PLATON - Gesammelte Werke

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Platon

PLATON - Gesammelte Werke

Apologie des Sokrates + Der Staat - Politeia + Das Gastmahl + Alkibiades + Phaidros + Timaios + Kritias + Menon + Kriton + Hippias + Theages + Der Sophist + Protagoras + Die Briefe und viel mehr

Übersetzer: Friedrich Schleiermacher, Franz Susemihl, Wilhelm Wiegand und Wilhelm Siegmund Teuffel

e-artnow, 2022

Contact: info@e-artnow.org

EAN: 4066338120939

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Platons Leben und Werk

Werke:

Tetralogie I

Euthyphron (Über die Frömmigkeit)

Apologie des Sokrates

Kriton

Phaidon (Über die Unsterblichkeit der Seele)

Tetralogie II

Kratylos (Über die Sprachkunde)

Theaitetos (Die Erkenntnistheorie)

Der Sophist

Der Staatsmann (Politikos)

Tetralogie III

Parmenides

Philebos (Verhältnis von Lust, Intelligenz und Gut)

Symposion (Das Gastmahl)

Phaidros (Vom Schönen)

Tetralogie IV

Alkibiades (Der sogenannte Erste)

Alkibiades (Der sogenannte Zweite oder Kleiner Alkibiades)

Hipparchos

Die Nebenbuhler (Anterastai)

Tetralogie V

Theages

Charmides (Die Bedeutung der Besonnenheit)

Laches (Über die Tapferkeit)

Lysis (die Natur der Philia)

Tetralogie VI

Euthydemos

Protagoras (Über die Lehrbarkeit der Tugend)

Gorgias (Rhetorik als Propagandamittel)

Menon

Tetralogie VII

Hippias maior (Das größere Gespräch dieses Namens)

Hippias minor (Das kleinere Gespräch dieses Namens)

Ion

Menexenos (Die Rhetorik der Parodie)

Tetralogie VIII

Kleitophon

Politeia (Der Staat)

Timaios (Über die Natur, Kosmologie und Weltseele)

Kritias (Über Atlantis)

Tetralogie IX

Minos

Nomoi (Gesetze)

Epinomis

Briefe

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Platons Leben und Werk

Plato dankt einmal den Göttern für vier Dinge: daß er geboren sei 1. als Mensch, 2. als Mann, 3. als Grieche und 4. als Bürger Athens zu Sokrates' Zeit. Aus einem der vornehmsten Geschlechter entstammend – die Legende schrieb ihm später, genau wie Jesus, einen göttlichen Vater (Apollo) und eine jungfräuliche Mutter zu –, wurde er denn auch körperlich und geistig aufs sorgfältigste erzogen und mit der ganzen wissenschaftlichen und künstlerischen Bildung des damaligen Athens ausgerüstet. Und doch galt ihm dies alles nichts – er soll unter anderem seine Jugendgedichte verbrannt haben – im Vergleich zu dem vertrauten Umgange mit seinem geliebten Meister Sokrates, den er von seinem 21. bis 28. Lebensjahre (406 bis 399) genoß. Nach dessen Tod verließ er die ihm auch politisch unerfreulich gewordene Vaterstadt und ging auf Reisen, die ihn unter anderem zu dem Mathematiker Theodoros in Cyrene (Nordafrika), nach dem Lande uralter Priesterweisheit am Nil, zu den Pythagoreern in Tarent und an den Hof des älteren Dionys in Sizilien führten. Nach Athen heimgekehrt, gründete er vierzigjährig, also 387 seine Philosophenschule nahe einem dem Halbgott Akademos geweihten Gymnasium, daher Akademie genannt. Hier hat er, abgesehen von zwei Reisen nach Syrakus (367 und 361), wo er vergeblich auf den jüngeren Dionys im Sinne seines Staatsideals (siehe unten) einzuwirken hoffte, zurückgezogen von den öffentlichen Angelegenheiten bis zu seinem achtzigsten Jahre gelebt und gewirkt.

