Fingerzeige - Intentions

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LUNATA

Fingerzeige – Intentions

Fingerzeige

Essays und Dialoge über Ästhetik

© 1891 by Oscar Wilde

Originaltitel Intentions

Aus dem Englischen von Felix Paul Greve

Umschlagbild Aubrey Beardsley

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Anmerkung

Der Verfall der Lüge

Stift, Gift, Schrifttum

Kritik als Kunst – Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit des Nichtstuns

Kritik als Kunst – Mit einigen Anmerkungen über die Wichtigkeit allumfassender Erörterung

Die Wahrheit der Masken

Anmerkung

Diese neue Ausgabe meiner Übertragung der »Intentions« unterscheidet sich von der ersten dadurch, daß erstens eine ganze Reihe von Fehlern und Versehen ausgemerzt sind, und daß zweitens jede noch so begründete Auslassung prinzipiell verrmieden wurde. Der der Übersetzung zugrunde gelegte Text ist die Heinemannsche Ausgabe von 1891.

Paris-Plage, November 1905.

F. P. G.

Der Verfall der Lüge
Ein Dialog

Personen: Cyril und Vivian

Ort: Die Bibliothek eines Landsitzes der Grafschaft Nottingham

Cyril. (von der Terrasse her durch die offene Glastür eintretend). Aber Vivian, versteck' dich nicht den ganzen Tag lang in der Bibliothek! Es ist ein entzückender Nachmittag. Die Luft ist wundervoll. Über dem Walde liegt ein Nebel, purpurn wie der duftige Hauch der Pflaume. Komm, wir wollen uns ins Gras legen und Zigaretten rauchen und die Natur genießen. –

Vivian. Die Natur genießen? Gott sei Dank! das habe ich längst verlernt. Man sagt, die Kunst lehre uns die Natur mehr lieben, als wir sie früher liebten, sie offenbare die Geheimnisse der Natur und wir, mit Corot und Constable vertraut, sähen Dinge in ihr, die sich unserm Auge entzogen hatten. Meine Erfahrung aber ist die: je mehr wir die Kunst studieren, um so weniger kümmert uns die Natur. Was uns im Grunde die Kunst von der Natur offenbart, das ist ihr Mangel an planvoller Absicht, ihre seltsame Ungeschliffenheit, ihre furchtbare Eintönigkeit, das ganz Unfertige ihres Zustands. Zweifellos hat die Natur ›den besten Willen‹, aber, wie Aristoteles einmal sagt, sie kann ihn nicht ausführen. Wenn ich eine Landschaft betrachte, sehe ich auch gleich all ihre Fehler. Freuen wir uns aber, daß die Natur so unvollkommen ist, da wir sonst die Kunst nicht hätten. Die Kunst ist ein flammender Protest, ein ritterlicher Versuch, die Natur in ihre Schranken zurückzuweisen. Das berühmte Gerede von der unendlichen Mannigfaltigkeit in der Natur ist nichts als ein Mythus. Sie ist in der Natur selbst gar nicht vorhanden. Sie entspringt dem Denken, der Phantasie, der künstlerischen Blindheit dessen, der die Natur betrachtet.

Cyril. Nun! Du brauchst ja die Landschaft nicht anzusehen. Du kannst im Grase liegen und rauchen und plaudern.

Vivian. Aber die Natur ist so ungemütlich. Der Rasen ist hart und bucklig und feucht und wimmelt von schrecklichem Ungeziefer. Was meinst du? Selbst Morris' schlechtester Arbeiter macht dir ein besseres Lager, als die gesamte Natur. Die Natur verblaßt vor den Zimmereinrichtungen jener Straße, die von Oxford den Namen entlehnt, um die schreckliche Tirade eines Dichters anzuführen, den du so liebst. Ich klage aber nicht. Wäre die Natur wohnlich und behaglich, wir Menschen hätten nie die Architektur erfunden, und Häuser sind mir lieber als der offene Himmel. In einem Hause fühlen wir uns alle im richtigen Größenverhältnis. Alles ist uns untergeordnet, alles nach unseren Bedürfnissen eingerichtet. Selbst der Egoismus, der dem wahren Gefühl von der Würde des Menschen so notwendig ist, entstammt ganz und gar dem Leben im Hause. Draußen im Freien werden wir abstrakt und unpersönlich. Und die Natur ist so teilnahmslos. So oft ich hier im Park spaziere, merke ich, daß ich ihr nicht mehr bin, als das Vieh, das am Abhang weidet, oder die Dolde, die im Graben blüht. Die Natur haßt den Geist; nichts ist klarer. Es gibt nichts Ungesunderes als das Denken, und die Menschen gehen daran zugrunde, wie an irgendeiner andern Krankheit. Ein Glück noch, daß das Denken nicht ansteckend ist, wenigstens nicht in England. Die herrliche Gesundheit unseres Volkes verdanken wir lediglich unserer nationalen Borniertheit. Ich hoffe nur, daß es gelingen wird, dies große, geschichtliche Bollwerk unseres Glücks noch manches Jahr lang zu erhalten. Fast aber fürchte ich, wir stehen in Gefahr, an einem Überfluß von Bildung zu erkranken, da jeder sich aufs Lehren verlegt, der das Lernen verlernt hat. Das ist das eigentliche Resultat unserer Begeisterung für die Bildung. – Inzwischen aber gingst du besser wieder hinaus zu deiner langweiligen, unbehaglichen Natur, damit ich unterdes meine Korrekturen lesen kann.

