Auf der anderen Seite der Schwelle

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Nicht ganz ohne Grund, meinte Hankel. Dazu müsse man wissen, dass das Frühjahr 1945 in Hohenleipisch noch jedem in Erinnerung geblieben war. Die Russen waren damals an einem Spätnachmittag in den zuvor von Deutschen verteidigten Ort eingerückt und das übliche Plündern und Vergewaltigen habe eingesetzt, als am ganz frühen Morgen des nächsten Tages eine SS-Panzerbrigade ‚Frundsberg‘ überraschend für die Russen in Hohenleipisch eingerückt sei. Die Russen hätten damals, wie Hankel erzählte, ziemlich aufgescheucht und so schnell sie konnten den Ort verlassen. Volkssturmangehörige, ganz junge Kerle und ganz alte Männer halfen noch die gefangenen Rotarmisten zu entwaffnen. Die sowjetischen Kampftruppen hätten sich erst einmal weit zurückgezogen. Vor der zu erwartenden Rache der Russen habe der deutsche Brigadekommandeur aber noch gewarnt, als er mit seinen Panzern wieder abgezogen sei. Der Volkssturmkommandant und einige Stellvertreter hätten sich den abrückenden Deutschen angeschlossen.

Als die Russen dann zurückgekehrt seien, hätten sie eiligst alle männlichen Deutschen von vierzehn, fünfzehn Jahren bis ins höchste Greisenalter zusammengetrieben und auf dem Marktplatz erschossen. Außerdem sei noch eine Reihe Bauerngehöfte in Brand gesetzt worden. Ein deutscher Racheakt für das Geschehen damals, sei also nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen gewesen, meinte auch Hankel dazu, obwohl er genau gewusst habe, dass keinem der drei Muschiks etwas angetan worden sei, außer dem Schlag mit der Zaunlatte aufs Hinterteil des einen am Hoftor hängen Gebliebenen.

Die Erlösung habe sich dann um die Mittagszeit mit dem wieder in der Kaserne aufgetauchten Sowjetarmisten eingestellt. Der vermisste Soldat habe in einem Garten übernachtet, hatten sie noch vom Kommandanten erfahren. Damit habe sich alles erledigt. Sie könnten nach Hause gehen.

„Man muss sich das mal vorstellen“, sagte Sebastian, „die sahen sich schon zu Hause, als ein Offizier sie alle vier über den Appellplatz zum Kasernentor geleitete. Sie dachten dabei an ihre Familien, Ehefrauen und Eltern … In einer halben Stunde würden sie wieder bei ihnen sein.

Als sie dann erleichtert durch das Tor gingen, der russische Offizier, der sie bis dort hin begleitet hatte, zurück blieb und dafür drei bedenkliche Gestalten in Stiefeln und langen Mänteln auf sie zukamen, wusste bei diesem martialischen Aufzug natürlich gleich jeder, wer das war und überlegte dann blitzschnell was er getan, irgendwo gesagt, ja vielleicht auch nur laut gedacht haben könnte.

Ganz sicher konnte sich da niemand sein. Das wissen wir ja von uns selbst.

Hankel vermutete“, fuhr Sebastien dann fort, „dass die Russen Bescheid gewusst und der Stasi zu verstehen gegeben hätten, dass für sie alles erledigt sei und die Leute gehen könnten. Doch einer der gestiefelten Ledermantelträger trat zum russischen Offizier, der noch am Kasernentor stehen geblieben war.

Die anderen beiden gesellten sich dann auch noch dazu.

Das verschüchterte Häufchen der vier eigentlich schon Freigelassenen stand unschlüssig zusammengedrängt, als die Ledermanteltroika schließlich auf sie zu kam: „Zur Klärung eines Sachverhalts mitkommen!“ Nur dieser eine alles und nichts sagende Satz ließ die vier eben Freigelassenen willenlos gehorchen. Diese Willenlosigkeit ist es“, gab Sebastian zu bedenken, „die wie eine Lähmung über die Menschen kommt. Es ist schlicht Angst, denn wenn alles in der Beliebigkeit steht, kann man leicht stolpern.“

„Du meinst die verbreitete Willkür in der DDR“, warf Klaus der Graumelierte ein, „du kannst dich da auf nichts berufen …“ „Mangelnde Rechtssicherheit, Gummiparagraphen“: ergänzte Totila achselzuckend. „Denkt doch bloß an diesen Artikel 6!“

„Ja, ja, ihr habt ja Recht“, stimmte Sebastian zu. „Es ist Willkür, die als spezifische Korruption alle Diktaturen beherrscht.“

„Auch die Diktatur des Proletariats?“, fragte Günter mit schelmischem Grinsen in seinem runden Gesicht.