Glücklicherweise sind alle seine Schriften, gegen dreißig an der Zahl, erhalten. Sie sind sämtlich in der Form von Zwiegesprächen (Dialogen) abgefaßt und zeigen eine von keinem anderen griechischen Prosaiker erreichte Künstlerschaft der Sprache, die mit plastischer Anschaulichkeit und zuweilen dramatischer Lebendigkeit des Gesprächs gepaart ist. Der Hauptredner ist jedesmal Sokrates, dem der dankbare Jünger seine eigene Philosophie in den Mund legt, während der Titel des Dialogs gewöhnlich nach dem wichtigsten Mitunterredner gewählt ist.

In den frühesten Dialogen entfernt sich Plato noch nicht besonders weit von der Lehre des Meisters. Der erste, die sogenannte »Apologie des Sokrates«, ist dessen von Plato selbst in Worte gefaßte Verteidigungsrede vor Gericht; das Thema des zweiten im Gefängnis spielenden: weshalb Sokrates die ihm von seinem alten Freunde Kriton angebotene Gelegenheit zur Befreiung nicht annehmen will. Vier andere kleinere Gespräche erörtern nacheinander die Bedeutung bestimmter Tugenden: der Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Freundschaft und Liebe. Fünf weitere Dialoge setzen sich mit den Sophisten auseinander; ebenso auch das erste Buch seines späteren Hauptwerks, des »Staates«. Seine eigene Philosophie kommt erst in den Schriften seiner Reifezeit zum Durchbruch, die seine Ideenlehre enthalten.

Mit Plato stehen wir an dem Quellpunkt des Idealismus und damit zugleich alles wissenschaftlichen Denkens. Er faßt zum erstenmal mit aller Klarheit – die Eleaten, Demokrit, Sokrates bildeten nur Vorstufen dazu – den Gedanken eines rein gedachten Seins, welches dadurch ist, daß es gedacht wird. Diese ganz neue Art des Seins und zugleich das Denken derselben bezeichnet er nun auch mit einem damals noch ganz neuen Namen: der Idee, die wörtlich ein geistiges »Schauen« bedeutet. Natürlich behandelt er auch die zu ihr führenden Vorstufen der Erkenntnis. Deren unterste Stufe stellt die sinnliche Wahrnehmung dar, die für sich allein selbstverständlich keine sichere Erkenntnis zu liefern vermag. Auch die zusammenfassende und vergleichende Überlegung, mit der die Seele die ihr gebotenen Sinneswahrnehmungen erst zur »Vorstellung« schlechtweg, dann zur richtigen Vorstellung weiter verarbeitet, führt noch nicht zur Erkenntnis des wahrhaft Seienden, des Bleibenden im Fluß der Erscheinungen, mit einem Wort zur Wissenschaft. Das vermag nur die Idee. »Auf die Idee hinschauend«, als das Muster, das ihm vor Augen steht, verfertigt schon der Tischler seine Bettstelle, der Techniker sein Modell, aber auch der größte Künstler sein Werk. Die Idee ist das sich gleich Bleibende, das dem vielen Gleichbenannten Gemeinsame, das wirklich und wahrhaft Seiende.

 

Um sie vor aller Versinnlichung zu schützen, stellt Plato die Ideen in seiner bilderreichen Sprache wohl auch als »thronend an einem überhimmlischen Ort«, als »unkörperliche, unräumliche, unsinnliche Wesenheiten«, als »ewig, farblos, gestaltlos« dar; Eigenschaften, die alle auch auf unsere Gedanken zutreffen. Das mag verschuldet haben, daß weniger poetische Naturen – schon sein Schüler Aristoteles beginnt damit – sie als eine Art außerhalb der übrigen Welt irgendwo ein Sonderdasein führender Geister oder persönlicher Wesen mißverstanden hat. Und doch sagt unser Philosoph ganz klar, daß seine Ideen, die es von allem möglichen, Hohem wie Niedrigem gibt – zum Beispiel von Tisch, Bett, Messer –, nur Gedankendinge sind, die unsere eigene Seele erst erzeugt. Der Drang zu ihrer Hervorbringung, zum Gebären dessen, womit die Seele schwanger geht, ist es, der den Philosophen wie den Künstler macht; es ist der Eros, das ist das liebende Verlangen, der geistige Zeugungs- und Schaffenstrieb, den der Dialog »Das Gastmahl« so unübertrefflich schön geschildert hat.