Cyril. Du schreibst einen Artikel? Das ist doch sehr wenig konsequent nach dem, was du eben sagtest.

Vivian. Wer strebt denn nach Konsequenz? Die Philister, die Schulmeister, jene langweiligen Leute, die immer und ewig an ihren Prinzipien festhalten, selbst dann, wenn die Praxis sie ad absurdum führt. Ich wahrlich nicht. Ich setze, wie Emerson, über die Tür meiner Bibliothek das Wort ›Laune‹. Außerdem ist mein Artikel eine im höchsten Grade heilsame und wertvolle Warnung. Wenn sie befolgt wird, kann es eine neue Renaissance der Kunst geben.

Cyril. Wovon handelt er?

Vivian. Er soll heißen: ›Der Verfall der Lüge.‹ Ein Protest.

Cyril. Der Lüge? Ich dächte, unsere Politiker sorgten dafür, daß sie nicht verschwindet.

Vivian. Wirklich, Cyril; das tun sie nicht. Sie bringen es nie weiter als bis zu einer gewissen Verdrehung der Tatsachen, und sie lassen sich sogar noch auf langwierige Beweisführungen, Erörterungen und Untersuchungen ein. Wie anders die Gesinnung des echten Lügners mit seinen freien, furchtlosen Behauptungen, seiner grandiosen Ablehnung jeder Verantwortung, seiner gesunden und natürlichen Abneigung gegen Beweise irgendwelcher Art! Worin besteht denn das Wesen der schönen Lüge? Einfach darin, daß sie sich selbst beweist. Ist einer so arm an Phantasie, daß er seiner Lüge mit Beweisen erst noch zu Hilfe kommt, dann soll er lieber gleich die Wahrheit reden. Nein, die Politiker nützen uns nichts. Vielleicht könnte man einiges zugunsten der Gerichte sagen. Der Mantel der Sophistik fiel ihren Mitgliedern zu. Ihre erheuchelte Leidenschaft und leere Rhetorik ist köstlich. Sie können die schlimmere Sache zur besseren machen, als kämen sie direkt aus Gorgias Schulen; sie sollen sogar in erfolgreicher Weise von nachgiebigen Geschworenen für ihre Klienten die Freisprechung erzwungen haben, selbst wenn die Schuldlosigkeit dieser Klienten außer allem Zweifel stand. Doch sind sie durch die Prosa ihres Berufes gehindert und scheuen sich nicht, Präzedenzfälle herbeizuziehen. Trotz ihrer eifrigen Bemühungen siegt die Wahrheit. Selbst die Zeitungen sind entartet und sind jetzt vollkommen zuverlässig. Das merkt man, wenn man durch ihre Spalten watet. Immer geschieht das, was unlesbar ist. Ich fürchte, es läßt sich nicht viel sagen zugunsten weder des Juristen noch des Journalisten. Die Lüge übrigens, für die ich spreche, ist die Lüge auf dem Gebiete der Kunst. Soll ich einmal lesen, was ich geschrieben habe? Es kann dir vielleicht recht gut tun.

Cyril. Gewiß, wenn ich eine Zigarette haben kann. Danke schön. Für welche Zeitschrift ist übrigens der Artikel bestimmt?

Vivian. Für die ›Retrospective Review‹. Ich glaube, ich sagte dir schon, daß die Auserwählten sie wieder ins Leben gerufen haben.

Cyril. Wen meinst du mit den ›Auserwählten‹?