Sebastian winkte nur ab. „Hört euch lieber die Geschichte Wilhelm Hankels an, da habt ihr schon alle Antworten …“

„Und kaum noch Fragen“, fügte Totila hinzu.

„Richtig“, sagte Sebastian. „Es beantwortet sich dort fast alles schon von selbst.

Klärung eines Sachverhalts, das ist und das wissen wir ja alle selbst“, dazu sah er sich kurz um, „so was wie die Standardformel bei politischen Verhaftungen. So auch dort bei diesem Häufchen eben Freigelassener.“

Ein als geschlossener Kastenwagen getarnter Transporter rollte heran, blieb stehen und einer der Gestiefelten öffnete die Tür ins fensterlose Fahrzeug, ein finsteres Loch. „Los, los, einsteigen“, trieb ein anderer aus der Troika den verwirrten Haufen in diesen Transporter, in dem alle getrennt in je einer winzigen Zelle verschwanden. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Sitzbrett und dazu schmale Luftschlitze in den Seitenwänden.“ Sebastian lachte. „Ich bin ja selbst mit so ’ner Stasi-Schaukel vom Hof des Gerichtsgebäudes in der Spreestraße zum Eingang des sogenannten Landgerichts, so stand es oben über dem Portal, gefahren worden. Und so landete dann auch Hankel mit dem ländlichen Verschwörertrupp in der Cottbusser Spreestraße. Weshalb der dort in meine Zelle verlegt worden war …?“ Sebastian zuckte mit den Schultern.

„Als Spitzel?“ Er schüttelte den Kopf. „Völlig ungeeignet“, sagte er. „Das ständige Gejammere und Geflenne ging mir mächtig auf die Nerven. Was der mir über seine Verbrechen erzählt hatte, zumal sie ja alle von den Russen wieder freigelassen worden waren, fand ich einfach lächerlich. Der hätte zu einem Psychiater gehört. nicht aber in eine Stasi-Zelle. Andererseits, das muss man berücksichtigen, konnte Hankel nicht begreifen, was man ihm bei den Verhören unterstellte: Etwa dass sie es, das heißt er und die übrigen verdächtigen Gäste des Lokals, an diesem Abend von vornherein darauf angelegt hätten, die sowjetischen Soldaten, die dort regelmäßig auftauchten, zu überfallen und zusammenzuschlagen. Genau geplant vor Beginn der Viermächtekonferenz in Berlin.

Ich hab’ diese Vorwürfe damals für einen Spaß seiner Vernehmer gehalten, die ihn damit verwirren und ein bisschen Angst machen wollten. Von so einer Konferenz wussten weder Hankel noch die anderen Provokateure etwas. Na klar“, fügte Sebastian nach einer kurzen Pause nachdenklich hinzu, „die Menschen schimpften zwar alle über die verbreiteten Versorgungsmängel, die das alltägliche Leben nicht selten zu einer Tortour machten, aber das sei es dann in aller Regel auch schon.

Sebastian erhob sich von seinem Hocker und ging wieder mit gesenktem Kopf die wenigen Schritte Richtung Fenster. Dort wandte er sich in die Zelle um.

„Ich denke hierzu bloß an meine Mutter“, sagte er, „die sich ständig Gedanken machen musste wie sie, bei einer großen Familie, vor allem die Kinder gesund über die Runden bringen konnte. Und nicht zuletzt auch, dass man überall und immer aufpassen musste auf das, was man so sagte. Viele schimpften erst, wenn sie sich zuvor einige Mal umgesehen hatten. Im Grunde genommen aber interessieren sich nur wenige wirklich für Politik und von einer Viermächtekonferenz wussten die Wenigsten. Und wenn, dann vom RIAS, aber wer versprach sich von so einer Konferenz schon etwas?“

„Ja, so ist das“, meldete Günter sich, „immer die Propaganda … damals die Nazipropaganda und jetzt die kommunistische. Das klingt den Leuten in den Ohren. Immer wieder nur Sprüche. Den Nazis glaubten noch siebzig bis achtzig Prozent der Deutschen, schlimm genug. Aber so kurz danach die Kommunisten, denen glauben nun aber achtzig Prozent der Menschen nichts mehr. Natürlich gibt’s welche, die keine Probleme damit haben. Die singen halt diese Lieder mit und hängen die Fahne raus, wenn’s verlangt wird. Wieder andere frönen ihrem Ehrgeiz, ganz gleich worum es sich handelt. So eine Einschätzung aber darf man eigentlich nicht mal denken, will man nicht ins schwarze Buch kommen oder wie wir hier, gesiebte Luft atmen.“

„Wie auch immer“, mischte Totila sich ein, „ist ja alles richtig oder auch nicht.

