr Schicksal muthig und verständig getragen hätte, so würde sich seine Liebe für sie niemals vermindert haben; aber diese Liebe verlor sich unter den beständigen Quälereien, die eine unzufriedene Frau ihrem Gatten zufügen kann.

Er hatte längst aufgehört, sie zu lieben. Jetzt haßte er sie. Er haßte sie, denn sie war die Bürde, die ihn in den Zustand des Verderbens und der Erniedrigung herabdrückte. Wie konnte er hoffen, sich jemals wieder zu erheben? In welcher Sphäre des Lebens konnte er hoffen, den Kopf hoch zu halten mit dieser Frau an seiner Seite, der Trägerin seines Namens, der Mutter seines Kindes, seinem Weibe, von dem ihn nur der Tod trennen konnte?

Dies waren seine Gedanken, wenn er zuweilen in düsterem Schweigen dasaß und auf sie blickte.

»Wird sie jung sterben?« dachte er, »wird sie sich zu Tode trinken und mir die Freiheit wieder geben? O, welch ein neues Leben würde ich führen, wenn ich von dieser schrecklichen Last befreit wäre!«

Aber Gervoise Gilbert war nicht niedrig genug, das verhängnißvolle Laster zu begünstigen, welches das Weib, das er haßte, zu tödten drohte. Er versuchte Alles, was in seiner Macht stand, um die unglückliche Frau zu retten. Er bat, er schalt, er drohte, aber Alles war umsonst. Sie wollte nicht auf ihn hören, sie wollte nicht gerettet sein.

»Der Himmel sei uns gnädig!« murmelte er, als er die auf dem Bett ausgestreckte Gestalt sah, »sie kann sich Gin verschaffen, selbst, wenn ich kein Brod erhalten kann.«

Ein kleiner Knabe, ein goldhaariges Kind von drei Jahren, stand auf einem Stuhle an dem vergitterten Fenster, stieg aber, als er den Tritt seines Vaters vernahm, herunter.

»Papa,« rief er, »Papa, ich bin so froh, daß Du gekommen bist! Ich habe den Kindern, die auf der Gasse spielen, zugesehen, ich wollte aber nicht hinunter gehen, weil Du gesagt hast, ich dürfe nicht.«

Gervoise Gilbert hob das Kind empor und küßte es.

»Gott segne Dich, Georgey!« sagte er, »Du bist Papa’s Schatz, Papa’s einziger Schatz. Was hat Deine Mutter gethan, Georgey ?«

»Sie war fort, und dann, als sie wieder kam, war sie böse und so — Du weißt es ja, Papa — wie sie immer ist, wenn sie lange fort war, und sie schlug mich, weil ich mit ihr redete, und dann hat sie sich aus’s Bett gelegt und die ganze Zeit geschlafen. Warum ist sie so böse gegen mich und nicht so wie Du, Papa?«

Der Knabe sah seinem Vater, während er diese Frage stellte, neugierig in’s Gesicht, dann sagte er in halbleisem, ängstlichen Tone:

»Papa« hast Du etwas zu essen mitgebracht? Ich war den ganzen Tag so hungrig.«

Gervoise Gilbert blickte, ehe er antwortete, einen Augenblick das Kind an. Die Verzweiflung, die den ganzen Tag in seinem Gesichte wahrnehmbar gewesen, trat noch auffallender hervor, während er aus dieses kindliche Gesicht blickte.

»Papa,« rief der Knabe, »warum siehst Du mich so an?«

Sein Vater antwortete nicht, sondern trat nachdenklich an die Staffelei.

Auf einem Brette in der Nähe derselben lagen einige Pinsel, eine Palette und einige bleierne Kapseln, die einst Farben enthalten hatten.

»Mit dem Bilderverkauf ist es aus,« murmelte der Maler. »Ich habe alle meine Farben verbraucht und kein Geld mehr, andere zu kaufen. Mr. Moulem’s Preise zahlen nicht einmal die Auslagen. Guter Gott, welch ein Ende! Und ich hatte einst geträumt, ich würde ein großer Künstler werden!«

Er seufzte laut in der Bitterkeit seiner Seele, und dann, sich von der Staffelei nach dem Bette wendend, warf er einen Blick des Hasses aus die schlafende Gestalt.

»Wenn Du eine bessere Frau gewesen wärst,« sagte er leise, »so wäre ich ein anderer Mann, Du bist das Unglück meines Lebens.«

Darauf nahm er Brod und Fleisch aus seiner Tasche und legte es dem Kinde vor. Der kleine Knabe aß begierig und der Vater sah ihm mit einem Lächeln zu, dem ersten, das an diesem Tage sein Gesicht erheitert hatte; aber er rührte selbst nichts an.

