Fingerzeige - Intentions

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In kurzer Zeit aber hatte das Leben die Vollkommenheit der Form zerstört. Schon bei Shakespeare sehen wir den Anfang vom Ende. Er verriet sich in dem allmählichen Zerfallen des Blankverses der späteren Dramen, dem Vorwiegen der Prosa, und der übergroßen Sorgfalt, die auf die Charakterzeichnung verwandt ist. An jenen Stellen Shakespeares – und es gibt deren viele – in denen die Sprache roh, vulgär, überladen, verzerrt, sogar obszön ist, trägt nur das Leben die Schuld, das Leben, das nach einem Echo seiner eigenen Stimme ruft und den Einspruch des schönen Stils zurückweist, der ihm zum alleinigen Ausdruck dienen sollte. Shakespeare ist als Künstler durchaus nicht unantastbar. Er liebt es zu sehr, aufs Leben selbst zurückzugehen und sich des Lebens Naturstimme zu leihen. Er vergißt, daß die Kunst alles aufgibt, wenn sie das Ausdrucksmittel ihrer Phantasie aufgibt. Goethe sagt einmal: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Diese Beschränkung aber, die eigentliche Bedingung jeder Kunst, ist der Stil. Indes, wir brauchen nicht länger bei dem Realismus Shakespeares zu verweilen; der ›Sturm‹ ist die vollkommenste aller Palinodien. Wir wollten nur darauf hingewiesen haben, daß die herrliche Kunst des Zeitalters der Elisabeth und des Jakob schon den Keim der eigenen Auflösung in sich trug, und wenn Shakespeare einen Teil seiner Macht dadurch erhielt, daß er das Leben als rohes Material benutzte, so liegt die Schwäche der übrigen Künstler dieser Zeit darin, daß sie die Form des Lebens als künstlerische Form anwandten. Die unvermeidliche Folge dieser Substitution eines rein nachahmenden für ein schöpferisches Mittel, dieses Aufgebens der phantasievollen Form, erleben wir im modernen englischen Melodrama. Die Charaktere dieser Dramen reden auf der Bühne, wie sie im gewöhnlichen Leben reden würden; sie sind unmittelbar dem Leben entnommen und entfalten seine ganze Gemeinheit bis in die kleinste Kleinigkeit; sie geben den Gang, das Wesen, die Kleidung und die Sprache wirklicher Menschen; sie könnten dritter Klasse fahren, ohne auch nur im geringsten aufzufallen. Aber wie langweilig sind diese Dramen, trotz alledem! Es gelingt ihnen nicht einmal, jenen Eindruck der Wirklichkeit hervorzurufen, den sie beabsichtigen und um dessentwillen sie allein bestehen. Der Naturalismus als Methode künstlerischen Sehens ist nichts als ein Fehlgriff.

Was vom Drama und vom Roman gilt, gilt nicht minder von denjenigen Künsten, die wir die schmückenden Künste nennen. Die Geschichte dieser Künste in Europa ist die Geschichte des Kampfes zwischen dem Orientalismus und unserem eigenen Trieb zum Nachahmen. Der Orientalismus weist jede bloße Nachahmung von sich, er liebt eine konventionelle Zeichensprache und haßt die wirkliche Darstellung von Naturobjekten. Überall, wo der Orientalismus die Oberhand behalten hat, sei es durch unmittelbare Berührung wie in Byzanz, Sizilien und Spanien, oder wie im übrigen Europa durch den Einfluß der Kreuzzüge, sind herrliche Werke des Schöpfergeistes entstanden, in denen die sichtbaren Dinge des Lebens künstlerisch umgewandelt, und solche, die das Leben nicht kennt, zu seiner Lust erschaffen wurden. Überall aber, wo wir zu dem Leben und der Natur zurückkehrten, ist unser Schaffen vulgär, gemein und uninteressant. Die übertriebene Perspektivwirkung, die weiten Flächen überflüssigen Himmels, der bis ins kleinste gehende Naturalismus moderner Tapeten ist ohne jede Schönheit. Die Glasmalerei der Deutschen ist einfach abscheulich. Unsere englischen Teppiche fangen an erträglich zu werden, aber nur, weil wir zu der Methode und dem Geist des Orients zurückgekehrt sind. Durch die ernsten, niederdrückenden Wahrheiten, die sinnlose Naturanbetung, die schmutzige Wiedergabe sichtbarer Dinge sind unsere Decken und Teppiche der siebziger Jahre selbst dem Philister ein Gegenstand des Gelächters geworden. Ein feingebildeter Mohamedaner sagte mir einmal: ›Ihr Christen seid so sehr beschäftigt, das vierte Gebot zu mißdeuten, daß ihr noch nie daran dachtet, eine künstlerische Anwendung des zweiten zu machen.‹ Er hatte ganz recht, und der Kern der Sache ist der: Die wahre Lehrmeisterin der Kunst ist nicht das Leben, sondern die Kunst.«