Vivian. Die ›Tired Hedonists‹ natürlich. Sie bilden einen Klub, dem ich auch angehöre. Wir tragen welke Rosen im Knopfloch und treiben eine Art Kult mit dem Kaiser Domitian. Dich würde man, fürchte ich, nicht wählen. Du bist zu harmlos.

Cyril. Ich würde wohl wegen allzu großer Lebenskraft ausgeschlossen.

Vivian. Wahrscheinlich. Ausserdem bist du ein wenig zu alt. Leute gewöhnlichen Alters nehmen wir nicht.

Cyril. Nun; ich glaube, ihr langweilt einander aus dem Grunde!

Vivian. Das tun wir; das ist einer der Zwecke des Klubs. Doch wenn du versprichst, mich nicht so oft zu unterbrechen, will ich dir meinen Artikel vorlesen.

Cyril. Ich werde ganz Ohr sein.

Vivian. (mit sehr deutlicher und klangvoller Stimme vorlesend). »›Der Verfall der Lüge. Ein Protest.‹ Eine der Hauptursachen, die zur Deutung des sonderbar trivialen Charakters des größten Teils unseres heutigen Schrifttums angeführt werden können, besteht zweifellos im Verfall der Lüge, als einer Kunst, einer Wissenschaft und einer geselligen Unterhaltung. Die Geschichtsschreiber der Alten stellten, was sie so wundervoll erdichtet, als geschichtliches Ereignis dar; der moderne Romanschreiber bietet uns langweilige Tatsachen als Dichtung verkleidet. Der Blaubuch-Stil wird ihm immer mehr zum Vorbild für Haltung und Gang seines Werkes. Er sammelt seine ewigen »documents humains«, er sucht sich seinen kleinen »coin de la création«, und legt ihn unter sein Mikroskop. Er schämt sich nicht, sein Material in der Librairie Nationale oder im Britischen Museum zusammenzulesen. Er hat nicht einmal den Mut zu fremden Meinungen, sondern meint, er müsse aufs Leben selbst zurückgehen. So kommt er schließlich zwischen Lexicis und persönlicher Erfahrung nieder; seine Gestalten sind die des Familienkreises oder der wöchentlichen Waschfrau, und niemals kann er, nicht einmal in den nachdenklichsten Momenten, seine Last nützlichen Wissens abschütteln. Der Schaden, der dem gesamten Schrifttum aus diesem falschen Ideal unserer heutigen Zeit erwächst, kann kaum überschätzt werden. Man hat sich in seinem Leichtsinn angewöhnt, von einem ›geborenen Lügner‹ wie von einem ›geborenen Dichter‹ zu sprechen. Beide Male mit Unrecht. Das Lügen sowohl wie das Dichten sind Künste – Künste, die, wie Plato erkannte, miteinander verwandt sind, und sie erfordern die größte Gewissenhaftigkeit und uneigennützigste Liebe. Und in der Tat haben sie auch, gleich den materielleren Künsten der Malerei und Skulptur, ihre eigene Technik, ihre eigenen Geheimnisse der Farbe und Form, ihre eigenen Handgriffe, eigene wohlüberlegte, künstlerische Methoden. Wie man den Dichter an seiner feinen Melodie erkennt, so auch den Lügner am rhythmischen Reichtum seiner Sprache, und bei keinem von beiden vermag die zufällige Eingebung des Augenblicks zu genügen. Wie überall, so muß auch hier der Vollendung die Übung vorangehn. Wenn aber heute das ›Dichten‹ viel zu allgemein geworden ist – man sollte es hindern, so viel wie möglich – so ist die Lüge fast in üblen Ruf geraten. Mancher junge Mensch tritt ins Leben mit der natürlichen Anlage, zu übertreiben, einer Anlage, die man mit Sorgfalt pflegen und an der Hand der höchsten Vorbilder züchten sollte, daß etwas Großes und Wunderbares aus ihr werde. In der Regel aber bringt ein solcher Mensch es zu nichts. Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit – –«

 

Cyril. Aber mein Lieber!

Vivian. Bitte, unterbrich mich nicht mitten im Satz. »Er gerät entweder in den Schlendrian einer peinlichen Genauigkeit, oder er sucht die Gesellschaft von Bejahrten und Wohlunterrichteten. Beides ist seiner Phantasie – und in der Tat der Phantasie eines jeden – verhängnisvoll, und es dauert nicht lange, so beginnt er eine krankhafte Vorliebe für die Wahrheit zu zeigen; er prüft alles, was in seiner Gegenwart behauptet wird, widerspricht rückhaltlos dem, der viel jünger ist, und oft schreibt er schließlich Romane, die dem nackten Leben so ähnlich sehen, daß keiner imstande ist, an ihre Möglichkeit zu glauben. Wir führen hiermit keinen vereinzelten Fall an. Es ist nur einer unter vielen; und wenn nichts geschieht, die heutige Vergötterung der Tatsachen auszurotten, zum mindesten einzudämmen, dann wird die Kunst welken und die Schönheit von hinnen ziehen.