Was Sebastian hier aber erzählt hat, ist einfach haarsträubend. Ich hätte draußen so was nicht geglaubt. Ich habe ja auch, wie wir wahrscheinlich alle, viele schlimme Geschichten gehört. Und wenn man erfährt weshalb so mancher hinter Gittern sitzt, einfach schauderhaft. Da wird einem doch deutlich: Jeder ist rechtlos, jeder kann jederzeit schuldig sein.“ Totila saß dabei vorgebeugt auf einem Hocker. „Ich glaubte draußen“, fuhr er fort, „ich glaubte, ich wüsste Bescheid, aber was ich dann erfuhr … Nicht mal der Verrat eines Freundes“, Totila richtete sich auf, „ja nicht mal das“, sagte er, „geht mir so auf den Geist wie die abgrundtiefe Willkür, auf die man hier überall trifft. Es gibt ja ganze Hände voll ähnlicher Geschichten. Nur draußen erzählen eben die wenigsten davon und da ist sie dann schon wieder, die Angst …“ Schließlich hörten sie von unten herauf das rutschende hohle Schurren von Metallkesseln auf Stein.

„Kaffee!“, sagte Klaus und alle langten sich ihre Aluminiumbecher aus dem Wandregal. Außerdem hieß das auch den leeren Kübel reinzunehmen, wenn die Tür aufflog. Das war schnell zur Routine geworden. Dann ließen sich alle ihre Becher mit Muckefuck aus dem ausgemusterten Militärkessel füllen, griffen sich ihre Brotkule und den 20gr.-Klecks Margarine auf Pergamentpapier für den Tag sowie den Esslöffel Marmelade, den man ihnen in die Essschüsseln klatschte.

Doch dass Wilhelm Hankel in der Nebenzelle saß, hatte sich für Sebastian als etwas Unerwartetes erwiesen. Zwischen Kübelwechsel und Frühstück wurden nach zehn Minuten die Messer zum Zerschneiden der Brotstücke wieder aus den Zellen geholt. Nach dem Frühstück warteten die Gefangenen auf die Freistunde und Sebastian insbesondere auf das Zusammentreffen mit Wilhelm Hankel. Zwölf Jahre! Er konnte es noch immer kaum glauben. Beim Anstellen auf dem Gang stand er so, dass Hankel aus der Nebenzelle sich dicht hinter ihn stellen konnte.

 

„Wonach hat man euch denn verurteilt?“, fragte Sebastian, den Kopf etwas seitwärts geneigt.

„Artikel 6 und Kontrollratsdirektive 38“, antwortete Hankel gedämpft.

„Dann seid auch ihr allesamt, du und die jungen Burschen mit dir, stramme Kriegsverbrecher“, und er konnte sich dabei ein hysterisches Kichern kaum verkneifen. Dann sah er sich ganz nach rückwärts um und blickte in Wilhelm Hankels bekümmertes Gesicht. Er tat ihm wirklich leid. Es hatte den ja wesentlich schlimmer erwischt als ihn. Der hatte damals, als er an einem Sonnabend sein Stammlokal aufsuchte, nie damit rechnen können, dass er von dort nicht mehr zurückkehren würde. Dann der Schreck am nächsten Morgen und endlich die Erlösung, als die Russen sie freigelassen hatten … und er kehrte doch nicht zurück, alles war am Ende verloren: Haus, Hof und Familie, die man davongejagt hatte. Eigentlich ist so was nicht wirklich zu begreifen, sagte er sich.

„Alles Marsch!“, ertönte schließlich die Stimme des Stationskalfaktors und ein weiterer Austausch mit Hankel wäre in dem dann anbrechenden Krachen der schweren Holzschuhe auf den Holzplanken des Gangs nicht mehr möglich gewesen. Dann ging es polternd die steinernen Treppen hinab und hinaus auf den Hof.

„Abstand halten!“, rief dort der Vorturner, auch ein Gefangener, und trat in die Mitte des Rasenstücks, das die Gefangenen einzeln hintereinander zu umrunden hatten.