Und nun möchte ich dir eine Stelle vorlesen, die mir die Sache in sehr vollkommener Weise zum Abschluß zu bringen scheint:

»Es war nicht immer so. Wir brauchen nicht erst von den Dichtern zu reden, denn diese sind mit der unglücklichen Ausnahme Wordsworths ihrem hohen Berufe wirklich treu geblieben und genießen bei allen den Ruf der vollkommenen Unzuverlässigkeit. Aber in den Werken des Herodot, den man trotz der ohnmächtigen und unvornehmen Versuche moderner Halbwisser, die Geschichtsaufzeichnungen dieses Mannes mit der Wahrheit in Einklang zu bringen, den ›Vater der Lüge‹ nennen könnte; in den niedergeschriebenen Reden Ciceros und den Lebensbeschreibungen des Sueton; bei Tacitus, wo er am größten ist; in der Naturgeschichte des Plinius; in Hannos Periplous; in allen alten Chroniken; in den Lebensbeschreibungen der Heiligen; bei Froissart und Sir Thomas Mallory; in den Reisebeschreibungen des Marco Polo; bei Olaus Magnus und Aldrovandus und in dem herrlichen ›Prodigiorum und Ostentorum Chronikon‹ des Conrad Lycosthenes; in der Selbstbiographie des Benvenuto Cellini; in den Memoiren des Casanuova; in Defoes ›History of the Plague‹; in Boswells ›Life of Johnson‹; in den Depeschen Napoleons und in den Werken unseres eigenen Carlyle, dessen ›French Revolution‹ der fesselndste geschichtliche Roman ist, den es gibt – wird entweder den Tatsachen die ihnen gebührende untergeordnete Stellung angewiesen, oder aber sie werden allgemeinen Stumpfsinns halber verworfen. Heute hat sich alles verändert. Die Tatsachen fassen nicht nur in der Geschichtsschreibung festen Fuß, sie brechen auch in das Gebiet der Phantasie ein und halten Einzug in dem Königreich der Dichtung. Ihr eisiger Hauch legt sich auf alles. Sie vulgarisieren die Menschheit.

Der rohe Kaufmannssinn der Amerikaner, ihr materialistischer Geist, ihre Gleichgültigkeit gegen alles, was poetisch ist, und ihr Mangel an geistreicher Phantasie und das Fehlen hoher, unerreichbarer Ideale ist lediglich eine Folge davon, daß sie einen Mann zu ihrem nationalen Helden erhoben, der nach eigener Aussage unfähig war, zu lügen, und es ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten, die Erzählung von George Washington und dem Kirschbaum habe mehr Unheil angerichtet, und dazu in kürzerer Zeit, als irgendeine andere Moralgeschichte der Weltliteratur.«

Cyril. Aber mein Lieber!

Vivian. Wirklich, es ist so, und was das Köstlichste an der Sache ist: die Erzählung von dem Kirschbaum ist nichts als ein Märchen. Du darfst jedoch nicht denken, daß ich für die künstlerische Zukunft Amerikas oder unseres eigenen Landes alle Hoffnung aufgegeben habe. Höre weiter zu: –

»Daß irgendeine Umwälzung eintreten wird, noch ehe dies Jahrhundert geendet hat, darüber besteht nicht der geringste Zweifel. Gelangweilt durch die ermüdende und dozierende Unterhaltung derer, die weder die Fähigkeit haben, zu übertreiben, noch den Geist, zu dichten, jener klugen Leute überdrüssig, deren Reminiszenzen stets auf dem Gedächtnis beruhen, deren Aussagen ewig gehindert sind, da sie der Wahrheit entsprechen sollen, und denen zu jeder Zeit irgend ein Philister zu Gebote steht, der alles bereitwillig bestätigt, wird die Gesellschaft über kurz oder lang zu ihrem verlassenen Führer zurückkehren müssen, dem feingebildeten und fesselnden Lügner. Wer der erste war, der, ohne jemals auf wilder Jagd gewesen zu sein, den staunenden Höhlenmenschen bei untergehender Sonne erzählte, wie er das Megatherium aus der purpurnen Finsternis seiner Jaspis-Höhle geschleppt, oder das Mammut im Einzelkampf erlegt und das goldene Elfenbein heimgetragen habe, das wissen wir nicht zu sagen, und das hat auch nicht einer unserer modernen Anthropologen zu sagen, trotz all ihres prahlerischen Wissens, den Mut gehabt. Wes Namens und Geschlechts er auch war, sicherlich war er der rechte Gründer des gesellschaftlichen Verkehrs. Denn das Ziel des Lügners ist, zu bezaubern, zu entzücken und zu erfreuen. Er ist der eigentliche Schöpfer der zivilisierten Gesellschaft und ohne ihn ist ein Diner, selbst in den Palästen der Großen, so stumpfsinnig, wie eine Vorlesung in der Royal Society oder ein possenhaftes Lustspiel von Burnand.