Selbst Stevenson, jener reizvolle Meister zarter und phantastischer Prosa, zeigt die Flecken dieses modernen Lasters – denn wir wissen es wahrlich nicht anders zu nennen. So seltsam es auch klingen mag, aber man kann eine Geschichte unwahrscheinlich machen, wenn man versucht, sie zu wahr zu machen; so ist denn der ›Black Arrow‹ so unkünstlerisch, daß er sich nicht eines einzigen Anachronismus rühmen kann, während die Verwandlung Dr. Jekylls sich gefährlich nach einem Experiment aus dem Lancet anhört. Rider Haggard, der wirklich Anlage hat, oder doch hatte, ein grandioser Lügner zu werden, fürchtet jetzt so sehr, man könne meinen, er sei ein Genie, daß er es für nötig hält, eine persönliche Reminiszenz zu erfinden, um sie in einer Anmerkung als feige Bestätigung des Erzählten anzubringen. Aber die anderen sind auch nicht viel besser. Mr. Henry James schreibt Romane, als sei es eine peinliche Pflicht, und verschwendet seinen hübschen, gelehrten Stil, seine treffenden Wendungen, seine behende und beißende Satire an niedrige Motive und unerfindliche ›Gesichtspunkte‹. Mr. Hall Caine strebt zweifellos nach Grandiosität, nur überschreit er sich. Er ist so geräuschvoll, daß man nicht hört, was er sagt. Mr. James Payn ist ein Virtuose in der Kunst, alles zu verhüllen, was nicht einmal verdient, gefunden zu werden. Er spürt mit dem Eifer eines kurzsichtigen Geheimpolizisten Dinge auf, die niemand nicht sieht. Je länger man liest, um so unerträglicher wird die Spannung des Verfassers.

Den Sonnenrossen William Blacks fehlt die Kraft, zur Sonne emporzusteigen. Sie versetzen den Abendhimmel nur in farbenwilden Schrecken. Sobald sie nahen, retten die Bauern sich in den Dialekt. Mrs. Oliphant weiß in gefälliger Weise von Geistlichen, Tennisgesellschaften, häuslichen Angelegenheiten und anderen langweiligen Dingen zu plaudern. Marion Crawford hat sich auf dem Altar der Lokalfarbe geopfert. Er gleicht der Dame des französischen Lustspiels, die immer nur von dem ›beau ciel d'Italie‹ spricht. Außerdem hat er die schlimme Angewohnheit, sich in moralischen Platitüden zu ergehen. Er versichert uns immer, das Gute sei gut und das Böse schlecht. Zuweilen ist er beinahe erbaulich. Robert Elsmere ist natürlich ein Meisterwerk, ein Meisterwerk des ›genre ennuyeux‹, der einzigen Form des Schrifttums, die die Engländer wirklich zu genießen scheinen. Ein denkender junger Freund von uns bemerkte einmal, ihn erinnere das Buch an eine Art ernster Unterhaltung, wie sie in dem Hause einer nonkonformistischen Familie beim Nachmittags-Tee geführt werde, und wir können uns denken, daß er sehr recht hat. In der Tat, solche Bücher sind nur in England möglich. England ist die Stätte der Geistlosigkeit. Von der übrigen großen und täglich noch wachsenden Zahl der Romanschreiber, denen die Sonne nur im ›East-End‹ aufgeht, läßt sich nur eins sagen: sie verwandeln die Ungeschliffenheit des Lebens in brutale Rohheit.