Aber Sinn und Geltung bekommen die Ideen erst dadurch, daß sie sich auf Sinnendinge beziehen. Ein Hauptmittel dazu ist die Mathematik, die zwischen dem Vernunft-Denken und den sinnlichen Wahrnehmungen in der Mitte steht. Sie wurde von Plato und seinen Jüngern aufs eifrigste gepflegt. »Kein der Geometrie Unkundiger trete ein!« soll über dem Eingang seiner Akademie gestanden haben. Vom ewig wechselnden Werden zum beständig Seienden führen die »Wecker zum reinen Denken«: die Zahlenkunst (Arithmetik) und Geometrie. Der mathematischen Methode ist auch einer der bis heute wichtigsten Grundbegriffe wissenschaftlichen Denkens entlehnt: derjenige der »Hypothese«, als der Voraussetzung, die das Gesuchte vorläufig als gefunden annimmt, um es sodann durch die aus ihr gezogenen Folgerungen und deren Verknüpfung wirklich zu finden. Auch die Idee ist eben »Hypothesis«, Grundsatz im eigentlichsten Sinne des Worts, selbst unbedingte letzte Voraussetzung und Unterlage des philosophischen Denkens. Die Wissenschaft von den Ideen nennt Plato die Dialektik, weil erst die gemeinsame Erzeugung der Begriffe in der Unterredung (dem »Dialog«) mit anderen zum Reiche der Ideen führt.

Wir müssen weitere schwierige Einzelheiten, wie die Lehre von der Materie, hier übergehen. Desgleichen seine erst in einem seiner spätesten Dialoge entwickelte Naturphilosophie. Sie bildet den schwächsten Teil von Platos philosophischem System, den er selbst gelegentlich als ein geistreiches »Spiel« bezeichnet, und für den er nur Wahrscheinlichkeit, nicht wissenschaftliche Wahrheit in Anspruch nimmt. Die Weltseele, die er hier als eine Art Mittelding zwischen dem Einen und dem Vielen, dem Schaffenden und dem Geschaffenen annimmt, und die den von dem göttlichen Weltbildner erschaffenen Urquell alles Lebens darstellt, hat allerdings genug Unheil von der spätantiken und mittelalterlichen bis zur neueren Philosophie (Schelling) angerichtet.

Gleich ihr ist auch die Einzelseele des Menschen in erster Linie jedenfalls nur Lebensprinzip, die Psychologie also – wie fast bei allen Denkern des Altertums – bloß ein Teil der allgemeinen Naturlehre. Steine werden bewegt; Pflanzen, Tiere und Menschen dagegen bewegen sich selbst, was wir leben nennen. Über die Unsterblichkeit des Einzelnen spricht er sich an verschiedenen Stellen verschieden aus; jedenfalls glaubt er sie nicht mathematisch beweisen zu können. Jener Dreiteilung der Seele in bezug auf das Erkennen (Wahrnehmung, Vorstellung, Idee) entspricht eine ebensolche für die Welt des Willens: das Begehren, das Mutartige oder die Willenskraft, das vernunftgemäße Wollen. Das letztere lenkt als Einsicht, nach dem schönen Gleichnis im Phädrus, das übrige Zweigespann, von dem das edlere Roß (die Willenskraft) das zügellose (die Begierde) bändigen hilft.