»Papa,« rief das Kind, »bist Du nicht auch hungrig?«

»Nein, mein Herz.«

Gervoise warf sich auf einen Stuhl, dem niedrigen Feldbett gegenüber, und die Ellbogen auf den Knieen und das Kinn in den Händen beobachtete er die schlafende Frau.

 

Sie rührte sich nicht. Die müden Augenlider erhoben sich niemals von den trüben Augen und der schwere Kopf lag aus dem Kissen, wo er hingefallen war.

Sie trug noch immer die Spuren ihrer früheren Schönheit an sich. Das unordentliche Haar, das auf das elende Kissen niederfiel, war schwarz und üppig, ihr Gesicht regelmäßig, und lange dunkle Wimpern umsäumten die geschlossenen Lider.

Der Künstler saß in derselben Stellung da, weder sprechend, noch das Auge von der Gestalt auf dem Bette abwendend. Als das Kind gegessen hatte, schlich es an die Seite seines Vaters und setzte sich auf dem Boden zu seinen Füßen nieder.

Die Sonne ging in aller ihrer Sommerherrlichkeit unter, die Abendschatten verdichteten sich allmälig in dem Gemache und auf dem Gesichte des Malers; aber ehe das Licht vollkommen verschwand, zog sich Gervoise Gilbert den kleinen Tisch an’s Fenster. Auf dem schmalen Gesimse, das als Kamin diente, fand er ein Pfennigglas mit Dinte und eine rostige Stahlfeder. Diese nahm er nebst einem Blatt Papier von einem alten Brief, auf das er langsam und mit Ueberlegung folgende Zeilen schrieb:

»Agatha Gilbert! Als ich Dich vor fünf Jahren zum ersten Mal sah, war ich ein ehrgeiziger Mann mit einer schönen Zukunft vor mir. Ich heirathete Dich, und von jener Stunde an bis heute hat sich das Unglück an meine Fersen geheftet.

»Hast Du jemals daran gedacht, daß es die Pflicht einer Frau ist, dem Manne, dessen Namen sie trägt, eine Hilfe und ein Trost, nicht ein Hinderniß und eine Bürde zu sein? Hast Du jemals dies bedacht und mir im Kampfe des Lebens beizustehen gesucht? Nein, so wahr ich lebe, nicht ein einziges Mal!

»Ich bin des Kampfes müde, Agatha. Ich bin es müde, gegen dieses verhaßte Laster zu kämpfen, das Deinen Leib und Deine Seele zu Grunde richtet. Wenn das Gesetz uns scheiden könnte, so würde ich mich an das Gesetz wenden. Aber unglücklicher Weise haben die Gerichte kein Heilmittel für Uebel wie die meinigen. Das Gesetz gewährt dem Gatten keine Hilfe, dessen Frau ihr Kind des Brodes beraubt, damit sie für das Geld Gin kaufen kann.

»Ich entferne mich deshalb aus eigener Machtvollkommenheit. Jedes Band, das uns vereinigt hatte, ist gebrochen, jede Hoffnung auf häusliches Glück ist zerstört, jedes Gefühl von Liebe, das einst mein Herz erwärmte, ist erstorben, nur die bittere Asche der Reue zurücklassend.

»Ich weiß noch nicht, wohin ich gehe. Ich nehme den Knaben mit, um dessen willen ich dieses elende gebrochene Leben noch ertrage. Wenn es nicht seinetwegen wäre, so würde ich an den nächsten Fluß gehen und mein Elend in tiefere Vergessenheit begraben, als sie Dir der Gin zu geben vermag.

»Lebe wohl. Ich will es versuchen, nicht bitter von Dir zu denken, ich will es versuchen, Dir zu vergeben, wie ich Dich bitte, mir alles Leid, das ich Dir zugefügt, zu vergeben. Ich bin oft ungeduldig, hart und heftig gewesen, aber ich habe dafür gebüßt und schwer gebüßt. Noch einmal, lebe wohl. Versuche nicht, mir zu folgen oder mich aufzufinden. Du wirst mich niemals mehr sehen, nie mehr von mir hören, noch von Deinem Kinde.

»Du hast Deinen Weg im Leben gewählt, unbekümmert darum, welches Elend Du über mich brachtest; ich wähle jetzt den meinigen, und er führt mich weit von Dir weg.

Gervoise Gilbert.«

Der junge Mann faltete dieses Papier zusammen und legte es auf den Kamin, wo er sicher sein konnte, daß es seiner Frau in die Hände fallen würde. Dann weckte er den Knaben auf, welcher mit dem Kopf auf dem Knie seines Vaters eingeschlafen war.

»Du hast doch ein wärmeres Röckchen, nicht wahr, Georgey?« fragte der Vater, auf das zerrissene Baumwollenkleidchen deutend, welches das Kind anhatte.