Und so liefen sie, Sebastian, Hankel hinter ihm und die anderen der Station in ihren Holzschuhen und runden Mützen auf den Glatzen, im Gleichschritt und im Kreis um den Rasen auf dem der Vorturner stand und die Kommandos gab: „Links, links, links zwo drei vier …“ An allen vier Ecken des Rundlaufs hatten sich Wärter postiert und achteten darauf, dass jeder Gefangene die in den Erdboden eingelassenen weißen Ziegel beachtete, die an vier Seiten des Rundgangs jeweils einen rechten Winkel beschrieben, den jeder im Gleichschritt in exakter Wendung zu nehmen hatte.

Dazu immer wieder die Stimme des Vorturners: „Links, links, links zwo drei vier …“ Schließlich der Ruf: „Alles Halt! Links um!“, also mit dem Gesicht zum Vorturner, der dann mit Kniebeugen begann, bei denen einige ältere Gefangene von den Posten angeschnauzt wurden, weil sie dabei nur langsam und schwer aus der Hocke wieder hoch kamen. „Na machen Sie endlich! Sie können doch den ganzen Laden hier nicht aufhalten!“

Dann Rumpf beugen, sodass die Fingerspitzen die Schuspitzen berührten. Der Vorturner demonstrierte jedes seiner Kommandos. Auch hier brachten viele der Älteren die Figerspitzen gerade mal bis über die Knie. Schließlich die angewinkelten Arme ausgebreitet einige Male nach hinten schlagen, dann nach oben, um sie danach auszuschütteln.

Dann wieder: „Rechts um! Im Gleichschritt marsch! Links, links, links zwo drei vier …“ Alles lief weiter und jeweils exakt um die eingelassenen weißen Ziegel an den vier Ecken des Kreises, Sebastian kam das blöde vor, diese Verrenkungen, die sich dabei ergaben. Er ließ sie aus.

„Alles Halt!“, rief daraufhin einer der Posten und ging auf Sebastian zu. „Sind Sie blind?“

„Nein“, sagte der.

„Nehmen Sie die Mütze ab, wenn ich mit Ihnen rede. Wie heißen Sie?“

„Sebaldt.“

„Wie?“

„Sebastian Sebaldt.“

„Strafgefangener heißt das. Sie sind verurteilter Strafgefanger, also?“

„Strafgefangener Sebaldt“, sagte Sebastian.

„Wie lange sind Sie hier?“

„Dreiundzwanzig Tage.“

„Und wie hoch verurteilt?“

„Zehn Jahre.“

„Da haben Sie ja noch ’n bisschen Zeit … Was sehen Sie denn da?“ Und er wies auf die in den Boden eingelassenen weißen Ziegel.

„Weiße Ziegel.“

„Und was bedeuten die?“

„Ist ein rechter Winkel.“

„Na so was. Und warum beachten Sie den nicht?“

„Ich war nicht im richtigen Tritt.“

„Nicht im Tritt, so, so … also zurück hop, hop. Und nehmen Sie die Ecke jetzt vorschriftsmäßig.“

Sebastian ging nach sekundenlanger Überlegung einige Schritte zurück. In den Kellerarrest bei Wasser und Brot wie er gehört hatte, wollte er so einer Lappalie wegen denn doch lieber nicht.

Der Uniformierte stellte sich provozierend breitbeinig in seinen Stiefeln genau an der Ecke auf und kommandierte: „Links, links, links zwo drei vier …“

Und Sebastian marschierte, wenn auch von widerwilligen Gefühlen bewegt, wie ein tapferer Zinnsoldat und setzte die Füße in den klobigen Holzschuhen exakt in den von weißen Ziegeln vorgegebenen rechten Winkel.

„Halt“, rief der Posten. „Ab jetzt immer so!“ Und er winkte dem Vorturner.

„Links, links, links zwo drei vier … kam dann wieder dessen Stimme und die Gefangenen setzten sich, unter Beachtung der rechten Winkel an den vier Ecken des Rundlaufs, wieder in Bewegung bis zum Kommando: „Einrücken!“, das diesem Rundmarsch, der sich Freistunde nannte, ein Ende setzte. Im Gänsemarsch, eine Reihe von Vogelscheuchen, zogen die Gefangenen über einige Granitstufen wieder in den Zellenbau ein. Dort dröhnte dann das Stampfen und Krachen der schweren Holzschuhe auf den steinernen Stufen der Treppe über die einzelnen Stationen nach ganz oben und dort über die Holzplanken der Galerie vor die Zellentüren. Da nahmen dann die Gefangenen die von den Kalfaktoren geleerten Waschwassereimer und Kübel, sowie die gefüllten Frischwasserkannen über den Tag mit in die Zellen. So wurden tagtäglich nacheinander die Insassen jeder Station zum Rundgang geführt.

