Auf der anderen Seite der Schwelle

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Auf der anderen Seite der Schwelle
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„Ein glücklicher Sklave

ist der erbittertste Feind der Freiheit.“

Marie von Ebner-Eschenbach

Für Marie-Luise

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den Folgeband des dokumentarischen Romans: „Als der Kalte Krieg am kältesten war“.

Auch dieses Buch ist den Widerständlern gewidmet, die in Zuchthäusern und Arbeitslagern der einstigen DDR über Jahre hinweg vegetieren mussten.

Raimund August

AUF DER ANDEREN SEITE DER SCHWELLE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Vorwort

Zeitzeugen aus den 50er Jahren werden rar. Wer sich für die dunklen Nachkriegskapitel der Zeitgeschichte unseres Volkes interessiert, hält hiermit eines der wertvollsten Bücher in der Hand. Raimund August ist es gelungen, auch in seinem zweiten Buch äußerst anschaulich, authentisch und plausibel Geschichte durch erlebte Geschichten aus dieser Epoche nachfolgenden Generationen nahe zu bringen.

Manches Mal wird sich der Leser fragen, wie jemand, der das hier Beschriebene als junger Mensch erleben musste, gesund alt werden konnte, ohne Schäden an Psyche und Körper davongetragen zu haben. Weder Larmoyanz noch Hass oder arrogante Überlegenheitsrhetorik grundieren das gelungene Kunstwerk.

Wer es mit dieser Haltung nur mittels souveräner Anwendung der Sprache schafft, Erlebtes, Erkanntes und Durchschautes ohne ideologische Vorgaben lebendig, also nachvollziehbar werden zu lassen, ist durchaus ein Künstler, auch wenn dieser unspektakulären Kunstrichtung innerhalb der Zeitgeistmoden wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.

Raimund August hat sein Leiden produktiv gemacht, denn Leid kann Sinn gebären. Vor allem dem, der schon vor einer Handlung wusste, dass sie ein Risiko birgt. Insofern erlebte er seinen geheimen Widerstand gegen die SED-Diktatur und sowjetische Besatzung sowie die darauf folgende Leidenszeit in den Gefängnissen der frühen „DDR“ bewusster und souveräner als jene, die nur schuldlos Opfer eines Unrechtssystems wurden und dieses grausame Unglück mit dessen posttraumatischen Folgen nie verkraften konnten und können.

Schon für Aristoteles war das Martyrium einer gänzlich unverdienten Strafe „nicht tragisch, sondern grässlich“.

Dass Raimund August zusätzlich noch den gewaltlosen Zusammenbruch des gesamten Ostblocks und die Wiedervereinigung Deutschlands erleben durfte, wird er sicher, ganz im Gegensatz zu seinem ehemals „besten Freund“, der ihn einst verriet, als eine besondere Gnade zu genießen wissen. Doch auch wissend, dass es in der Geschichte kein ewiges „happy end“ geben kann, hat er sich nicht auf die faule Haut gelegt, sondern aufgeschrieben und gestaltet, was er besonders jungen Menschen mitzuteilen hat. Unsere dunkle Vergangenheit ist, wie jeder sehen kann, in der weiten Welt noch immer Gegenwart; und so wird es leider für alle, die an keine „Endlösung“ glauben, auch in Zukunft sein. Selbst über Deutschland und Europa ziehen wieder und wieder bedrohliche Wolken auf.

Es gibt Literatur und Kunst, die sowohl zum Leben nach dem Leben als auch zum Überleben unter widrigsten Umständen ermuntert. Dazu gehört dieses Buch.

 

Siegmar Faust

(politischer Häftling in Cottbus von 1974 bis 1976)

Kapitel 1

Die drei an einem sonnigen Märztag des Jahres 1954 vom Bezirksgericht Cottbus als Feinde des Volkes verurteilten jungen Männer: Sebastian Sebaldt, Totila Kunzmann und Wolfgang Mehring kletterten aus dem mit der Aufschrift VEB-Bäckereikombinat Cottbus getarnten fensterlosen Gefangenentransporter und fanden sich in einer gewölbten Durchfahrt wieder.

„Guck mal“, flüsterte Sebastian seinem Freund Totila zu und wies mit einer Kopfbewegung auf ein Gittertor. Der Blick dort hindurch stieß auf eine hohe Wand aus rotem Backstein mit Reihen kleiner vergitterter Fenster, unter denen jeweils eine weiß aufgemalte Zahl stand.

Alles Zellen, ging es Sebastian durch den Kopf.

„Anheimelnd“, sagte Totila.

Auch Wolfgang Mehring blickte nachdenklich in diese fremde Realität mit den roten Backsteinmauern und kleinen Gitterfenstern. Hier beginnt sie also, diese Welt, überlegte er. Eine Welt von der er bisher nur hinter vorgehaltener Hand gehört hatte.

