John Coltrane

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John Coltrane
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Peter Kemper

John Coltrane

Eine Biographie

Reclam

2., vollständig durchgesehene und erweiterte Auflage

2017, 2020 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: John Coltrane, Newport Festival 1960. Photographie von William Claxton. Photograph by William Claxton / Courtesy Demont Photo Management

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961200-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020603-4

www.reclam.de

Inhalt

  Das Rätsel Coltrane

  Der Enkel des Predigers

  Kindheit und erste musikalische Gehversuche (1926–1945)

  Bop- und Blues-Bekenntnisse

  Sideman bei Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Earl Bostic und Johnny Hodges (1945–1955)

  Im Dickicht der Linien und Harmonien

  Lehrjahre bei Miles Davis und Thelonious Monk (1956–1958)

  Blaue Stunde

  Geburtshelfer eines Jahrhundert-Albums (1959)

  Große Sprünge

  Von Giant Steps zu My Favorite Things (1959–1960)

  Anarchist und Zerstörer

  Von Giant Steps zu My Favorite Things (1959–1960)

  Schutzraum und Wildbahn

  Das »klassische Quartett« (1962–1963)

  Anbetung und Himmelfahrt

  Von A Love Supreme zu Ascension (1964–1965)

  Die letzten Jahre

  Herausforderer und Ziehsöhne – Pharoah Sanders und Archie Shepp (1965–1967)

  Würde, Wärme, Wahrheit

  Sound und Spiritualität

  Literatur

  Die wichtigsten Websites zu John Coltrane

  Auswahl-Diskographie

  Abbildungsnachweis

  Werkregister (Alben und Stücke)

  Personenregister Zum Autor

Das Rätsel Coltrane


In den letzten Monaten seines Lebens schien John Coltrane an die Grenzen des musikalisch Sagbaren gekommen zu sein. In Konzerten des Jahres 1967 nahm er wiederholt auf dem Höhepunkt eines Solos plötzlich sein Saxophon aus dem Mund, trommelte auf seine Brust und keuchte nur noch einen Singsang in das Mikro. Rashied Ali, seit November 1965 Schlagzeuger in John Coltranes Quintett, erinnerte sich später an diese skurrilen Situationen: »Ich sagte dann: ›Mensch, Trane, warum machst du das, warum haust du dir auf die Brust und heulst in das Mikrophon?‹ Und er sagte: ›Mann, mir fällt nichts mehr ein, was ich auf meinem Instrument noch spielen könnte.‹ Er hatte das Saxophon vollkommen ausgeschöpft. Er fand nichts mehr, das er darauf hätte spielen können, ihm ging sozusagen das Saxophon aus.«

Diese Anekdote ist bezeichnend: Bis zur vollkommenen Selbstaufgabe erforschte Coltrane in den zwei Jahrzehnten seiner Karriere sein Instrument und trieb es in gänzlich neue Ausdrucksbereiche. Je weiter er sich von der Melodik des Rhythm ’n’ Blues, von den Akkord-Brechungen des Bebop und der Skalen-Weite des modalen Jazz entfernte, am Ende nur noch sprachähnliche Schreie auf seinem Horn produzierte, umso stärker wurden ihm zugleich die Beschränkungen des Instruments als einer bloßen »Prothese der Seele« bewusst. So war es letztlich nur konsequent, dass er in Momenten höchster Ausdrucksintensität auf dem Saxophon verstummen musste. Ihm gingen nicht nur die Noten aus, das Musikinstrument selbst erwies sich als untauglich, die spirituelle Fülle, die Coltrane in seinem Innern verspürte, noch zu artikulieren. Die Rückkehr zum archaischen Ritual – es hat seinen Ursprung in den frühesten Menschheitstagen – wirkt wie Regression und verzweifelte Befreiung zugleich.