Die Lebenslänglichen mit roten statt gelben Streifen an Ärmeln, Hosenbeinen, am Rücken und an den runden Mützen, drehten immer separat ihre Runden.

Auch einige wenige Gefangene, die „aufhetzerischer Äußerungen“, wegen in Einzelhaft saßen, liefen dann, wie Sebastian erfahren hatte, in Riesenabständen sehr einzeln ihre Runden ums Karree.

„Was versteht man denn unter aufhetzerischen Äußerungen?“, wollte Sebastian wissen.

„Na was schon!“, war ihm geantwortet worden. „Du kommst doch nicht vom Mond … die sind angeschissen worden. Spitzel in den Zellen, das weiß doch hier jeder. Das gab’s nicht nur in der Spreestraße. Auch hier muss einer immer überlegen was er sagt und wem er was sagt. Sonst kann jeder wegen Staatsverleumdung oder Boykotthetze noch was obendrauf gepackt bekommen, sozusagen als Nachschlag.“

„Aber ich bin doch als Staats- und Volksfeind schon verurteilt worden. Dann kann ich doch auch meine Meinung sagen.“

„Das denkst du dir so, aber die Partei denkt da ganz anders. Du bist ein Volksfeind, sagen die und sollst hier gebessert werden. Und mit feindlichen Äußerungen betätigst du dich immer weiter als Volksverhetzer und kannst dafür auch immer wieder verurteilt werden. So ist das hier. Es gibt einige die schon so ’nen Nachschlag weg haben.“

„Aha, deshalb Einzelhaft.“, sagte Sebastian. So kann man keinen mehr politisch beeinflussen.“

Und so stürzte vieles auf die beiden Freunde als Neuankömmlinge ein.

Dann verstummte mal wieder für einige Zeit jedes Gespräch in der Zelle. Alle saßen verstreut auf ihren Schemeln, dösten halbschlafend vor sich hin, erinnerten sich an Vergangenes oder dachten auch über die gegenwärtige Situation nach, wie etwa Sebastian, der sich in die Stille hinein an den Graumelierten wandte: „Du sagst, die nehmen jede Gelegenheit wahr, so ein gerade noch geduldetes Ungeziefer los zu werden. Nicht eine Straftat an sich bestimmt Hankels Urteil, sondern die bürgerliche Existenz als Kleinunternehmer selbst ist es …“

„Denk an die willkürlichen Ausnahmen von der Regel“, wandte der Graumelierte ein.

Sebastian wiegte den Kopf. „Ja gut“, stimmte er zu, „das erscheint mir durchaus richtig, aber was bedeutet dann die Verurteilung der jungen Leute in diesem Fall und zu so hohen Zuchthausstrafen von sechs bis zehn Jahren? Ich kann mir das nicht erklären. Schließlich waren das Arbeiterkinder und keine Kleinbürger oder deren Nachwuchs.“

Der Befragte schüttelte nun seinerseits den Kopf. „Diese Frage“, sagte er, „ist zu kompliziert oder aber auch zu einfach“, dazu breitete er beide Hände aus und hob die Schultern, „ich kann sie dir nicht beantworten.“

„Hm …“, brummte Sebastian. „Schade“, sagte er und wieder dominierte Schweigen das Vergehen der Zeit.

Der Graumelierte nannte das den Sparmodus. Schließlich könne man nicht jahrelang nur reden und am Tage auf den Betten zu schlafen sei ja verboten. Wo käme man auch hin, wollten die Gefangenen ihre Strafen verschlafen.“

Kapitel 4

Nach einem meist sonnigen und vorwiegend trockenen Frühjahr, war der Sommer 1954 regelrecht ins Wasser gefallen. Von Nordwesten her zog eine Regenfront nach der anderen über das Land und weichte den Boden immer tiefer auf. Sebastian blickte durchs Gitterfenster seiner Zelle über die Zuchthausmauer hinweg in den Dauerregen und die andere Welt dort weit draußen im Nebeldunst. Ihm war hier drinnen erst richtig klar geworden wie bedroht die Existenz der Menschen dort draußen wirklich war. In den Zellen ging ja auch der Spruch von den drei Sorten an Bürgern der DDR um, nämlich denen die bereits eingesperrt waren, denen die eingesperrt sind und denen die noch eingesperrt werden.