Auch wird ihn nicht allein die Gesellschaft willkommen heißen. Aus dem Kerker des Realismus hervorbrechend, wird ihm die Kunst entgegeneilen und ihn begrüßen und ihm die falschen schönen Lippen küssen, denn sie weiß, daß er allein das große Geheimnis aller ihrer Offenbarungen birgt, das Geheimnis, daß die Wahrheit einzig und allein eine Sache der Form ist. Das Leben aber – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – Herbert Spencers, aller Geschichtsforscher und emsigen Statistiker überdrüssig, zu deren Gunsten es sich immer wiederholen soll, wird ihm schweigend nachgehen und in seiner schlichten und unverdorbenen Weise einige von den Wunderdingen nachzubilden suchen, von denen er redet.

Zweifellos wird es immer Kritiker geben, die den Märchenerzähler wegen seiner lückenhaften Naturgeschichtskenntnisse mit ernster Miene tadeln, die die Werke der Phantasie nach ihrem eigenen Mangel an Phantasie beurteilen, die entsetzt die tintenbefleckten Hände in die Höhe heben, wenn ein ehrbarer Mann, der nie über die Eibenbäume seines Gartens hinauskam, ein fesselndes Buch Reiseerinnerungen schreibt, wie Sir John Mandeville, oder wie der große Raleigh eine ganze Weltgeschichte geschrieben hat, ohne das Geringste von der Vergangenheit zu wissen. Um sich zu rechtfertigen, werden sie hinter dem Schilde des Mannes Deckung suchen, der Prospero den Magiker schuf und ihm Caliban und Ariel zu Dienern gab, der an den Korallenriffen der Seligkeitsinsel dem Hörnerschall der Tritonen lauschte und in einem Haine bei Athen dem Wechselgesang der Elfen, der in bleichem Zuge die Geisterkönige über die neblige Heide Schottlands führte, der mit den Schicksalsschwestern Hekate in der Höhle verbarg. Sie werden sich auf Shakespeare berufen – das tun sie immer – und werden jene abgedroschene Stelle zitieren, in der die Kunst der Natur den Spiegel vorhält, indem sie vergessen, daß Hamlet diese unglückseligen Worte äußert, um die Anwesenden von seiner vollkommenen Unwissenheit in allen Dingen der Kunst absichtlich zu überzeugen.«

 

Cyril. Ahem! Noch eine Zigarette, bitte.

Vivian. Du magst einwenden, was du willst, mein Lieber, die Äusserung ist eine rein dramatische und vertritt Shakespeares wirkliche Ansichten über die Kunst ebensowenig, wie die Reden des Jago seine wirklichen Ansichten über die Moral vertreten. Aber laß mich mit dem Abschnitt zu Ende kommen: –

»Die Kunst kann nur durch sich vollkommen werden. Die Ähnlichkeit mit der sichtbaren Welt ist für die Beurteilung vollständig gleichgültig. Sie ist eher ein Schleier als ein Spiegel. Sie hat Blumen, die nie ein Forst gekannt, Vögel, von denen keine Wälder wissen. Sie baut Welten auf und vernichtet sie wieder und kann den Mond mit einem Scharlach-Faden vom Himmel ziehen. Ihr sind Formen zu eigen, die wirklicher sind als das Leben, und auch die hohen Urbilder, von denen alle wirklichen Dinge nur unvollendete Abbilder sind. Die Natur hat in ihren Augen keine Gesetze, keine Gleichförmigkeit. Je nach ihrem Willen verrichtet sie Wunderwerke, und wenn sie Schreckgestalten aus der Tiefe ruft, dann kommen sie. Sie kann den Mandelbaum im Winter blühen heißen und den Schnee über die reifen Kornfelder treiben. Auf ihr Gebot legt der Frost dem Sommer die silbernen Finger auf den heißen Mund, und schleichen Flügellöwen aus den Gebirgsschluchten Lydiens. Die Dryaden blicken neugierig aus dem Dickicht, wenn sie vorübergeht, und die braunen Faune lächeln seltsam, wenn sie ihnen naht. Falkenköpfige Götter beten sie an und Kentauren galoppieren an ihrer Seite.«

Cyril. Das gefällt mir. Ich sehe, was du meinst. Ist das das Ende?