In Frankreich steht es auch nicht viel besser, obgleich dort nichts so ausgesprochen Langweiliges entstanden ist, wie Robert Elsmere. Guy de Maupassant weiß mit seiner beißenden, bitteren Ironie und seinem harten, farbenreichen Stil das Leben seiner letzten, armseligen Lumpen zu berauben, um uns zehrendes Geschwür und brandige Wunden zu zeigen. Er schreibt kleine, gespenstische Tragödien, in denen jedermann lächerlich ist, oder bittere Komödien, über die man vor Tränen nicht lachen kann. Zola, seiner hochtrabenden Lehre getreu: L'homme de génie n'a jamais d'esprit, ist entschlossen, uns zu überzeugen, daß er, ohne Genie zu besitzen, wenigstens langweilen kann. Und wie gut ihm das gelingt! Doch ist er nicht ohne Kraft der Schilderung. Ja, zuweilen, wie im Germinal, zeigt er fast epische Größe. In allem aber ist er auf grundfalscher Fährte, nicht als Moralist, aber als Künstler. Vom Standpunkte der Moral ist er unantastbar. Er redet stets die Wahrheit und seine Beschreibungen stimmen vollständig mit dem Leben überein. Was kann man mehr verlangen? Wir haben durchaus kein Verständnis für die moralische Entrüstung, die sich heutzutage gegen Zola geltend macht. Sie ist die moralische Entrüstung des entlarvten Tartuffe. Was hingegen läßt sich vom Standpunkt der Kunst zu seinen Gunsten sagen, zugunsten des Verfassers von L'Assommoir, Nana und Pot-Bouille? Nichts. Ruskin vergleicht einmal die Charaktere der Eliotschen Romane mit dem Abschaum eines Pentonviller Omnibus; aber Zolas Charaktere sind weit schlimmer. Sie langweilen uns mit ihren Lastern und mehr noch mit ihren Tugenden. Ihr Leben hat auch nicht das geringste Interesse. Wer nimmt an ihrem Schicksal teil? Die Literatur verlangt Vornehmheit, Zauber, Schönheit und schöpferische Kraft. Wir wollen nicht belästigt und angeekelt sein von Dingen, die sich in den unteren Volksschichten abspielen. Besser steht es mit Daudet. Er hat Witz, einen zarten Anschlag und amüsanten Stil. Er hat aber kürzlich literarischen Selbstmord begangen. Wer findet noch Gefallen an dem ›lutter pour l'art‹ Delobelles, dem immer wiederkehrenden Nachtigallen-Refrain Valmajours, den ›mots cruels‹ des Dichters im Jack, nachdem man nun aus Vingt Ans de ma Vie littéraire erfahren hat, daß diese Charaktere dem Leben entnommen sind? Für uns haben sie plötzlich alle Lebendigkeit verloren, all die wenigen guten Eigenschaften, die sie je besaßen.

Wirkliche Menschen sind nur solche, die nie gelebt haben; und wenn ein Romanschreiber so tief steht, daß er sich um seine Charaktere unmittelbar ans Leben wendet, so soll er ihnen wenigstens den Anschein geben, als seien sie Dichtungen, und nicht sich ihrer als Kopien rühmen. Die Berechtigung eines Charakters in einem Roman besteht nicht in der Wahrheitstreue anderer, sondern in der Persönlichkeit des Verfassers. Sonst ist der Roman kein Kunstwerk.

Was Paul Bourget betrifft, den Meister des »roman psychologique«, so ist er in dem Wahn befangen, es liessen sich moderne Männer und Frauen unzählige Kapitel hindurch bis ins kleinste hinein analysieren. Was wirklich interessant ist an Menschen der guten Gesellschaft – und höchst selten verläßt Herr Bourget den Faubourg-St. Germain, es sei denn, daß er nach London kommt – das ist die Maske, die jeder trägt, nicht aber die Wirklichkeit, die hinter der Maske liegt. Es ist ein demütigendes Geständnis, aber wir sind alle aus demselben Stoff. Falstaff hat etwas von Hamlet, Hamlet gar manches vom Falstaff. Der feiste Ritter hat seine Anfälle von Melancholie, der junge Prinz seine Augenblicke derben Humors. Die Merkmale aber, die uns voneinander abheben, bestehen nur in Nebendingen: in Kleidung, Manieren, Klang der Stimme, religiösen Meinungen, äußerer Erscheinung, Angewohnheiten und dergleichen. Je mehr man die Menschen analysiert, um so mehr verschwinden alle Gründe, sie zu analysieren. Endlich stößt man doch auf das allumfassende Ungeheuer, das sich die menschliche Natur nennt. Es ist wahrlich kein leerer Dichtertraum, daß alle Menschen Brüder sind, sondern demütigende, deprimierende Wahrheit. Das wissen diejenigen nur zu gut, die je unter Armen gearbeitet haben. Und will ein Schriftsteller denn durchaus die Menschen der oberen Gesellschaftsklassen analysieren, so könnte er lieber gleich von Obstfrauen und Straßenverkäufern reden.« Indes, ich will dich gerade hier nicht länger aufhalten, Cyril. Ich gebe zu, daß moderne Romane auch ihre guten Seiten haben. Nur sage ich, daß sie als Gesamtheit einfach nicht zu lesen sind.