Das, was er in den Revisionszellen ganz automatisch über den unerschöpflichen Nachschub an Zwangsarbeitskräften miterlebt hatte und was er vor allem über die Verurteilungsgründe in diversen Urteilen, die den Häftlingen vor einer Revisionsverhandlung kurzzeitig in die Zellen gegeben wurden, zu lesen bekommen hatte, ließ ihm den Spruch von den drei Sorten an DDR-Bürgern erst im wahren Licht erscheinen: Eine Welt verinnerlichter Angst … Natürlich hatten sie davon auch draußen gewusst und mit dieser Angst schon mal mutwillig ihren Spaß getrieben. Eine Welt der Willkür und Angst, die prinzipiell alle Eigenständigkeit, alle Zweifel, jede eigene Meinung verstummen ließ, um so einen ‚Neuen Menschen‘ hervor zu bringen, beschädigte, ja verkrüppelte diese lediglich. Natürlich gibt es die bewusst Angepassten. Karrieristen ohne das Bewusstsein eines Selbst, sagte Sebastian sich, die gibt es überall. Solche Menschen sind vielleicht schlau, aber alles andere als klug.

Er stand noch immer am Fenster und sah hinaus ins regengraue Land an einem Sommertag. In Hinsicht aufs Wetter dort draußen hatte er hier drinnen wirklich nichts verpasst. Nur Regen mit kurzen Pausen, in denen sich im Dunst auch mal kurz eine verschleierte Sonne zeigte.

So vergingen in den Zellen die Tage unendlich langsam.Vom Grund eigener Verurteilung sprach von den Politischen kaum einer und schon gar nicht im Detail oder nur in Andeutungen, wenn sichs ergab. Eine Hauptaufgabe der Anstaltsleitung bestand deshalb darin, das Entstehen von Vertrauen unter den Gefangenen zu verhindern. Ehe so etwas entstehen konnte, kam es gezielt zu Verlegungen in immer wieder andere Zellen, sodass ein Grundmisstrauen stets erhalten blieb. Das Spitzelunwesen stand wie draußen so auch in den Zuchthauszellen in voller Blüte. Angst und Misstrauen erwiesen sich wie eh und je als probates Herrschaftsinstrument einer Diktatur.

So traute man insbesondere den politischen Gefangenen nicht über den Weg, gab es unter ihnen doch immer einzelne, die laut dachten und es erwies sich als nicht möglich sie alle in Einzelhaft zu sperren. Und so wurde auch das Misstrauen der Wachmannschaften in ständigen Schulungsstunden immer wieder von neuem geweckt.

Die beiden Freunde Totila und Sebastian waren trotz häufigen Wechsels von Zelle und Zellenbelegung noch immer beisammen.

Neue kamen hinzu, und jene deren Revision verworfen worden war und das waren zumindest unter den Politischen fast alle, wurden auf Normalzellen verteilt.

Eines Tages schwappte gewissermaßen eine Welle von hoch verurteilten leitenden Mitarbeitern verschiedener DDR-Ministerien aus Berlin in die obere Station des Zellenbaus. Lauter Abteilungsleiter und Hauptabteilungsleiter, von denen sich einige ganz offensichtlich bereits von draußen her kannten, wie Sebastian, Totila und andere es bei einer ersten Freistunde mitbekamen.

Von denen, die Revision eingelegt hatten und davon gab’s tatsächlich einige, landeten in Sebastians und Totilas Zelle gleich zwei dieser Neuen. Sie hatten damit rechnen können, denn zwei aus ihrer Zelle waren am Vortag überraschend verlegt worden und jedem war ja bekannt, dass es an Zellenplätzen im Bau mangelte.

 

Bei den Neuen handelte es sich, wie sie gleich zu Anfang auf Nachfragen erfahren hatten, um einen Volkswirt und einen Dipl. Ingenieur, beide Abteilungsleiter in entsprechenden Ministerien.

Sebastian wunderte sich über die vielen ‚bürgerlichen Elemente‘ die an den Schalthebeln der Arbeiter und Bauernmacht gesessen hatten.

„SED?“, hatte Sebastian fragend auf den Busch geklopft.

„Nein“, beteuerten beide.