Es ist dieser oft schmerzhafte, von Irrwegen und Brüchen keinesfalls verschont gebliebene Befreiungsprozess aus musikalischen Konventionen, der die Biographie John Coltranes so aufregend macht. Während sein Lebensalltag – sieht man von Alkohol- und Drogenproblemen in den frühen Jahren einmal ab – relativ ruhig und gleichmäßig, in geordneten Bahnen verlief und keinesfalls durch jene Exzesse und Zügellosigkeiten geprägt war, wie man sie von Jazzmusikern in ihrem Privatleben eigentlich erwartet, entwickelten sich die wahren Abenteuer in Coltranes Kopf. Lebenspralle Anekdoten, die seine Person in grell entlarvendem Licht erscheinen lassen, sucht man bei ihm vergebens. So lassen sich seine biographischen Wegmarken – es gibt inzwischen sogar eine Tag-für-Tag-Chronologie seiner musikalischen Aktivitäten – vollständig nachzeichnen, ohne dass man dem Geheimnis von Coltranes anhaltender Faszinationskraft damit auch nur einen Schritt näher kommen würde.

Worin besteht der eigentümliche Zauber seiner Musik, der uns noch heute berührt, und welche Motive, Inspirationsquellen und Triebkräfte verbergen sich hinter den Sound-Explosionen seines Saxophonspiels? Wie kann man dem Mysterium seines Klangs auf die Spur kommen und dabei zugleich den Menschen hinter der Musik kennenlernen?

Der »Fall Coltrane« ist vor allem ein Fall für die Ohren: Anhand seiner Schallplattenaufnahmen kann der Hörer die Geschichte eines erfolgreichen wie letztlich aussichtslosen Kampfes gegen die künstlerischen Beschränkungen durch die Umwelt nacherleben. Er kann sich mittels der stets vorwärtsdrängenden Musik in die Psyche des Musikers und in die Umstände seiner Zeit hineinversetzen und selbst auf eine rücksichtslose Reise der Ich-Erkundung gehen: Vom Bebop zum Free Jazz, vom schützenden Hort formaler Strukturen zur erschreckenden Einsamkeit der Freiheit. ›Trane‹ – so sein Spitzname – war ein Antreiber und ein Getriebener zugleich: Seine Musik in den Sechzigern klingt wie ein dahindonnernder Hochgeschwindigkeitszug, der zwar noch einen Lokführer besitzt, aber, einmal in Fahrt gebracht, auch von diesem nicht mehr zu stoppen ist. In nur sieben Jahren – 1960 gründete er nach dem Ausscheiden bei Miles Davis seine eigene Gruppe – trieb Coltrane den Jazz aus dem sicheren Hafen des modalen Jazz weit aufs offene Meer hinaus, indem er am Ende auch noch die Halteleinen der Tonskalen über Bord warf, um einsam im Ozean seiner Klänge zu schwimmen und schließlich darin zu versinken.

Es gibt wohl keinen Jazzmusiker im 20. Jahrhundert, der in so kurzer Zeit eine so rasante und zugleich radikale künstlerische Entwicklung durchlaufen hat wie John Coltrane. Seine ganze Karriere war eine Folge von Häutungen: Hatte er einen Stil erst einmal erforscht, war er für ihn uninteressant geworden, und er wandte sich – oft zum Leidwesen seiner Fans und der etablierten Jazzkritik – etwas Neuem zu, das, in seiner Substanz bereits erahnbar, in seinen Konturen aber noch unscharf blieb. Coltrane war ein Suchender aus Passion.

In seiner einundzwanzigjährigen Karriere – vom namenlosen Mitglied einer Militärband 1946 auf Hawaii bis zur Vaterfigur des Free Jazz 1967 in New York – stellte er den Jazz vom Kopf auf die Füße, oder auf die Knie eines Betenden. Am Ende seines Lebens ging es nur noch um Sound, um den puren Klang, der alle kompositorischen Anstrengungen, alle solistischen Formen und Strukturen hinter sich gelassen hatte. Der Klarinettist Jimmy Giuffre erinnert sich: »Es war, als ob er nackt auf der Bühne stehen, die Musik aus dem Mann, nicht aus dem Instrument kommen würde.«