Cyril. Das ist freilich eine nachdenkliche Abschätzung. Doch finde ich auch manches ungerecht in deiner Kritik. Ich liebe ›The Deemster‹ und ›The Daughter of Heth‹ und ›Le Disciple‹ und Mr. Isaacs; und Robert Elsmere verehre ich geradezu. Nicht, daß ich ihn ernst nehmen könnte. Die Darlegung von Problemen für denkende Christen ist abgeschmackt und veraltet, ist Arnolds ›Literature and Dogma‹ ohne die Literatur. Sie bleibt ebensoweit hinter der Zeit zurück, wie die ›Evidences‹ von Paley oder die Colensosche Methode der Bibelexegese. Auch spielt der unglückselige Held die kläglichste Rolle, wenn er feierlich eine Morgenröte verkündet, die längst schon aufging, und von der Bedeutung derselben so wenig weiß, daß er bereit ist, die veralteten Verhältnisse bestehen zu lassen und ihnen nur einen neuen Namen zu geben. Andererseits aber enthält der Roman einige geschickte Karikaturen und eine Fülle hübscher Zitate, und die Philosophie Greens versüßt in höchst angenehmer Weise die etwas bittere Pille der eigentlichen Dichtung. Sodann muß ich mich sehr darüber wundern, daß du jene beiden nicht erwähntest, die du beständig liest, Balzac und George Meredith. Das sind doch Realisten, beide?

Vivian. Ah! Meredith! Wer will ihn beschreiben? Sein Stil ist Chaos, das von zuckenden Blitzen leuchtet. Als Schriftsteller beherrscht er alles, nur nicht die Sprache; als Romanschreiber kann er alles, nur nicht erzählen; als Künstler ist er alles, nur nicht klar. Irgendeiner bei Shakespeare – ich glaube Touchstone – spricht von einem Mann, der sich an seinem eigenen Witz beständig die Glieder zerschlägt, und wie mir scheint, könnte man mit diesem Wort Merediths Art und Weise abtun. Was er aber auch sein mag, Realist ist er nicht. Oder doch vielleicht ein Sohn des Realismus, aber einer der sich mit seinem Vater nicht steht. Durch eigene, freie Wahl ist er zum Romantiker geworden. Er verschmähte es, vor Baal das Knie zu beugen, und wenn sich auch des Mannes herrlicher Geist nicht empörte gegen die lärmenden Anmaßungen des Realismus, es genügte sein bloßer Stil, um das Leben in angemessener Entfernung zu halten. Mit diesem Stil hat er eine Hecke um seinen Garten gezogen, eine Hecke von Dornen und roter Rosenpracht. Balzac vereinigt in eigentümlicher Weise das artistische Temperament und den wissenschaftlichen Geist. Diesen vermachte er an seine Schüler; jenes blieb ganz sein eigen. Der Unterschied zwischen einem ›Assommoir‹ Zolas und Balzacs ›Illusions Perdues‹ ist der Unterschied zwischen unschöpferischem Realismus und schöpferischer Realität. »Alle Charaktere Balzacs«, sagte Baudelaire, »durchströmt dieselbe Lebensglut, die ihn beseelte. Der geheimnisvolle Farbengehalt seiner Dichtung ist der der Träume. Jede einzelne Gestalt ist eine Kanone geladen mit Willen. Selbst die Küchenjungen haben Genie.« Ein fortgesetztes Studium Balzacs verwandelt unsere Freunde in Schattenbilder und unsere Bekannten in Schatten von Schattenbildern. Seine Gestalten sind gleichsam glühende, feuerfarbene Wesen. Sie lassen uns nicht los und vernichten jeden Zweifel. Eine der größten Tragödien meines Lebens ist der Tod des Lucien de Rubempré. Von seinem Wehe habe ich mich niemals völlig befreien können. Er verfolgt mich in meiner Freude. Ich muß an ihn denken, wenn ich lache. Aber ein Realist ist Balzac so wenig wie Holbein. Sein Werk war Schöpfung, nicht Nachbildung. Doch gebe ich zu, daß er viel zu hohen Wert legte auf die Modernität der Form, und daß infolgedessen kein Buch von ihm vorhanden ist, das als ein Meisterwerk der Kunst bestehen könnte neben »Salammbô« oder »Esmond«, »The Cloister and the Hearth« oder dem »Vicomte de Bragelonne«.