Vivian. Nein. Es folgt noch ein Abschnitt, aber nur praktischen Inhaltes. Er bringt einige Methoden zum Vorschlag, mit deren Hilfe wir die verlorene Kunst zu lügen wiedergewännen.

Cyril. Schön. Bevor du ihn liest, möchte ich eine Frage stellen. Was meinst du, wenn du sagst, das Leben – das arme, wahrscheinliche, dürftige menschliche Leben – werde die Wunderdinge der Kunst nachzubilden suchen? Ich kann es sehr wohl begreifen, daß du dich sträubst, wenn man die Kunst als einen Spiegel betrachtet. Du meinst, das würde das Genie auf die Stufe eines gesprungenen Spiegels stellen. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, daß das Leben die Kunst nachahmt, daß gar das Leben der Spiegel und die Kunst die Wirklichkeit ist?

Vivian. Gewiß glaube ich das. Paradox, wie es scheinen mag – und Paradoxien sind immer gefährliche Dinge – es ist darum nicht weniger wahr, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben. Wir alle haben es in England erlebt, wie ein seltsamer und bezaubernder Schönheitstypus, der von zwei wirklich schöpferischen Malern erfunden und ausgebildet wurde, das Leben derartig beeinflußte, daß, so oft wir in eine Gesellschaft oder einen Kunstsalon gehen, wir hier die geheimnisvollen Augen sehen, von denen Rossetti träumte, den langen elfenbeinernen Hals, das seltsame breitgeschnittene Kinn, das lose schattige Haar, das er so glühend liebte, dort die süsse Jungfräulichkeit des ›Golden Stair‹, den Blütenmund und die müde Schönheit der ›Laus Amoris‹, das leidensbleiche Antlitz der Andromeda, die schmalen Hände und die liebliche Grazie des Vivian in ›Merlins Dream‹. Und es ist von jeher so gewesen. Ein großer Künstler erfindet einen Typus und das Leben sucht ihn nachzubilden, ihn nach Art eines unternehmenden Herausgebers in gemeinfaßlicher Form wiederzugeben. Weder Holbein noch Van Dyck fanden in England vor, was sie uns gaben. Sie brachten ihre Typen mit, und das bereitwillig nachahmende Leben verschaffte dem Meister die Modelle. Die Griechen wußten das vermöge ihres feinen, künstlerischen Instinktes. Sie stellten eine Statue des Hermes oder des Apollo in das Gemach der Braut, daß diese in ihrer Lust und ihrem Schmerz solcher Kunstwerke ansichtig würde und Kinder gebäre von der gleichen Schönheit. Sie wußten, daß das Leben nicht nur Geistigkeit, Gedanken- und Gefühlstiefe, Seelenqual oder Seelenfrieden der Kunst entnimmt, sondern daß es sich auch in Linie und Farbe nach ihr richten kann und die Hoheit eines Phidias wie die Grazie eines Praxiteles wiederzugeben vermag. So erklärt sich ihre Abneigung gegen den Realismus. Sie haßten ihn aus rein gesellschaftlichen Rücksichten. Sie fühlten, daß er den Menschen notwendig verhäßlicht; und sie hatten vollkommen recht. Wir suchen die Lage eines Volkes zu bessern, indem wir für gute Luft, freies Sonnenlicht, gesundes Wasser sorgen und häßliche, kahle Baracken bauen für die Wohlfahrt der unteren Stände. Aber diese Dinge machen nur gesund, sie machen nicht schön. Hierzu ist die Kunst nötig, und die wahren Schüler des großen Künstlers sind nicht seine Atelier-Nachahmer, sondern diejenigen, die wirklich werden wie seine Kunstwerke, mögen sie der Plastik angehören, wie in den Tagen der Griechen, oder, wie in unserer Zeit, der Malerei. Kurz: das Leben ist der Kunst bester, der Kunst einziger Schüler.