John Coltrane verkörpert den seltenen Fall einer künstlerischen Evolution, die zugleich eine Revolution war. Man kann sich seinen Weg anhand weniger musikalischer Stationen vergegenwärtigen. 1958 prägte der Jazzkritiker Ira Gitler den Terminus »sheets of sound«. Er umschrieb damit ein unerhörtes Phänomen, das er – nach Coltranes Lehrjahren bei Thelonious Monk – in dessen Saxophonspiel ausgemacht hatte: Die in rasend schnell gespielten Sechzehntelnoten zerlegten Tonleitern und Arpeggios reihen sich so dicht aneinander, dass beim Hörer die Illusion von Soundflächen entsteht. Diese »sheets of sound« sollten fortan zum Markenzeichen Coltranes werden.

 

Im Frühjahr 1959 nahm er mit der Miles-Davis-Band das epochale Album Kind of Blue auf. Nur vier Wochen später antwortete Trane auf das intim-gelassene »So What« mit seiner vertrackten Komposition »Giant Steps« – an den äußersten Grenzen funktionsharmonischer Logik. Im darauffolgenden Jahr trieb er auf dem damals exotisch wirkenden Sopransaxophon die sentimentale Musical-Melodie »My Favorite Things« durch einen Irrgarten modalen Skalenspiels. 1961 erzeugte Trane in dem Stück »Africa« die Dschungel-Atmosphäre eines brodelnden Bigband-Sounds und entdeckte in der Komposition »Olé« die Verheißungen arabischer Tonalität. Die rauen, ungestümen Kollektivimprovisationen von Live at The Village Vanguard im selben Jahr schockierten die Jazzwelt. Die Kritiker des Down Beat, mit ihrer damals an Allmacht grenzenden Deutungshoheit, warfen Coltrane »Anti-Jazz«-Tendenzen vor. Zwischendurch nahm er immer wieder versöhnliche Platten wie Ballads oder John Coltrane & Duke Ellington auf, wo er den melodischen Schmelz seines Saxophonspiels genüsslich auskosten konnte. 1964 folgte dann mit A Love Supreme ein religiöser Schock: Spiritueller Irrweg? Meditative Innerlichkeit statt schwarzer Befreiungsmusik? Dieses Album gilt als Schlüsselwerk in Coltranes Leben: summierender Rückblick und visionärer Vorgriff auf Kommendes. Für viele stellt es den Höhepunkt in seinem Werk dar. Die achtköpfige Kollektivimprovisation Ascension vom Juni 1965, durchsetzt mit Mini-Soli, wirkte in ihrer intuitiven Kraft, ihrer Klanggewalt und hymnischen Eindringlichkeit beispiellos. Selbst Ornette Colemans Free Jazz-Album klang dagegen wie eine formal gebändigte Übung. Die Wirkung dieser erdenschweren »Himmelfahrt« reichte damals weit über innermusikalische Phänomene hinaus. Hier wurde die Jazzgruppe als soziale Einheit neu erfunden: als gleichberechtigtes Kollektiv, als gemeinschaftliche Interaktion, die ihre strukturelle Zielrichtung aus dem Augenblick heraus definierte. Fast wirkte Ascension wie ein sozialistisches Experiment mit Klängen, zumindest aber wie eine hymnische Feier des radikal-demokratischen Spielideals.