 

Cyril. Du bist also ein Gegner der Modernität der Form?

Vivian. Ja. Sie bedeutet ein allzu großes Opfer. Reine Modernität der Form hat stets etwas Verhäßlichendes; und das mit Notwendigkeit. Die Leute glauben, weil sie selbst an den Vorgängen ihrer nächsten Umgebung teilnehmen, es müsse auch die Kunst an ihnen teilnehmen und sie zu ihrem Gegenstande wählen. Aber schon die Tatsache, daß sie an diesen Dingen teilnehmen, genügt, sie für die Kunst unbrauchbar zu machen. Die einzigen wirklich schönen Dinge, sagte einmal jemand, sind die Dinge, die uns nichts angehen. Solange uns ein Ding nützlich oder notwendig erscheint, oder uns mit Schmerz oder Freude, Liebe oder Haß erfüllt, oder einen wesentlichen Bestandteil unserer nächsten Umgebung bildet, liegt es außerhalb des eigentlichen Kunstgebietes. Die Gegenstände der Kunst müssen uns mehr oder weniger gleichgültig sein. Auf alle Fälle sollten wir uns fern halten von Vorliebe, Vorurteilen und eigennützigen Interessen irgendwelcher Art. Gerade, weil uns Hecuba nichts angeht, bilden ihre Leiden ein so herrliches Motiv der tragischen Kunst. Ich kenne in der gesamten Literaturgeschichte nichts Beklagenswerteres, als die künstlerische Laufbahn Charles Reades. Er schrieb ein einziges wunderschönes Buch, »The Cloister and the Hearth«, ein Buch, das ebensosehr über Romola, wie Romola über Daniel Doronda steht; und er verschwendete den Rest seines Lebens auf den unsinnigen Versuch, modern zu sein, die Öffentlichkeit auf den Zustand unserer Gefängnisse und die Leitung unserer Irrenhäuser aufmerksam zu machen. Es war schon in jeder Beziehung entmutigend, daß ein Charles Dickens versuchte, für die Opfer des Armengesetzes unser Mitleid zu erregen, aber ein Künstler, ein Gelehrter, ein Mann von wahrem Schönheitssinn – ein Charles Reade, der gegen die Übelstände heutiger Lebensverhältnisse wettert und wütet wie ein gemeiner Zeitungs- und Flugblattschreiber, ist wahrlich ein Anblick zum Erbarmen. Glaube mir, Cyril, Modernität der Form und Modernität des Gegenstandes zu fordern, ist von Grund aus verkehrt. Wir haben das Gewand der Musen in moderner Alltagstracht erblickt und verbringen unsere Tage in den schmutzigen Straßen und häßlichen Vororten unserer scheußlichen Großstädte, während wir am Bergeshange mit Apoll verweilen sollten. Wahrlich, unser Geschlecht ist entartet, und wir haben unsere Erstgeburt verkauft für ein Gericht von Tatsachen.

Cyril. Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, und was uns immer reizen mag, einen modernen Roman zu lesen, wir werden selten am Wiederlesen einen künstlerischen Genuß haben. Und das ist vielleicht der beste Prüfstein, ob etwas zur eigentlichen Literatur gehört oder nicht. Wenn ein Buch nicht verträgt, immer wieder und wieder gelesen zu werden, hat es keinen Wert, es überhaupt zu lesen. Aber was hältst du von der Rückkehr zum Leben und zur Natur? Das ist das Universal-Heilmittel, das uns immer wieder empfohlen wird.

Vivian. Ich will einmal vorlesen, was ich darüber sage. Die Stelle kommt zwar etwas später, aber ich kann sie dir schon jetzt geben: –

»Es heißt heute allgemein: ›Laßt uns zum Leben und zur Natur zurückkehren; sie werden uns die Kunst wieder neu erschaffen und dem Blute ihrer Adern neues Leben geben; sie werden ihren Fuß beschwingen und ihrer Hand Macht verleihen. – ‹ Aber ach! wir sind auf verkehrtem Wege mit unsern gutgemeinten und ehrlichen Bestrebungen. Die Natur ist immer hinter der Zeit zurück. Und das Leben – es ist das Zerstörungsmittel der Kunst, der schlimme Feind, der ihr Gebäude verwüstet.«

Cyril. Was heißt das, die Natur ist immer hinter der Zeit zurück?