So wie mit den bildenden Künsten, steht es auch mit dem Schrifttum. Das schlagendste und zugleich gröbste Beispiel gibt das Benehmen jener dummen Jungen, die die Abenteuer des Jack Sheppard und Dick Turpin lesen, um hinterher die Buden unglückseliger Obstfrauen zu plündern, des Nachts in Konfekt-Läden einzubrechen und alte Herren, die aus der Stadt heimkehren, auf Vorstadt-Straßen mit schwarzen Masken und blinden Revolverschüssen zu überfallen. Diese interessante Erscheinung, die jedesmal auftritt, wenn eines jener beiden Bücher neu aufgelegt ist, wird gewöhnlich dem Einflusse der Literatur auf die Phantasie zugeschrieben. Das ist aber verkehrt. Die Phantasie ist wesentlich schöpferisch und sucht immer nach neuen Ausdrucksmitteln. Jene Bubenstreiche entspringen einfach dem nachahmenden Triebe des Lebens. Sie sind Äusserungen des Lebens, das bemüht ist, der Dichtung Gestalt zu geben, und was uns in ihnen entgegentritt, wiederholt sich nur in umfassender Weise während unseres ganzen Lebens. Schopenhauer hat den Pessimismus analysiert, der die moderne Denkweise beherrscht, aber Hamlet erfand ihn. Der Typus des Nihilisten, jenes wunderlichen Märtyrers ohne Glauben, der an den Pfahl geht ohne Inbrunst und für etwas stirbt, woran er nicht glaubt, ist lediglich ein Produkt des Schrifttums. Er wurde von Turgenjeff erfunden und von Dostojewski vollendet. Die Dichtung greift dem Leben immer vor. Sie gibt uns kein Abbild desselben, sondern gestaltet nach eigenem Ermessen. Das neunzehnte Jahrhundert, so wie wir es kennen, ist zum großen Teil eine Erfindung Balzacs. Unsere Luciens de Rubempré, unsere Rastignacs und de Marsays erschienen zuerst auf der Bühne der Comédie Humaine. Wir füllen nur mit Randbemerkungen und unnötiger Zutat die Laune oder Phantasie oder schöpferische Vision eines großen Romanschreibers aus. Ich fragte einst eine intime Freundin Thackerays, ob dieser die Becky Sharp nach irgendeinem Modell gezeichnet habe. Sie sagte mir, daß Becky eine Erfindung sei, daß ihm aber die Idee des Charakters eine Gouvernante eingegeben habe, die in der Nähe von Kensington Square wohnte und bei einer sehr egoistischen und reichen alten Dame Gesellschafterin war. Ich erkundigte mich nach dem Schicksal der Gouvernante, worauf sie mir sagte, sie wäre merkwürdigerweise einige Jahre nach dem Erscheinen von »Vanity Fair« mit dem Neffen der Dame, bei der sie wohnte, davongelaufen und habe kurze Zeit in der Gesellschaft großes Aufsehen erregt, ganz im Stile der Mrs. Rawdon Crawley und mit allen ihren Eigenarten. Schließlich litt sie Schiffbruch, verschwand nach dem Kontinent und verkehrte in Monte Carlo und anderen Spielhöllen. Jener edle Mann, nach dem derselbe große empfindsame Autor seinen Oberst Newcome zeichnete, starb wenige Monate, nachdem die »Newcomes« die vierte Auflage erreicht hatten, und sein letztes Wort war ›Adsum‹.

Bald nachdem Mr. Stevenson seine merkwürdige psychologische Verwandlungsgeschichte veröffentlicht hatte, war ein Freund von mir, Mr. Hyde, im Norden Londons, und da er schnell auf einen Bahnhof wollte, schlug er einen vermeintlich abkürzenden Weg ein, verlor die Richtung und sah sich bald in einem Netzwerk gemeiner, übelaussehender Straßen. Da er ziemlich nervös wurde, begann er sehr schnell zu gehen, als ihm plötzlich aus einem Torweg ein Kind zwischen die Beine lief. Es fiel aufs Pflaster, er wollte drüber wegsteigen und trat darauf. Da es natürlich sehr erschreckt und ein wenig verletzt war, begann es zu schreien, und nach wenigen Sekunden stand die ganze Straße voll groben Volks, das wie Ameisen aus den Häusern strömte. Man umringte ihn und verlangte seinen Namen. Er wollte ihn gerade nennen, als ihm plötzlich die Eröffnungsszene in Mr. Stevensons Buch einfiel. Ihn packte solches Grauen, weil er in eigener Person jene furchtbare und gutgeschriebene Szene zur Wirklichkeit gemacht und, was der Mr. Hyde der Dichtung mit überlegter Absicht tat, zwar nur zufällig, aber doch getan hatte – daß er so scharf wie möglich davonlief. Er wurde jedoch eng verfolgt, und schließlich flüchtete er sich in ein Laboratorium, dessen Tür gerade offen war. Dort erklärte er einem anwesenden Gehilfen, was geschehen war. Der humanitäre Pöbel ließ sich bewegen, abzuziehen, als er ihnen eine kleine Summe Geldes gab, und sobald die Küste klar war, ging er weiter. Beim Austritt fiel ihm der Name auf dem Messingschild auf. Er lautete »Jekyll«. Wenigstens hätte er so lauten müssen.