Damit stehen wir am Eingang in den dritten und letzten Teil von Platos Philosophie: seiner Ethik. Auch sie findet, gleich der Wissenschaft, ihre Begründung in der Ideenlehre. Die höchste aller Ideen ist die Idee des Guten. Auch sie muß in schwieriger Untersuchung erst gefunden werden. Denn sie ist das Letzte alles Erkennbaren, »mit Mühe nur zu schauen«, »hoch über allem Sein«, dafür auch die Erkenntnis der Wahrheit »an Würde und Kraft« noch überragend. Von allen anderen Ideen, selbst der des Schönen, gibt es Abbilder hienieden; von der des Guten nicht. Sie ist wie die Sonne, die alles Seiende erst erleuchtet und fruchtbar macht; weshalb sie gelegentlich auch mit dem Begriff gleichgesetzt wird, in den der Mensch das Höchste, was er nicht mehr auszudenken, sondern nur noch zu empfinden vermag, zu fassen sucht: der Gottheit. Der Mensch muß sich, wie das wunderbar schöne Gleichnis im siebten Buche des »Staates« ausführt, an ihre »Schau« erst gewöhnen, nachdem er bis dahin, gefesselt an die Höhle des Scheins, bloß Schattenbilder erblickt hat. Und eine zweite »Verwirrung der Augen« überkommt ihn, wenn er dann, noch geblendet von ihrem Glanz, wiederum hinabsteigt zu seinen früheren Mitgefangenen in der Höhle, das heißt der Welt des täglichen Lebens, die, weiter in ihrer Dämmerung dahinlebend, jenen Künder der Idee – wie es ja immer den großen Idealisten und Propheten einer neuen Idee ergangen ist – nicht begreifen, ja als irrsinnig verspotten. Wie bei allen großen Ethikern (Kant, Fichte), wird ferner auch bei Plato das Gute aufs schärfste vom bloß Angenehmen, also auch von der Lust geschieden, für die schon die Tiere als »vollgültige Zeugen« genügen würden. Damit wird die Freude am Natürlichen und Schönen nicht verbannt. Ist doch der Eros, das liebende Verlangen (siehe oben), auch die Wurzel alles künstlerischen Schaffens. Und die Idee des Guten stimmt die Seele zu einer inneren Harmonie, deren Seligkeit aller vergänglichen mit Irrtum und Täuschung gemischten Lust weit überlegen ist.

Aber die Ethik bedarf der Anwendung, der Verwirklichung im Leben des Einzelnen wie der Gesamtheit. Wohl möchte, wer aus der dumpf-dunklen Höhle der Alltäglichkeit zur sonnenbeglänzten Höhe der Idee emporgestiegen, am liebsten stets in ihrem Anschauen verweilen, aber gerade die Idee des Guten treibt ihn wieder hinab zu jenen Armen an Geist, den »Höhlenbewohnern«, um auch sie emporzuführen zum Licht, das sie noch nicht kennen. – Die Tugenden des Einzelnen sind: Besonnenheit oder Selbstbeherrschung, die den begehrlichen Teil des Menschen in Schranken hält, Mannhaftigkeit, die seiner Willenskraft, Einsicht oder Weisheit, die dem vernünftigen Teile der Seele entspricht. Die höchste aber, die drei andern beherrschende Grundtugend ist die der Gerechtigkeit, das Thema seines größten Werkes, der »Republik«. Denn das sittliche Leben des Einzelnen kann sich nur verwirklichen in dem Abbilde des Menschen im großen, dem Staate. Platos Hauptwerk handelt denn auch vom Staat.

In ihm gipfelt seine Philosophie. Die zehn Bücher der Politeia (Staatsverfassung), gewöhnlich mit ihrem lateinischen Namen »Republik« zitiert, enthalten theoretische Philosophie, Ethik, Geschichtsphilosophie, Gesellschaftskritik, Erziehungs- und Staatslehre, alles in einem. Die Grundzüge seiner theoretischen und Moralphilosophie haben wir schon kennengelernt. Beginnen wir also mit seinen geschichtsphilosophischen Ausführungen über Entstehung und Entwicklung des Staates. Denn es steht keineswegs so, daß der große Idealist sein sozialistisches Staatsideal ohne Kenntnis der wirtschaftlichen Grundlagen des Staates und seiner historischen Entwicklung entworfen hätte. Er läßt ihn vielmehr, im zweiten Buche seines Werkes – das erste war allgemeinen Betrachtungen über den Begriff des Gerechten oder Sittlichguten gewidmet –, aus den alltäglichsten Bedürfnissen vor unseren Augen entstehen. Er schildert, wie diese Bedürfnisse dann zu verschiedenen Arten der Technik, zur Arbeitsteilung, zur Warenerzeugung und zum Warenhandel, zur Ausbildung des Geldes als Tauschmittel führten; wie dann infolge von Gebietsstreitigkeiten und Kriegen zu der erwerbenden eine kriegerische und eine regierende Klasse hinzukamen.