„LDPD“, bekannte der Volkswirt.

„NDPD“, sagte der Ingenieur.

„Nationale Front“, warf Totila abwinkend ein. „Alles eine Wichse.“

Die beiden älteren Neuzugänge grinsten und sahen sich amüsiert an.

„Jeder tut das Seine auf seine Weise“, erklärte der Volkswirt.

„Ohne Sachverstand geht’s eben auch nicht“, warf der Ingenieur ein.

Sebastian winkte wieder ab. „Die wollten euch doch bloß ausnutzen, genau wie meinen Vater.“

„Wir haben die aber auch missbraucht“, sagte der Volkswirt wieder grinsend.

„Ach was, ist doch alles Unsinn“, unterbrach Totila diesen Meinungsaustausch.

„Arbeiterkinder an die Universitäten!“, sagte er und lachte. „Nach spätestens einer Generation sind das dann keine Arbeiterkinder mehr. Was dann?“

Der Ingenieur lachte ebenfalls. „Vielleicht führt man dann eine Elitenrotation ein, ehe die völlig zu Bürgern werden.“

„Wenn das Ganze überhaupt so lange hält“, sagte Sebastian und wandte sich wieder mal dem Fenster zu, um hinaus in den Regen zu starren. Bereits im Juni hatte es zu regnen begonnen. Ein kleiner Trost blieb es, dass er in dieser Hinsicht draußen kaum etwas verpasste. Sehr kurz blieb dieser Trost aber, wenn er zurück in die Zelle blickte und die Gefangenen auf ihren Schemeln hocken sah in diesen schäbigen Uniformen, verteilt zwischen Bettgestellen, Kübel und Esstisch. Die dort gespannt lauschten, ob sich mit dem Mittagessen nicht schon was tat, in der blassen Hoffnung, dass es sich diesmal nicht um die gleiche wässrige Kohlsuppe der vergangenen Tage handeln möge.

Aus immerwährendem Warten bestand das eigentliche Leben eines Gefangenen im Zellenbau und bezog sich ansonsten immer nur auf Ziele in kürzesten Distanzen, wenn das wechselseitige Erzählen und Reden meist eher als später wiederholende Elemente aufzuweisen begann. Dann domininierten eher entsprechende Ziele die Zeit des Wartens wie: Freistunde, Frühstück, Mittagessen und Einschluss … Letzteres hieß Nachtruhe auch im Sommer um 20 Uhr.

Das Fenster? Es handelte sich um kein wirkliches Fenster, sondern nur eine mit Glasbauziegeln zugemauerte Fensteröffnung, die im letzten Drittel in einer Fensterklappe endete, die eigentlich nur zum Lüften gedacht war, durch die man aber, allerdings nur im vierten Stock, weit hinaus blicken konnte. In den unteren Stationen erwiesen sich diese Fenster wirklich nur als Lüftungsklappen. Vom vierten Stock aber konnte man nicht nur weit über die Mauer hinwegsehen, sondern auch beobachten was unten im Hof vor sich ging, wenn etwa neu ausstaffierte Gefangene neben dem Eingangstor ein paar Stufen hoch zur Sprecherlaubnis geführt wurden; oder wenn Neuzugänge einzeln oder in Gruppen wie ein scheuer Hühnerhaufen zusammengedrängt den Hof überquerten .

Die da im Haufen kämen, seien fast immer Karnickeldiebe und meist Kriminelle“, war den beiden gleich zu Anfang erklärt worden. Karnickeldiebe hörten sie, seien solche mit nicht mehr als zwei oder drei Jahren. Manche in Knastklamotten, kämen auch aus anderen Anstalten. Des Weiteren konnte man von dort oben, hinter einer internen Mauer die einen weiteren Hof abschloss, gefangene Frauen bei der Freistunde sehen. „Die laufen dort in genau so beschissenen Klamotten rum wie wir“, stellte Totila fest.

„Na dachtest du, die laufen dort in hübschen Sommerkleidern spazieren?“, fragte mit spöttischem Unterton der Ingenieur „Quatsch!“, entgegnete Totila. „Ich denke eher, dass vor allem Männer Frauen nicht so als Vogelscheuchen herumlaufen sehen wollen.“

„Es gibt Länder, da laufen fast alle Frauen voll verhängt in der Öffentlichkeit herum“, widersprach der Ingenieur.