Hier war die ganze Nachahmung natürlich Zufall. Im folgenden Fall war sie bewußt.

Im Jahre 1879 – ich hatte gerade die Oxforder Universität verlassen – lernte ich in dem Hause eines auswärtigen Ministers eine Frau von ganz seltener exotischer Schönheit kennen. Wir wurden Freunde und verkehrten beständig. Und doch war es nicht ihre Schönheit, die mich am meisten fesselte, sondern ihr Charakter, das gänzlich Unfaßbare ihres Charakters. Sie schien gar keine Persönlichkeit zu sein, sondern nur das Talent zu besitzen, sich viele Charaktertypen anzueignen. Zuweilen widmete sie sich ganz der Kunst, verwandelte ihr Wohnzimmer in ein Atelier und brachte wöchentlich zwei bis drei Tage in Bildergalerien oder Museen zu. Dann plötzlich besuchte sie Pferderennen, zog sich so sportsmäßig an wie nur möglich und sprach über nichts, als über die Kunst des Wettens. Sie gab die Religion auf zugunsten des Mesmerismus, den Mesmerismus zugunsten der Politik, die Politik zugunsten der melodramatischen Freuden der Menschenliebe. Kurz, sie war eine Proteusnatur und in allen ihren Verwandlungen nicht minder fehlerhaft, als jener wunderliche Meergott, den Odysseus überraschte. Eines Tages erschien in einer französischen Zeitschrift eine Erzählung in Fortsetzungen. Damals pflegte ich derartige Erzählungen zu lesen, und ich erinnere mich deutlich, wie verblüfft ich war, als ich an die Beschreibung der Heldin gelangte. Diese glich meiner Freundin so sehr, daß ich ihr die Zeitschrift brachte. Sofort erkannte sie sich selbst und schien durch die Ähnlichkeit gefesselt. Ich muß dir übrigens sagen, daß die Erzählung aus irgendeinem verstorbenen russischen Autoren übersetzt war, so daß der Verfasser nicht nach meiner Freundin gezeichnet haben konnte. Um mich nun kurz zu fassen, war ich einige Monate darauf in Venedig und fand die Zeitschrift im Lesezimmer des Hôtels. Es war eine herzzerreißende Geschichte, denn das Mädchen war schließlich mit einem Manne davongelaufen, der nicht bloß in sozialer Hinsicht viel tiefer stand als sie, sondern auch geistig und moralisch. An jenem Abend schrieb ich meiner Freundin meine Ansichten über G. Bellini, über das köstliche Eis im Café Florio und über den künstlerischen Wert der Gondeln, fügte aber die Bemerkung hinzu, daß ihr Ebenbild in der Erzählung sehr töricht gehandelt habe. Ich erinnere nicht mehr, weshalb ich die Bemerkung machte, aber ich weiß noch, wie mich ein Grauen faßte, sie möchte das Gleiche tun. Noch ehe mein Brief sie erreichte, war sie mit einem Manne davongelaufen, der sie schon nach sechs Monaten im Stich ließ. Ich sah sie dann im Jahre 1884 in Paris, wo sie mit ihrer Mutter lebte, und fragte sie, ob vielleicht jene Erzählung an ihrem Handeln Schuld gewesen sei. Sie sagte mir, sie habe einen unwiderstehlichen Drang gefühlt, der Heldin auf ihrem seltsamen und verhängnisvollen Wege Schritt für Schritt zu folgen, und die Aussicht auf die letzten Kapitel habe sie mit geradezu fieberhafter Angst erfüllt. Als sie erschienen, war es ihr, als müsse sie sie verwirklichen, und sie tat es auch. Es war dies ein höchst einleuchtendes Beispiel jenes rein nachahmenden Instinktes, von dem ich vorhin sprach: freilich auch ein außerordentlich tragisches. Indes, ich will nicht länger bei einzelnen Fällen verweilen. Persönliche Erfahrungen sind äußerst beschränkt und verführerisch. Meine Absicht war, nur auf die allgemeine Regel hinzuweisen, daß das Leben die Kunst weit mehr nachahmt, als die Kunst das Leben, und ich bin überzeugt, daß du das zugeben wirst, wenn du einmal ernstlich darüber nachdenkst. Das Leben tritt mit dem Spiegel vor die Kunst und bildet den seltsamen Typus eines Malers oder Bildhauers nach, oder verwirklicht durch Taten den Traum eines Dichters. Philosophisch ausgedrückt ist die Grundlage des Lebens – die Energie des Lebens, wie Aristoteles sagen würde – einfach das Ringen nach Ausdruck, und die Kunst schafft immerwährend die verschiedensten Formen, durch die es sich ausdrücken kann. Das Leben greift sie auf und verwertet sie, und wenn es dabei selber zugrunde geht. Junge Männer haben Selbstmord begangen, weil Rolla ihn beging, haben sich das Leben genommen, weil Werther sich das Leben nahm. Bedenke, was wir der Nachahmung Christi, der Nachahmung Caesars verdanken.