Er übt ferner, hauptsächlich im achten Buch seiner Politeia, eine Kritik der zu seiner Zeit bestehenden Gesellschaftsordnung, die an Eindringlichkeit und Schärfe von der sozialistischen Kritik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, von Marx bis Trotzky, kaum überboten worden ist. Die Jagd nach dem Gelde ist für einen bedeutenden Teil der Gesellschaft die alleinige Triebfeder des Handelns geworden. Durch die schrankenlose Erwerbsmöglichkeit, wie sie der wirtschaftliche Individualismus gerade dem Willensstarken und Skrupellosen, zumal unter den schon von Haus aus Begüterten bietet, wird der eine Teil der Bevölkerung überreich, der andere sinkt zum Bettlertum hinab. Neben dem »Drohnentum« der Müßiggänger und Verschwender, das den gesellschaftlichen Körper »wie Schleim und Galle« durchseucht, macht sich ein profitgieriges, unbarmherziges Spekulantentum breit, protzenhaft und ungebildet, einzig auf weitere Kapitalanhäufung bedacht; denn der Kapitalismus ist seiner Natur nach unersättlich. Seine Opfer sind mit Schulden überhäuft, ihrer Ehre und jedes Einflusses im Staate beraubt und brüten infolgedessen über Umsturzpläne. Schon bei Plato findet sich das Wort von den » zwei Staaten«, die sich in jedem derartigen Staate feindlich gegenüberstehen: dem der Armen und dem der Reichen. Von dem letzteren (der Plutokratie, der Herrschaft des Reichtums) ist der bestehende Staat immer abhängiger geworden, wie Bebel oder Liebknecht es einmal im Reichstag ausgedrückt hat: die Staatsregierung ist, ob bewußt oder unbewußt, zum »Kommis der besitzenden Klassen geworden«.

Die seelische Rückwirkung auf die Massen bleibt nicht aus. Sie sagen sich: »Unsere Herren sind nichts wert.« Schließlich wird die verhaßte Geldaristokratie gestürzt, die Demokratie (Volksherrschaft) tritt an ihre Stelle. Doch in ihr wirkt nun die vom Kapitalismus großgezogene Profitsucht weiter. Nichts gilt mehr als das materielle Interesse, alles andere erscheint dumm oder lächerlich. Es entsteht ein Kampf aller gegen alle (Marx: ein »allseitiger Kampf von Mann gegen Mann«). Sitte, Religion, Rechtschaffenheit sind außer Kurs gesetzt, in tierischem Genuß »nach Art des Viehs« lebt man dahin. Bis endlich in diesem Kampf, in dem ruinierte Nichtstuer sich oft schlau zu Führern der arbeitenden Massen emporschwingen, der Rücksichtsloseste und Stärkste siegt, die größte »Freiheit« in die schlimmste Knechtschaft, die Gewaltherrschaft eines Tyrannen umschlägt.

Was soll nun geschehen, um diesen »Fieberzustand« des Staates zu heilen? Mit kleinen Hilfsmitteln, die sich auf dem Boden der bestehenden Ordnung bewegen, ist es nach Plato nicht getan; sie gleichen dem Probieren von immer neuen Kuren, die in Wirklichkeit die tiefsitzende Krankheit des Patienten bloß mannigfaltiger machen. Es bedarf vielmehr einer Radikalkur, die auch vor dem »Brennen und Schneiden« des Gesellschaftskörpers nicht zurückscheut. Alle die schönen und nützlichen Dinge, mit denen die »großen« Führer der Demokratie, ein Themistokles und Perikles, Athen ausgerüstet: Tempel und Theater, Werften und Häfen, Flotte und Heer, ausgedehnte Festungswerke usw., können einen Staat nicht groß machen, wenn es an der inneren Einheit und Tüchtigkeit der Bürger fehlt. Eine von Grund auf veränderte Erziehung ist vonnöten, Erziehung zu einer völlig neuen Gesellschaftsordnung. So wird bei Plato die Pädagogik, wie überall, wo sie einen wahrhaft großen Zug genommen hat (Pestalozzi, Fichte, Natorp), aus einer Individual- zur Sozialpädagogik: Erziehung nicht durch einzelne, wie die Sophisten meinten, sondern durch die neue Gesellschaftsordnung selbst.