Eben noch in der Gerichtszelle nach der Verabschiedung von Angehörigen, denen sie den Gerichtsflur entlang nachgeblickt hatten … Bleiben Sie da!, hatte sie einer der Stasi-Schließer dort vor der Tür eben noch angeschnauzt und mit wedelnder Handbewegung von der Türschwelle zurück in die Gerichtszelle gescheucht. Und nun das hier.

Doch ein Jahr wird auch vergehen, tröstete Wolfgang Mehring sich. Aber sieben Jahre wie sein Seminarfreund Totila oder gar zehn wie dieser Sebastian? Nee wirklich! Gar nicht auszudenken …

Drei Uniformierte, die aus einer Tür in die Durchfahrt getreten waren, durchsuchten die Kleidung der drei Neuzugänge, klopften sie ab, griffen in alle Taschen, teilweise mussten die drei sich auch ausziehen. Die Nähte wurden gefilzt und die Schuhe untersucht … danach berieten die Posten sich kurz und blätterten dabei in mitgeschickten Papieren. „Langstrafer“, vernahmen die Freunde von den Wachtposten, die diesen Begriff unter sich gebrauchten, zum ersten Mal. So wurden sie dann auch gleich vorsortiert, indem Mehring als erster, die Hände auf dem Rücken, durchs Gittertor und über den Hof weggeführt wurde.

Für die Verurteilten neigte sich ein langer Tag allmählich seinem Ende zu.

Schließlich gingen auch Totila und Sebastian, die Hände auf dem Rücken und einen Wachtposten hinter sich, gemeinsam über diesen Hof. Die Sonne stand bereits schräg hinter den Gebäudekomplexen der Anstalt, die schon längere Schatten warfen. Wolkenflocken schwammen, in einem rosa Licht leuchtend, im dämmernden Blau eines weiten Abendhimmels.

Gut, sagte Sebastian sich, dass man überhaupt wieder mal in die Weite eines Himmels blicken konnte, ganz gleich ob in einen blauen Frühlings- oder grauen Winterhimmel. Das schneeverhangene Grau oder dunkle Blau eines Himmels an eisig klaren Wintertagen hatte er monatelang nur durch die kleinen Rillenglasscheiben der vergitterten Fenster eines Stasiverlieses verschwommen wahrnehmen können. Wenigstens etwas hatte sich schon verbessert und eine Ungewissheit war der Gewissheit gewichen. Er kannte nun auch die Höhe seines Urteils und konnte in die Weite eines hohen Himmels blicken.

Die beiden Freunde fanden sich schließlich von einem Wachtposten dirigiert vor der Tür einer Zelle wieder und betraten einen größeren Raum, der sich als bis unter die Decke mit vierstöckigen Metallbetten vollgestellt erwies. Die Türe fiel hinter ihnen ins Schloss und beide sahen sich um.

Totila schüttelte den Kopf. „Lange bleiben wir hier nicht.“

Sebastian lachte. „Betten hätten wir auf alle Fälle mehr als genug. Hast du schon mal auf ’nem Strohsack geschlafen?“

„Auf Stroh schon, aber Strohsack? Nee.“ Totila schüttelte den Kopf.

Sebastian trat an eines dieser Bettgestelle auf dem so ein Strohsack lag, betrachtete ihn und schlug mit der flachen Hand darauf. „Nur Staub und Häcksel“, erklärte er hustend in einer Staubwolke stehend.

„Du musst ja auch nicht gleich so drauf herumdreschen. Ist immerhin Volkseigentum.“ Und über Totilas Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. „Aber hier hat im Gegensatz zur Spreestraße“, fuhr er fort, „die Zivilisation bereits Einzug gehalten. Siehst du hier irgendwo so ’nen Scheißkübel?“

Sebastian schüttelte den Kopf und wies auf einen in die Zelle hineinragenden Vorbau zwischen zwei Fenstern. „Ich seh’ dort aber eine Tür.“

Beide gingen gespannt darauf zu und Totila öffnete. Dazu schob er einen kleinen Riegel zurück. Sie standen überrascht vor einem richtigen Porzellan-WC. In der Rückwand dieser kleinen Toilettenzelle gab es ein circa handtellergroßes Fensterchen, durch das man hinaus in den Hof sehen konnte.

„Geht das ebenso von innen?“ Sebastian sah sich die Türe an und fand auch eine Innenverriegelung.