 

Cyril. Das ist fürwahr eine höchst merkwürdige Lehre, aber um sie zu vervollständigen, mußt du dartun, daß auch die Natur, so gut wie das Leben, ein Abbild der Kunst ist. Bist du bereit, das zu beweisen?

Vivian. Ich bin bereit, alles zu beweisen, mein Lieber.

Cyril. Die Natur richtet sich also nach dem Landschaftsmaler und erhält ihre Wirkungen von ihm?

Vivian. Gewiß. Woher stammen jene wundervollen braunen Nebel, die durch unsere Straßen schleichen und die Lampen-Lichter verwischen und die Häuser in gestaltlose Schatten verwandeln, wenn nicht von den Impressionisten? Wem verdanken wir die prachtvollen Silbernebel, die auf unseren Flüssen lagern und in denen die geschwungene Brücke und die wiegende Barke in schwindelnde Linien zarter Grazie zerfließen, wenn nicht ihnen und ihrem Meister? Der ungeheure Umschwung, der während der letzten zehn Jahre in den klimatischen Verhältnissen Londons stattfand, ist einzig und allein dieser besonderen Kunstschule zuzuschreiben. Du lächelst. Betrachte die Sache einmal vom wissenschaftlichen oder metaphysischen Standpunkte, und du wirst sehen, daß ich recht habe. Denn was ist die Natur? Die Natur ist keine Urmutter, aus der wir alle geboren sind. Sie ist unser Erzeugnis. In unserem Gehirn nur erhält sie Leben. Die Dinge sind, weil wir sie sehen, und was wir sehen und wie wir sehen, ist von den Künsten abhängig, die uns beeinflussen. Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Ding ansieht, oder ob man es sieht. Man hat von einem Dinge noch nichts gesehen, ehe man nicht seine Schönheit sieht. Erst dann und nur dann tritt es ins Dasein. Heutzutage sehen die Menschen die Nebel, aber nicht, weil es Nebel gibt, sondern weil die Dichter und Maler ihnen die geheimnisvolle Schönheit solcher Erscheinungen offenbarten. Es hat wahrscheinlich ganze Jahrhunderte hindurch in London Nebel gegeben. Das glaube ich sogar ganz sicher. Aber niemand hat sie gesehen, und daher wissen wir nichts von ihnen. Sie traten nicht eher ins Dasein, als bis die Kunst sie erfunden hatte. Heute, muß man zugeben, sind Nebel eine wahre Plage geworden. Sie bilden die Manieriertheit einer Clique, und ihre übertrieben realistische Darstellung verursacht bei den Armen im Geiste Bronchitis. Wo sich die fein Gebildeten eine schöne Wirkung verschaffen, holen sich die Ungebildeten eine Erkältung. Seien wir daher human und lassen wir das wunderschöne Antlitz der Kunst sich anderen Dingen zukehren. Und in der Tat, es ist schon geschehen. Jenes weiße, webende Sonnenlicht, das wir jetzt bei den Franzosen sehen, von seltsamen, malvenfarbigen Flecken und ruhelosen, violetten Schatten unterbrochen, ist die neueste Phantasie der Kunst, und im Ganzen gibt die Natur sie in höchst bewunderungswürdiger Weise wieder. Während sie früher die Werke eines Corot und Daubigny nachahmte, bietet sie uns jetzt prachtvolle Monets und bezaubernde Pisaros. Ja, es gibt Augenblicke – sie sind zwar selten, aber sie sind – in denen die Natur ganz modern wird. Natürlicherweise ist sie nicht immer zuverlässig, zumal sie sich in folgender schlimmen Lage befindet. Die Kunst schafft eine völlig neue und einzig dastehende Stimmung und geht dann zu anderen Dingen über. Die Natur hingegen, indem sie vergißt, daß in der Nachahmung auch eine offene Beleidigung liegen kann, wiederholt diese Stimmung immer wieder, bis wir alle ihrer endlich überdrüssig werden. Kein wirklich gebildeter Moderner redet zum Beispiel von der Schönheit eines Sonnenunterganges. Sonnenuntergänge sind ganz aus der Mode. Sie gehören einer Zeit an, da Turner noch tonangebend war. Sie bewundern, heißt ›aus der Provinz‹ sein. Andererseits aber bestehen sie fort. Gestern abend wollte Mrs. Arundel durchaus, daß ich ans Fenster träte, um den, wie sie meinte, ›wundervollen Abendhimmel‹ zu betrachten. Natürlich mußte ich es tun. Sie ist eine jener etwas beschränkten aber hübschen Frauen, denen man nichts verweigern kann. Und was war es? Nichts weiter, als ein minderwertiger Turner, ein Turner aus seiner schlechten Zeit, wobei noch die schlimmsten Fehler des Malers ganz besonders zur Geltung kamen. Natürlich gebe ich gern zu, daß auch das Leben diesen Irrtum begeht. Es erzeugt schlechte Renés und unechte Vautrins, so gut wie die Natur bald einen zweifelhaften Kuyp, bald einen mehr als fragwürdigen Rousseau hervorbringt. Und doch, wenn es die Natur tut, stört es uns mehr. Es scheint von ihr so dumm, so selbstverständlich, so unnötig. Ein unechter Vautrin kann uns immerhin ergötzen; ein zweifelhafter Kuyp ist unerträglich. Doch will ich gegen die Natur nicht allzu scharf sein. Ich wünschte nur, der Kanal, besonders bei Hastings, gliche nicht ganz so oft einem Henry Moore, einer grauen Perle mit gelben Lichtflecken. Aber wenn die Kunst vielseitiger wird, so wird auch zweifellos die Natur vielseitiger werden. Daß sie die Kunst nachahmt, werden wohl heute nicht einmal ihre Feinde in Abrede stellen. Gerade in dieser Eigenschaft, und nur in dieser, behält sie mit dem Kulturmenschen Fühlung. Aber habe ich meine Lehre zu deiner Zufriedenheit bewiesen?