Diese neue Erziehung, die einen wesentlichen Teil der »Republik« ausmacht, wird nun allerdings von unserem Philosophen zunächst nur für die regierenden Klassen des neuen Staates gefordert. Das hängt mit den allgemeinen und besonders wieder mit den psychologischen, von uns schon oben (Seite 37) angedeuteten, freilich wohl auch den politisch-aristokratischen Grundanschauungen unseres Denkers zusammen. Da der Staat das im großen, was der Einzelmensch im kleinen ist, nämlich ein in sich zusammenhängender Organismus, so entsprechen die drei Grundschichten der Gesellschaft den drei Grundtätigkeiten der menschlichen Seele. Ihrem »begehrlichen« Teil, den sinnlichen Trieben entspricht im Staatswesen der größte Teil des Volkes, die Masse derer, welche für die notwendigen wirtschaftlichen Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Hausrat usw.) des Ganzen sorgen, also die Bauern, Handwerker und Kaufleute. Dem »Mutartigen« oder der Willenskraft der Einzelseele entsprechen politisch die »Wächter« oder »Hüter«, die den Bestand des Staates nach außen durch die Abwehr feindlicher Angriffe, nach innen durch die Durchführung der neuen Gesetze sichern, also unseren Heeresangehörigen und Beamten vergleichbar sind. Der Vernunftkraft des einzelnen endlich entspricht diejenige Schicht, der Plato die oberste Leitung der Gesetzgebung und vor allem des Wichtigsten, der Erziehung anvertrauen will: die Philosophen. Die Haupttugend des ersten oder Nährstandes ist die Selbstbeherrschung oder Besonnenheit, welche die Triebe zügelt, die des zweiten oder Wehrstandes die Mannhaftigkeit, die des obersten oder Lehrstandes die Weisheit. Über sie alle ragt, als sie alle beherrschende und umfassende, die Gerechtigkeit, die jedem das Seine gibt, empor. So finden wir in dem Aufbau des neuen Sozialstaates sowohl die psychologischen wie die ethischen Grundzüge der platonischen Philosophie wieder.

 

Für die erwerbende Masse, die »Lohngeber und Ernährer« der beiden anderen Stände, zu denen übrigens die Tüchtigeren unter ihnen emporsteigen können, bleiben Privateigentum und Sonderfamilie bestehen. Sie sind nicht bloß Bürger, sondern auch »Freunde«, ja Brüder der anderen, von denen sie geschützt und gefördert werden. Die neue Erziehung dagegen wird vorläufig nur den beiden oberen Ständen zuteil. Schon vor deren Geburt ist der Staat für die Tüchtigkeit seiner künftigen Erhalter und Leiter besorgt. Die tüchtigsten und kräftigsten Männer sollen sich mit den besten und edelsten Frauen verbinden. Nach den ersten drei Jahren vorherrschend leiblicher Pflege soll die von jetzt ab gemeinsame Erziehung, um harmonische Menschen heranzubilden, in gleichem Maße auf die körperliche wie auf die geistige Ausbildung gerichtet sein. Die erstere war ja im alten Griechenland sowieso zu Hause; ich brauche nur an die Worte Gymnastik und Gymnasium (griechisch Gymnasion, eigentlich eine Stätte, wo man unbekleidet oder leichtbekleidet turnt) zu erinnern. Sie soll auch bei Plato, durch die verschiedenen Altersstufen hindurch in verschiedenem Maß, gepflegt werden. Die geistige Ausbildung geschieht zunächst, dem frühen Kindesalter gemäß, durch Erzählungen aus der Märchen- und Sagenwelt, aus denen jedoch alle unsittlichen, der Götter oder Helden unwürdigen Züge, auch zum Beispiel Schilderungen angeblicher Schrecknisse in der Unterwelt (beim Christentum Hölle) zu verbannen sind. Dann folgt Lese- und Schreibunterricht. Der begeisterungsfähigen Jugend von vierzehn bis sechzehn Jahren werden vor allem Gedichte, namentlich lyrische (Lieder), und die damit verwandte Musik, unter Ausschaltung alles Üppigen und Weichlichen, Leidenschaftlichen und Zweideutigen, als seelische Kost geboten; dem angehenden Jünglingsalter vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre die ernsteren mathematischen Wissenschaften, einschließlich Physik und Astronomie. Nur die auf das wahrhaft Gute und Schöne gerichtete Kunst soll zugelassen sein, damit eine ernste, sittliche Gesinnung, eine reine und hohe Gottesvorstellung, eine mutvolle Verachtung des Todes und der vergänglichen Güter des Lebens in den jungen Seelen erzeugt wird. Auch das weibliche Geschlecht soll an dieser Erziehung teilnehmen. Plato ist einer der frühesten Vertreter der Frauenemanzipation (das heißt Befreiung des weiblichen Geschlechts aus seiner Sklaverei). Er meint, daß die beiden Geschlechter nur im Grad, nicht in der Art ihrer Kräfte verschieden seien. Deshalb sollen die Mädchen und Frauen auch an den gymnastischen Übungen, gegebenenfalls sogar am Kriege teilnehmen; nur sollen ihnen dabei die leichteren Beschäftigungen zugewiesen werden.