Vivian. Nun; das ist vielleicht etwas dunkel. Ich verstehe darunter folgendes: Wenn wir in der Natur nur den gemeinen, natürlichen, kindlichen Instinkt sehen, im Gegensatz zu selbstbewußter Kultur, so ist alles, was unter diesem Einflusse geschaffen wird, altmodisch und veraltet. Ein wenig Natur macht die ganze Welt verwandt, aber ein wenig zu viel Natur muß jedes Kunstwerk verderben. Wenn wir andererseits die Natur als Summe aller Erscheinungen der Außenwelt auffassen, so entdecken wir in ihr nur das, was wir in sie hineinlegen. Sie suggeriert nichts Eigenes. Wordsworth ging an die Seen, aber nie lernte er, sie besingen. Er fand im Gestein nur die Predigten, die er selbst dort verborgen hatte. Moralpredigend zog er im Lande umher, aber nur dann schuf er wahrhaft Wertvolles, wenn er zurückkehrte nicht zur Natur, sondern zur Poesie. Die Poesie schenkte ihm »Laodamia«, und die herrlichen Sonette, und die »Great Ode« in ihrer ganzen Schönheit. Die Natur schenkte ihm »Martha Ray« und »Peter Bell« und die Ansprache an Mr. Wilkingsons Spaten.

Cyril. Ich glaube, es ließe sich darüber streiten. Ich bin geneigt, an die inspirierende Wirkung eines Frühlingswaldes zu glauben, obgleich, wie sich von selbst versteht, der künstlerische Wert einer solchen Eingebung einzig und allein abhängig ist von der Beschaffenheit der empfangenden Seele, so daß die Rückkehr zur Natur das Heranwachsen zu einer großen Persönlichkeit bedeutete. Damit würdest du wohl übereinstimmen. Indes, fahre in deinem Artikel fort.

Vivian. (vorlesend). »Die Kunst beginnt mit übersinnlicher Dekoration, mit rein erdichtender und erfindungsfröhlicher Arbeit, sich nur mit dem befassend, was unwahr und unwirklich ist. Das ist die erste Phase. Sodann verliebt sich das Leben in dieses neue Zauberwesen und bittet um Einlaß in den verzückten Kreis. Die Kunst verwendet das Leben als einen Teil ihres rohen Materials, schafft es um und gibt ihm neue Gestalt, erfindet, erdichtet, träumt und errichtet zwischen sich und der Wirklichkeit die unverletzliche Schranke des schönen Stils, der dekorativen und idealen Behandlungsweise. Die dritte Phase ist die, in der das Leben die Oberhand gewinnt und die Kunst in die Wildnis hinaustreibt. Dies ist die eigentliche Decadence, und sie ist es, unter der wir heute leiden. Nehmen wir zum Beispiel das englische Drama. Zunächst, in den Händen der Mönche, war die dramatische Kunst übersinnlich, dekorativ, mythologisch. Dann nahm sie das Leben in ihren Dienst, und gewisse äußere Formen des Lebens benutzend, schuf sie eine völlig neue Art von Wesen, deren Leiden furchtbarer waren, als je die Leiden eines Menschen, deren Freuden größer waren, als alles Glück der Liebenden, die die Leidenschaft der Titanen besaßen und die Ruhe der Götter, denen große und grandiose Sünden zu eigen waren und große und grandiose Tugenden. Ihnen wurde eine Sprache verliehen, verschieden von der des Alltags, eine Sprache, reich an klingender Melodie und zierlichen Rhythmen. Ernster Tonfall gab ihr Pracht und bunte Reime Lieblichkeit. Herrliche Worte schmückten sie wie mit Edelsteinen, erhabenes Pathos gab ihr den Reichtum. Die Kunst kleidete ihre Kinder in wunderliche Tracht und gab ihnen Masken, und auf ihr Geheiß erhob sich die antike Welt aus marmornem Grabe. Ein neuer Caesar stolzierte durch die Straßen des erstandenen Rom, und mit purpurnem Segel und flötenbezaubertem Ruder glitt der Nachen einer neuen Cleopatra zu Antiochus. Alte Mythen und Legenden, alter Zauber gewannen Gestalt und Wirklichkeit. Das Buch der Geschichte wurde umgeschrieben, und es gab fast keinen Dramendichter, der nicht anerkannte, daß das Ziel der Kunst nicht einfache Wahrheit, sondern mannigfache Schönheit sei. Und hierin hatten sie vollkommen recht. Die Kunst ist in Wirklichkeit eine Form der Übertreibung; und die feine Auswahl, in der die eigentliche Seele der Kunst besteht, ist nichts als der höchste Grad der Unterstreichung.

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