„Tatsächlich“, sagte er grinsend, „ein zivilisatorischer Fortschritt. Der ‚Humane Strafvollzug’, von dem mein Vernehmer mir immer erzählt hat.“

Totila schloss die Toilettentüre, drehte sich um und winkte ab. „Diese kleinen Scheißhäuser haben wir nicht der DDR zu verdanken, die gab’s mit dem Knast hier schon vor hundert Jahren.“

„Weiß ich nicht. Wahrscheinlicher ist, die haben sie erst später eingebaut.“

„Dann aber bestimmt nicht in der DDR.“

„Du nimmst mir auch jede Illusion“, erklärte Sebastian und ging die wenigen Schritte zu einem halboffenen Fenster, lehnte sich eng gegen die Gitterstäbe und konnte dabei in ein ebenso offenstehendes Fenster der Nebenzelle blicken.

„Komm mal her“, winkte er Totila heran. „Das sind dort richtige Gefangene“, sagte er und beide betrachteten die Gefangenen in ihren bläulich gestreiften Hemden, unter verwaschenen hellblauen Jacken mit breiten gelben Streifen längs der Ärmel und des Rückens, die dort an den Fenstern standen. „So sehen wir selber bald aus.“

Auch die von drüben sahen dann interessiert herüber und winkten. „Wo kommt ihr denn her?“

„Von der Stasi, Spreestraße …“, antwortete Sebastian.

„Na woher schon? Vom Gericht“, ergänzte Totila.

Die nebenan am Fenster lachten. „Worüber lachen die denn?“, fragte Sebastian den Freund.

Totila hob die Schultern: „Was weiß ich?“

Doch da kam von dort auch schon die Frage nach der Höhe der Verurteilung.

„Zehn und sieben Jahre Artikel 6“, antwortete Sebastian.

Unverständnis am anderen Fenster und dann auch prompt die Frage: „Was’n das?“

„Na, Staatsverleumdung, Spionage, Boykotthetze und so weiter …“

Am Fenster nebenan wieder Verwirrung. „Mordhetze?“, fragte schließlich einer zögerlich.

„Ja, ja, auch das“, winkte Sebastian ab, als er begriff, dass die mit solchen Anklagen nichts anzufangen wussten. Mordhetze schon, das konnten sie verstehen, aber Boykotthetze?

„Was habt denn ihr?“, fragte Totila zurück.

„Acht Monate“, sagte einer, „anderthalb Jahre“, ein anderer. „Sechs Monate, zweieinhalb Jahre“, die nächsten beiden.

„Und wofür?“

Die nebenan lachten wieder. „Körperverletzung, Taschendiebstahl, Einbruch“, sagte einer. „Unterschlagung“, ergänzte ein anderer.

„Lohnt sich denn das überhaupt noch, also Unterschlagung, Diebstahl und so …?“

„Warum fragst du?“

„Ich meine bei dem Ostgeld hier“, antwortete Sebastian. „Was wollt ihr denn damit? Dafür kriegt man doch nichts.“

„Was ich mit Geld will?“, fragte einer. „Ne doofe Frage. Ich brauch dann nicht malochen geh’n. Ist doch schon was, oder?“

„Na gut, aber Arbeitsbummelei fällt auf und ist strafbar. Es gibt schließlich die gesetzliche Arbeitspflicht.“

Die nebenan lachten nur wieder.

„Spionage?“, fragte schließlich einer.

„Ja“, sagte Sebastian, „das auch. Organisation Gehlen.“

„Wer?“, kam etwas ratlos die Frage zurück.

„Westdeutscher Nachrichtendienst“, vereinfachte Totila die Antwort.

„Dann müsst ihr ja bombig verdient haben.“

„Sebastian schüttelte lachend den Kopf. „Alles ehrenamtlich“, sagte er. „Das müssen die aus Kitschromanen haben“, wandte er sich etwas leiser an seinen Freund.

„Und dann haben se euch jeschnappt. Und wie …?“hörten sie wieder eine Stimme von nebenan.

„Verrat. Ein Freund hat uns verraten“, erklärte Totila.

„War wohl ’n Überzeugter?“

Sebastian schüttelte den Kopf. „Nee“, sagte er, „einen guten Posten, am besten gleich bei der Stasi oder in der Partei, das war’s.“

„Auf eure Kosten? Da hat der euch aber janz schön anjeschissen …“

„Nicht nur uns.“

„Een Schweinehund!“

Sebastian nickte.

„Da möcht’ ich aber jetzt nich in eure Haut stecken“, meinte einer. „Zehn Jahre, da gibt’s nämlich Glatze und ihr werd’ ins Zellenhaus gesteckt. Der Bau da direkt vor euch“, und er wies mit der Hand aus dem Fenster.

„Glatze?“ Sebastian fuhr sich unwillkürlich mit der Hand durchs Haar.

„Klar, is gegen Läuse jut und brauchst dann keen Kamm nich mehr.“

„Bei sieben Jahren auch?“, fragte Totila.