Coltrane schien inzwischen eindeutige Qualitätskriterien für seine Musik abzulehnen: er wollte sie nicht mehr mit Werturteilen beschweren und rational einordnen. Spätestens ab 1965 – nicht zuletzt unter dem Einfluss seines zweiten Saxophonisten Pharoah Sanders und der a-rationalen Spielhaltung eines Albert Ayler – wurde Coltranes Klangwelt zunehmend von einer meta-musikalischen Logik beherrscht, die allein intuitiven Regungen der Gefühle, Nervenreaktionen und assoziativen Gesten gehorchte. Ende 1966 – nach einer umjubelten Japan-Tour – hatte Coltrane die Club-Gastspiele mit ihren 45-minütigen Sets endgültig satt. Er wirkte jetzt ein wenig müde, eine Krebserkrankung hatte bereits ihre Spuren in seinem Körper hinterlassen. Der geschwätzigen Sprache misstraute er fortan mehr und mehr: Sein letztes, zu Lebzeiten fertiggestelltes Album Expression sollte dezidiert ohne erklärenden Covertext auskommen. Coltranes Musik seiner letzten Lebensjahre lässt sich weniger verstehen als vielmehr erspüren. Sein Freund Don DeMichael hat versucht, ihr Geheimnis zu fassen: »Sie öffnet einen Teil meines Selbst, der normalerweise fest verschlossen bleibt. Halbverschüttete Gefühle und Gedanken dringen durch diese offene Tür ins Freie und durchströmen mein Bewusstsein.« Jazz als Therapie, als Selbstermächtigung und sozialer Indikator.

In den Sechzigern, der Blütezeit Coltranes, wurde die improvisierte Musik als radikale, innovationshungrige Kunstform zur Protest-Folie einer weltweiten Aufbruchsbewegung hochstilisiert. In den brodelnden Kollektiv-Improvisationen von Ascension und den Aufnahmen des späten Coltrane-Quintetts glaubte man die Straßenkämpfe rebellierender Afroamerikaner zu hören. Die wilden Schreie der Saxophone konnten als reale ›Wutschreie‹ der Unterdrückung verstanden werden, die gewalttätigen Eruptionen am Schlagzeug als Rhythmus der ersehnten Revolution. Musik galt jetzt nicht länger als Kriterium für Musikalität, sondern als Maßstab für politisches Bewusstsein, für die Fähigkeit eines Musikers, seine geschundene Seele in die Freiheit zu entlassen, Klänge mit visionärer Verheißung aufzuladen. Kunst und Leben vermischten sich in dieser Perspektive bis zur Ununterscheidbarkeit.

Auch der Jazz gehorchte damals diesem Hippie-Mythos, nach dem Musik eine »Kunst der Zukunft« zu sein hatte: Vorschein einer besseren Welt, Utopie der Befreiung. Coltranes Sound-Explosionen fielen zeitlich mit dem Black-Power-Slogan, mit dem provozierend selbstbewussten schwarzen Boxweltmeister Muhammad Ali, mit der panafrikanischen Vision eines Malcolm X, den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und der militanten Attitüde der Black Panthers in den USA zusammen. Und auch in der weißen, westlichen Gesellschaft formierte sich seit Mitte der Sechziger eine soziale Protestbewegung, die von Studenten, Künstlern und Intellektuellen vorangetrieben wurde. Dies war der sozialpsychologische Nährboden, auf dem der Free Jazz eines John Coltrane seine ästhetische Sprengkraft entfaltete.

Eine solche Überhöhung des Jazz zum Soundtrack sozialer Veränderungen erscheint heute, wo die klassizistische Bekehrungswut eines Wynton Marsalis am New Yorker Lincoln Center den Jazz längst als virtuos beglaubigte »l’art pour l’art« re-definiert hat, hoffnungslos romantisch und anachronistisch: Jazz soll zuallererst als Kulturgut verteidigt werden, will er seine Subventionsansprüche rechtfertigen und überleben. John Coltrane, der sich in seinen späten Jahren immer weiter vom Kernbestand des Swing entfernte, immer weniger Wert auf stilistische Reinheit und Virtuosität legte, immer mehr den Sound anstelle von Musikalität kultivierte, muss vor diesem Hintergrund fast wie ein Störenfried erscheinen. Wynton Marsalis vermutet deshalb auch, dass Coltrane ein »Opfer der Sechziger« war, der dem »radikalen Chic« verfiel und seine sorgsam ausgearbeitete Technik mutwillig über Bord warf, um schließlich im Außermusikalischen zu landen. Den Komponisten der Giant Steps dagegen verehrt Marsalis und widmete ihm bereits mehrere Konzertreihen am Lincoln Center.