Nach Beendigung des Kursus in Musik und Mathematik erhalten sodann die Achtzehnjährigen, ähnlich wie bis vor kurzem bei uns, eine zweijährige militärische Ausbildung. Darauf tritt eine erste Auslese ein. Die wissenschaftlich weniger Begabten verbleiben im Stande der »Hüter«; die übrigen betreiben fortan die Wissenschaften eingehender und in mehr systematischer Form, etwa wie auf unseren Universitäten. Danach erfolgt eine zweite Auslese: die minder Vorzüglichen gehen nun zu allerlei praktischen Staatsämtern über; die Begabtesten aber widmen sich noch fünf weitere Jahre der Erkenntnis des Seienden (Ideenlehre), um sodann ihrerseits höhere Regierungsämter zu übernehmen. Falls sie sich in diesen fünfzehn Jahren bewähren, sind sie mit fünfzig Jahren reif, unter die Zahl der »Herrschenden« oder Philosophen aufgenommen zu werden. Ihr Beruf ist von jetzt an die Gesetzgebung und die Überwachung von deren Ausführung. Die von ihrem jeweiligen Amte, zu dem das Los sie beruft, freie Zeit widmen sie weiterer philosophischer Vertiefung.

Damit nun die beiden regierenden Stände, die Philosophen und die Hüter, durch keine persönlichen Interessen an der Hingabe für das Ganze gehindert werden, soll keiner von ihnen eigenes Vermögen besitzen: weder Gold und Silber, noch eine eigene Wohnung, noch Vorratskammern, in die nicht jeder gehen könnte. Den nötigen Lebensunterhalt empfangen sie in bestimmter Ordnung von den Bürgern der erwerbenden Stände in der Weise, daß sie keinerlei Mangel leiden, indes auch nichts für das nächste Jahr übrig behalten. Sie wohnen und speisen gemeinschaftlich. Ebenso sind ihnen auch die Frauen und Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater das eigene Kind kennt, noch das Kind den Vater. Alle bilden eben eine große Familie; teilen soweit wie möglich Freuden und Schmerzen miteinander. Erst ein solcher Zustand, in dem niemand mehr etwas sein eigen nennt als seinen Leib, wird die Befreiung von aller Zwietracht bringen sowie von allen Rechtshändeln, die jetzt um den Besitz irdischer Güter unter den Menschen entbrennen.

Wie man sieht, ein sehr weitgehender Kommunismus, der allerdings nur auf die Angehörigen der beiden oberen Stände sich bezieht, also nur einen Halbkommunismus darstellt. Von einer Ausdehnung auf das erwerbende Volk hielt Plato wohl zunächst, wie schon angedeutet, sein aristokratisches Mißtrauen gegen die »von Natur unphilosophische« Masse ab. Dann aber waren ja auch zu seiner Zeit die wirtschaftlichen Vorbedingungen (Großbetrieb usw.) für einen Voll- und Produktionssozialismus bei weitem nach nicht vorhanden. Und die Herbeiführung des neuen Sozialstaates durch völlige Umgestaltung des bisherigen kann er sich eben nur als von oben herunter geleitet vorstellen. Zuerst hoffte er wohl, daß die in seiner »Akademie« in seinem Sinne erzogenen Jünger das neue Geschlecht mit dem neuen Geiste erfüllen sollten; denn Staatsverfassungen wachsen nicht auf den Bäumen, sondern wurzeln in der Sinnesart der Bürger. In diesem Sinne war wohl auch sein bekannter Satz gemeint: »Nicht eher wird eine Erlösung von den Übeln in den Staaten, ja beim Menschengeschlecht überhaupt eintreten, ehe die Philosophen zur Regierung kommen oder die jetzigen Könige und Machthaber gründlich philosophieren.« Und er hat auch mehrmals – bei dem älteren wie bei dem jüngeren Dionys – einen praktischen Versuch gemacht. Allein seine Hoffnungen, einen ähnlichen politischen Einfluß wie einst der Bund der Pythagoreer in Griechenland (siehe Seite 18) zu gewinnen, schlugen fehl. Dennoch versiegte sein hochgespannter Idealismus nicht. Gegen Ende seines Lebens entwarf er in einem neuen Buche, den »Gesetzen«, die Grundzüge eines zweitbesten Staates, der den bestehenden Verhältnissen besser angepaßt, mehr Aussicht auf Verwirklichung böte.