Cyril. Du hast sie zu meiner Unzufriedenheit bewiesen, und das ist noch besser. Aber selbst wenn man zugibt, daß das Leben und die Natur diesen seltsamen Trieb der Nachahmung besitzen, wirst du doch sicherlich anerkennen, daß die Kunst sowohl die Gefühls- und Geschmacksrichtung ihres Zeitalters, wie auch die Beschaffenheit der Moral und der Sitte darstellt, in deren Mitte und unter deren Einfluß sie entstanden ist.

Vivian. Durchaus nicht! Die Kunst stellt nichts dar außer sich selbst. Das ist die Grundlehre meiner neuen Ästhetik; und das macht es – mehr noch als jener innere Zusammenhang zwischen Form und Stoff, von dem Pater spricht – daß die Tonkunst der Typus aller Künste ist. Freilich sind die Völker, wie jeder einzelne Mensch, in dem Wahn befangen, daß sie diejenigen sind, von denen die Musen reden, und das erklärt sich aus der gesunden, natürlichen Eitelkeit, die das Geheimnis des Lebens ist. Sie suchen beständig in der stillen Hoheit geistigster Kunst irgendein Abbild ihrer eigenen Rasereien und vergessen immer, daß nicht Apollo, sondern Marsyas das Leben besingt. Der Wirklichkeit entrückt und das Antlitz den Schatten der Höhle abgewandt, offenbart die Kunst ihre eigene Vollendung, und wenn die staunende Menge der wunderreichen, tausendblättrigen Rose zusieht, wie sie sich erschließt, so glaubt sie ihre eigenen Schicksale und ihre eigenen Gedanken in neuer Verkleidung zu sehen. Aber sie sind blind. Die Kunst entäußert sich alles Menschlichen und gewinnt weit mehr durch neue Mittel und neue Stoffe, als durch irgendeine Begeisterung für die Kunst, oder irgendeine hohe Leidenschaft, oder irgendein großes Erwachen des menschlichen Bewußtseins. Sie entwickelt sich rein organisch. Sie ist nie ein Symbol des Zeitalters; die Zeitalter sind ihre Symbole.

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