»Nein, Papa.«

»Du hattest doch ein wollenes Röckchen, zwar abgetragen, aber dick und warm.«

»Ja; aber die Mama hat es mir fortgenommen und nicht wiedergebracht.«

Der Vater murmelte eine Verwünschung. Er hatte nach und nach alle Bequemlichkeiten eines anständigen Haushalts dahinschwinden sehen, bis es so weit wie jetzt gekommen war« Er hatte hart gegen die grimmige Armuth angekämpft, aber es war umsonst gewesen. Was nützte sein Ringen und Kämpfen, wenn seine Frau jeden Schilling, den sie aus ihm herauspressen konnte, in Gin vertrank?«

Sie hatte ihren Gatten und ihr Kind jeder Bequemlichkeit, ja selbst der gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens beraubt und zuletzt sogar die Kleider ihres Kindes zum Pfandleiher getragen.

»Setze Deine Kappe auf,« Georgey,« sagte Gervoise Gilbert, »Du wirst mit Papa eine weite Reise machen. Ist Dir das recht?«

»O, ja, ja; ich will überall mit Dir hingeben, Papa.«

»So komm denn, mein Herz. Aber Du darfst nicht vergessen, daß wir zu Fuß gehen müssen. Wir sind zu arm, um zu fahren; wenn Du aber müde bist, so wird Dich Papa tragen.«

»Aber ich werde nicht müde sein, Papa,« sagte der Knabe stolz.

Gervoise Gilbert blickte mit liebendem Lächeln auf ihn nieder.

»Muthiger Geist!« rief er, »edler Geists das Blut der Palgraves von Palgrave-Chase spricht aus ihm.«

Der Künstler hatte keine großen Vorbereitungen zu machen, um diesen elenden Zufluchtsort zu verlassen. Er besaß nur ein einziges reines Hemd und dieses war so zerrissen, daß es nur deshalb den Klauen des Pfandleihers entgangen war. Er besaß keinen überflüssigen Rock, keinen Reisesack, keinen Eisenbahnshawl, womit er sich zu belasten brauchte.

Er steckte das Hemd in die Tasche, setzte seinen Hut auf, nahm ein altes Tuch von seinem Halse und band es dem Kinde um, dann nahm er den Knaben an die Hand und verließ mit ihm das Haus.

Die Schatten verdichteten sich in den engen Straßen, das Purpurlicht, das zerbrochene Scheiben von gewöhnlichem, Glas schöner erglänzen läßt als es die kostbarsten Edelsteine in den Läden der Juweliere vermögen, verschwand nach und nach, die, Fenster dunkel zurücklassend.

Es war vollkommen finster, als Agatha Gilbert von ihrem trunkenen Schlaf erwachte und nach dem Kamin taumelte. Sie fühlte mit ihrer rechten Hand auf dem Sims herum, bis sie eine Büchse mit Streichhölzchen und einen Stumpen Talglicht fand, das in einer alten Flasche stak. Sie zündete das Licht an und sah sich langsam um.

»Noch nicht zu Hause,« murmelte sie unzufrieden, »noch nicht zu Hause gekommen, obschon es finster ist. Doch warum sollte er nach Hause kommen? Er haßt mich und giebt sich keine Mühe, seinen Haß zu verbergen. Aber wo ist das Kind? Es war da, als ich heim kam. Georgey!«

Sie wiederholte den Namen des Knaben zwei oder drei Mal in lauterem Tone.

Ader sie war nicht bestürzt, als sie keine Antwort erhielt. Die Betäubung der Trunkenheit war noch nicht ganz vergangen. Sie stand einige Augenblicke bewegungslos mit dem Lichte in der Hand da, gerade vor sich hinstarrend.

Plötzlich bemerkte sie den Brief auf dem Kaminsims.

»Gilberts Hand!« rief sie, »er war also zu Hause.«

Sie setzte das Licht nieder, öffnete den Brief und las Gervoise Gilberts Abschied.

Sie las den Brief zweimal — zuerst schnell, dann langsam, bis die Dünste des Branntweins, den sie getrunken, vor dem Gefühl eines großen Unglücks sich endlich zu zerstreuen begannen.

Dann stieß sie einen lauten Schrei aus, der durch das stille Haus wiederhallte, und fiel zu Boden.

Es giebt sonderbare Widersprüche, unlösbare Knoten, wunderbare Verwickelungen in dem geheimnißvollen Gewebe, das wir das menschliche Herz nennen.

Agatha Gilbert liebte leidenschaftlich den Mann, dessen Leben sie unglücklich gemacht, das Kind, dessen Kleider sie versetzt hatte, um Gin zu kaufen.


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