Er denkt ihn sich als eine Art Agrarkolonie im Innern der großen Insel Kreta, die, nebenbei bemerkt, ebenso wie das alte Sparta in vergangener Zeit allerlei sozialistische Einrichtungen besessen hatte und so einen gewissen Anknüpfungspunkt bot. Das ganze Staatsgebiet ist, ähnlich wie im Sparta des sagenhaften Gesetzgebers Lykurg, in lauter gleiche »Landlose« (5040 an Zahl) für alle Vollbürger aufgeteilt. An die Stelle völliger Aufhebung der Familie für die beiden oberen Stände ist eine sorgfältige Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens aller, an die Stelle der »Ideen«erkenntnis eine mathematisch-musische (siehe oben) Ausbildung nebst einer geläuterten Staatsreligion getreten, an Stelle der »Philosophen« regiert eine Vereinigung der einsichtigsten und bewährtesten Bürger nach geschriebenen, aber fortbildbaren Gesetzen. Mit dieser Abschwächung des Staatsideals der »Republik« sind jedoch andererseits wesentliche Fortschritte (in unserem Sinne) verbunden. Die starre Trennung der Stände ist gemildert, die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten beinahe geschlossen; der Wert der wirtschaftlichen Arbeit wird stärker gewürdigt, der Volksbildung aller Klassen, nicht zu vergessen der weiblichen Jugend, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Der bedeutsamste Fortschritt aber ist der, daß im Gegensatz zum Halbkommunismus der »Republik« der Vollsozialismus, das heißt die volle Wirtschaftsgemeinschaft für sämtliche Staatsbürger – zu denen allerdings die unfreien Landarbeiter nicht gehören – wenigstens grundsätzlich ins Auge gefaßt wird. Jeder soll sein Ackerlos, ja »sich selbst und seine Habe« als »Gemeingut des ganzen Staates« ansehen. Eine Gemeinsamkeit alles Eigentums und der gesamten Bewirtschaftung von Grund und Boden wäre noch »zu groß für das heutige Geschlecht und die Art, wie es aufwächst und erzogen wird«. Es bleibt, zusammen mit der Gemeinsamkeit der Frauen und Kinder und aller Habe, ein Ideal »vielleicht für Götter und Göttersöhne«, von dem der Philosoph nicht weiß, »ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen wird« (Fünftes Buch der »Gesetze«).

*

Wir haben den Hauptinhalt von Platos Staatslehre auch deshalb etwas ausführlicher dargestellt, weil man darin noch einmal den ganzen Plato mit seiner Ideenlehre, Psychologie und Ethik, überhaupt in seiner Eigenart wie in einen Brennpunkt zusammengefaßt erblickt. Die Hoffnung, die er auf seine Schüler setzte, erfüllte sich nicht. Wohl hat die »Akademie« länger als irgendeine andere Philosophenschule, beinahe noch ein Jahrtausend hindurch bestanden. Aber in all dieser Zeit hat sie wohl manchen redlichen Mann, aber keinen einzigen hervorragenden Kopf hervorgebracht, außer dem erst sechs Jahrhunderte später lebenden Plotín. Sie haben sich gerade an das weniger Dauerhafte in ihres Meisters Lehre, an die mystischen Neigungen und pythagorisierenden Gedanken seines Alters, die wir mit Absicht übergangen haben, angeschlossen und außerdem populären praktisch-ethischen Erörterungen sich zugewandt, denen wir in anderem Zusammenhang noch begegnen werden. Der einzige seiner Schüler, der weltgeschichtliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann, schlug völlig andere Bahnen ein. Es war Aristóteles.

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