John Coltrane wirft noch immer einen riesigen Schatten – trotz all der »young lions« und einer inzwischen alt gewordenen Avantgarde. Der Jazz hat sich längst professionalisiert: Akademisch gut ausgebildete junge Saxophonisten können mühelos jede Menge Coltrane-Soli aus dem Ärmel schütteln, oder besser: vom Blatt spielen. Sie müssen sich den Raum musikalischer Freiheit nicht unter Mühen erkämpfen, sondern bewegen sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit darin – wie Coltrane damals im Stilrahmen des Bebop. Und doch fehlt ihrem Spiel in aller Regel jene Intensität der Erregung und die erschreckende Unbedingtheit, die die improvisierte Musik zu Zeiten Tranes und zuvor Parkers auszeichnete. Schon Lester Young pflegte bei hochgezüchtetem technischen Virtuosentum eines Spielers zu fragen: »Schön und gut, Mann … aber kannst du mir auch einen Song singen?«

Coltranes Leidenschaft war einfach zu persönlich, als dass man sie simulieren könnte. Selbst wer all jene Töne und Tontrauben perfekt reproduzieren kann, die zum Markenzeichen Coltranes wurden, schafft es nicht, damit die Passion Tranes zu kopieren. Der Jazzpublizist John Litweiler bringt es auf den Punkt: »Diese Soli bewegen uns so eindringlich, weil wir in ihnen unsere eigenen Kämpfe gegen Selbstzufriedenheit, gegen Ängste erkennen: sie streben immer nach dem Unbekannten. […] Und die Konflikte von John Coltranes Musik, der innere Aufruhr des Lebens, erwiesen sich als kommunikativer als sämtliche anderen musikalischen Aussagen der Free-Jazz-Ära.« Daher kommt es, dass noch immer so viele Jazzfans eine Geschichte darüber erzählen können, wann sie zum ersten Mal mit Coltrane in Berührung kamen und wie er ihr Leben und ihre Weltwahrnehmung veränderte.

Bestimmte Schlagworte kehren in der Beschreibung seines Wesens immer wieder: Prophet, Hohepriester, Wahrsager, Fackelträger, Suchender. Doch die Charakteristiken seiner Musik lassen sich eher in Begriffen wie »Integrität«, »Wahrhaftigkeit«, »Reinheit«, kurzum: als Moralität begreifen. Sein Ruf gründet nicht zuletzt darauf, dass er als ein gegenüber allen kommerziellen Verlockungen standfester und prinzipientreuer Musiker gesehen werden kann, der mit seltener Konsequenz seinen Weg ging. Der vielfach ausgezeichnete Saxophonist und erklärte Coltrane-Anhänger Christof Lauer ist überzeugt: »Junge Leute wurden von ihm in den Sechzigern deshalb so stark angesprochen, weil er sie spüren ließ, dass er bereit war, für seine Überzeugungen zu kämpfen. Diese unbedingte Aufrichtigkeit hat sie fasziniert!«

Wenn eine Qualität Coltranes Spiel charakterisiert, dann ist es Hingabe. Der scheue, verschlossene Junge erwarb sich sein Genie erst durch manisches Üben. Zeitzeugen berichten einhellig: Wenn er nicht spielte, übte Coltrane, und wenn er nicht übte, dann las er. Coltrane war das Musterbeispiel für den heute so geschätzten Typ des »lebenslang Lernenden«. Der Sänger und Gitarrist David Crosby erinnert sich beispielsweise an ein Konzert, in dem Coltrane sein Solo beendete, indem er einfach von der Bühne ging, ohne aber mit seinem Spiel aufzuhören. Während McCoy Tyner an der Reihe war, spielte Coltrane in der Garderobe während des gesamten Klaviersolos einfach weiter und kehrte – immer noch spielend – auf die Bühne zurück. Die Szene wirkte damals auf Crosby, als folge Coltrane hier einem inneren Antrieb, der ihm verbot, mit dem Saxophonspiel aufzuhören. Sein Saxophon-Kollege Wayne Shorter glaubt dagegen, dass der Grund für Coltranes panischen Übungsdrang in der Vorahnung eines frühen Todes gelegen habe: »Er muss irgendwas über sein Schicksal gewusst haben. Vielleicht dachte er: Ich muss mich beeilen.«