„Ja im Orient, aber das ist nicht unsere Kultur. Sollen sie da rumlaufen wie sie wollen. Aber das da unten“, und er wies mit der Hand zum Fenster, „also das finde ich schlimm.“

Der Ingenieur lachte. „Ich sehe schon, du bist ein Nachkomme edler Ritter und Minnesänger. Aber wer weiß denn schon“, fragte er, „was die, die da unten rumlaufen, so alles ausgefressen haben?“

„Das kann man genau so gut auch von uns sagen“, mischte Sebastian sich ein.

„Ja warum nicht?“, stimmte der Ingenieur zu.

„Ich sage, wir hier“, erklärte Sebastian, „wir alle haben was getan. Wir sind keine Opfer. Jeder wusste was er tat, also davon gehe ich aus“, sagte er an die beiden Älteren gewandt.

Die wiegten die Köpfe, nickten leicht und lächelten ein bisschen. Jeder hatte natürlich in vollem Bewusstsein gehandelt. Und so manches war auch bei vielen Verhören ungesagt geblieben. Widerständler in DDR-Zuchthäusern blieben schließlich eine stets gefährdete Spezies.

„Du sagst“, wandte Totila sich an seinen Freund Sebastian, „jeder wusste was er tat. Ich würde sagen, jeder tat etwas, weil er wusste dass er’s tun musste.“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Na logisch“, sagte er, „das hatte ich vorausgesetzt …“

„So logisch ist das nicht, wenn du sagst wir alle hätten was getan und säßen deshalb hier“, gab Totila zu bedenken.

„Na ja, das war wohl dumm ausgedrückt. Ich meinte, wir sind keine Opfer, sondern ganz bewusst Täter. Und nicht nur wir paar Männeken hier. Es gibt sie überall und immer wieder und sicher auch mehr als man denkt, die eben nicht nur beim Alkohol in der Kneipe auf den Staat und den Spitzbart schimpfen. Es gibt sie auch hier auf Station wie zum Beispiel die zu lebenslänglich verurteilten Artikel 6er. Ich hab da mit diesen roten Streifen einen ganz jungen Kerl gesehen.

Der soll erst neunzehn sein, hab ich gehört. Von Beruf Drogist und seit einem Jahr hier.“

Der Ingenieur nickte. „Stimmt“, sagte er, „das ist Arno Drefke, der soll für einen westlichen Nachrichtendienst gearbeitet haben.“

„Na bitte, wie ichs schon sagte! Ein Jahr von lebenslänglich“, sinnierte Sebastian laut vor sich hin, saß auf einem Schemel und blickte von dort durch die Zelle und zur vergitterten Fensterklappe hinaus in einen gleichmäßig grauen Himmel.

Und knapp ein halbes Jahr von zehn Jahren … Aber bei lebenslänglich sieht der erst mal kein Ende. Welch ein Unterschied …“ Immer wieder und sehr oft kam ihm auch der Todeskandidat in der Zelle schräg gegenüber in den Sinn. Ein Typ wie die um Stauffenberg, sagte er sich. Wie ist der bloß aufgeflogen? Keiner wusste es.

So manche Freistunde mit diesen Märschen rund ums Rasenkarree, von den Wachposten auch gern Hofgang oder Rundgang genannt, war bereits wegen zu starken Regens ausgefallen. Bei Nieselregen allerdings wurden diese Rundmärsche, wenn auch verkürzt, durchgeführt. Sebastian betrachtete dann den weiten grauen Himmel, mal eben nicht durch die schmale Fensterklappe und dazu der feine Regen der gleichmäßig auf alles fiel, dort draußen und hier drinnen, sagte er sich und hielt das Gesicht in das staubfeine Naß, das aus dem hohen Himmel fiel, bis er von einem Posten angeblafft wurde: „Gucken sie gefälligst wohin Sie latschen!“

Es war schon vorgekommen, dass einer der ein, zwei Meter aus der Bahn geraten war, weil er sich, wie etwa Sebastian, die Wolken in einem weiten freien Himmel angesehen hatte, zur Strafe dafür eine Reihe von Kniebeugen oder Liegestütze zu absolvieren hatte.

Die trüben regenreichen Tage zogen sich hin und es wurde nie richtig hell in der Zelle. Den handtellergroßen Toilettenpapierstücken aus Zeitungen war weiterhin bruchstückhaft zu entnehmen, dass inzwischen immer mehr große LPG-Getreideflächen, durch den vielen Regen zu Boden gedrückt, auszuwachsen begannen. Auch Frühkartoffeln faulten inzwischen auf den Feldern.

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