Von seinen Zeitgenossen wurde Coltrane immer wieder als ruhig, in sich gekehrt, ja, als ein bisschen schüchtern geschildert. Vielleicht ist er auch deshalb als der nachdenkliche Intellektuelle in Erinnerung geblieben, der den Jazz mit Giant Steps zeitweilig zur Theorie-Lektion machte und eine neue Ernsthaftigkeit in die Szene brachte. Gleichzeitig war er der innovative Brückenbauer zu fremden Musikkulturen. Coltrane öffnete den Jazz für asiatische, afrikanische, arabische und spanische Einflüsse. Zugleich galt Trane als begnadeter Sammler, der alle musikalischen Entwicklungen um ihn herum, die stilistischen Innovationen und Experimente, aufsog wie ein Schwamm und im eigenen Personalstil amalgamierte.

In seinem oft klagenden Ton schwang immer ein Versprechen auf etwas noch Unbekanntes, Geheimnisvolles mit, das trotz seiner bedrohlichen Konturen ungleich verlockender wirkte als all die gängigen Jazz-Klischees. Vor allem bleibt deshalb im Rückblick das Bild eines ekstatischen Mystikers, der musikalische Erlösung in der Religion suchte, das role model des meditativen und kontemplativen Sehers, der rauschhaftes Klang-Erleben am Ende über solistische Virtuosität stellte. Nicht zufällig hat sich der Schlagzeuger Jack DeJohnette immer wieder beklagt: »Nach dem Tod von John Coltrane verflüchtigte sich der spirituelle Aspekt der Musik mehr und mehr.«

Am Ende seines Weges, als ihm die Worte und die Töne ausgingen, beherzigte Trane unbewusst Ludwig Wittgensteins philosophische Maxime: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Während draußen in der turbulenten Wirklichkeit der späten sechziger Jahre das soziale Rauschen immer weiter anschwoll und nicht selten in vermeintlich revolutionären Lärm überging, wurde Coltrane immer schweigsamer, zog sich mehr und mehr in die Stille seines Innern zurück. Geoff Dyer schrieb über die Beweggründe der letzten Lebensjahre: »Es ist so, als versuche er, all die Gewalt seiner Zeit in seiner Musik zu absorbieren, um die Welt umso friedlicher verlassen zu können.« Sicherlich hat auch das frühe, selbst für sein engeres Umfeld schockierend plötzliche Sterben von Coltrane – weit vor der Zeit – zu seiner Mystifizierung beigetragen. Schon zu Lebzeiten fast als ein Heiliger verehrt, wurde er nach seinem Tod durch Leberkrebs mit erst vierzig Jahren zu einem Heilsbringer überhöht, zu einer Art »Christus des Free Jazz« – von der Jazzkritik vielfach gekreuzigt, mit der Dornenkrone des »Anti-Jazz« versehen, aber immer ein Erlöser, der den Jazz zum »reinen Spiel« befreite. Inzwischen gilt er als wertvolles Kulturphänomen Amerikas. Längst ehrt ihn eine Briefmarke, eine obskure »Coltrane-Kirche« in Kalifornien feiert ihn seit 1971 als Heiligen und spielt seine Musik in den Gottesdiensten.

 

Hunderte von Stunden Coltrane-Musik sind mittlerweile auf verschiedenen Labels erhältlich, Millionen von Wörtern sind inzwischen über diesen Saxophon-Giganten geschrieben worden – und noch immer ist die Faszinationskraft des Mannes nicht vollständig enträtselt, der einmal über sich gesagt hat: »Ich weiß nicht, wonach ich suche, außer, dass es etwas sein muss, was noch nie gespielt oder gehört wurde.«

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