„Klar, sieben Jahre, bist ja n Langstrafer. Unter fünfen sitzt da keener.“

„Und alle mit ’ner Platte“, fügte ein anderer grinsend hinzu. „Im obersten Stock sind dort ooch die Lebenslänglichen, die machen immer extra Freistunde.“

„Freistunde?“, fragte Totila, „was ist denn das wieder?“

„Im Hof immer im Kreise loofen, im Gleichschritt“, erklärte einer, wies aus dem Fenster und lachte dazu. Im Gänsemarsch, eener hinter’m andern, aber immer schön im Abstand …“

„Eine Stunde?“, wunderte Sebastian sich.

„Quatsch“, kam die Antwort, „’ne halbe Stunde, oft ooch weniger. Dabei noch fünf bis zehn Minuten Freiübungen.“

„Dafür gibt’s ’n Vorturner“, ergänzte ein anderer. „Ihr werd’s ja selber erleben.“

Als das Schloss krachte und die Zellentür aufflog, wandten die beiden sich rasch vom Fenster ab und der Türe zu.

Dort stand einer dieser uniformierten Schließer und ließ den langen Schlüssel ungeduldig kreisen. „Und?“, fragte er schließlich.

Die beiden sahen ihn verständnislos an.

„Woher kommen Se denn?“

„Aus der Spreestraße.“

„Na dann wissen Se doch, dass Se Meldung zu machen haben“, fuhr der Schließer die beiden an.

„Was sollen wir denn melden?“, fragte Totila mit unschuldiger Miene.

„Se sind hier im Strafvollzug“, reagierte der Schließer verärgert. „Wie heißen Se denn?“

„Kunzmann“, sagte Totila.

„Sebaldt“, antwortete Sebastian.

„Se melden sich als Strafgefangene Kunzmann und Sebaldt mit Zellennummer, wo Se sich grade aufhalten.“

„Wir kennen aber die Nummer hier gar nicht“, sagte Sebastian.

Der Wachtmeister winkte ab. „Se bleiben ja nich hier, wissen aber jetzt Bescheid.“ Dann verließ er auch schon die Zelle, ohne dass das mit der Nummer geklärt worden war. Schloss und Riegel krachten wieder und Schritte entfernten sich auf dem Gang.

Draußen wanderten die Schlagschatten der Gebäude, allmählich länger geworden, ganz langsam über den Hof.

„Wie spät könnte es sein?“

Totila zuckte mit den Schultern und hob dazu die Hände. „Halb sieben, sieben …“, sagte er. „Schätze ich wenigstens.“

„Auch so ’ne Sache: Wir werden über Jahre nicht selber mehr eine Uhrzeit ermitteln können“, sinnierte Sebastian laut vor sich hin.

Totila schüttelte den Kopf. „Was willst du hier mit ’ner Uhr? Aber jetzt ganz was anderes“, fuhr er fort, „hast du schon mal dran gedacht, dass wir den ganzen Tag noch nischt zu essen gekriegt haben?“

Sebastian, der wieder zum Fenster hinaus sah, wandte sich um. „Da haste Recht.

Mir fehlt aber noch jedes Hungergefühl“, sagte er. „Überleg’ doch mal was wir in der Gerichtszelle alles in uns hineingefressen haben. Wenn das nicht gewesen wäre … aber das alles werden wir nun jahrelang nicht mehr zu sehen kriegen.“

„Doch das jetzt hier …“ Totila sah sich um. „Was die sich dabei bloß denken?“

„Wahrscheinlich gar nichts“, antwortete Sebastian. „In keinem der Lenin’schen oder Stalin’schen Manifeste steht ja geschrieben, dass sie uns als ihre Feinde lieben sollen.“

„Du meinst, weil Liebe angeblich durch den Magen geht?“

Dann schwiegen beide wieder. Sebastian sah zum Fenster hinaus in den rosa und violett angehauchten Abendhimmel, in dem die fernen Kronen der alten Kastanienbäume sich schwarz wie Scherenschnitte abzeichneten.

 

Totila saß grübelnd leicht zusammengesunken auf seinem Hocker.

Beide vernahmen dann das lärmende Krachen von Schlössern, das näher kam.

Sie stellten sich in einigem Abstand vor der Türe auf, bis auch die aufsprang und ein uniformierter Schließer mit einer Art Kladde in der einen und einem Stift in der anderen Hand sie auffordernd ansah.

„Zelle …“ Totila zögerte einen Moment, „wir wissen die Nummer noch nicht“, sagte er, „aber belegt mit zwei Strafgefangenen, meldet Strafgefangener Kunzmann.“

„Was?“, fragte der Schließer, streckte den Kopf leicht vor und drehte ihn dabei etwas zur Seite. „Wollen Se mir vielleicht off ’n Arm nehmen? Sie kenn’ die Nummer Ihrer Zelle nich?“

„Wir sind doch erst seit heute hier …“, versuchte Sebastian zu erklären.

Der Schließer zog seinen vorgestreckten Kopf zurück. „Sie hatten doch Oogen im Koppe als Se hier her gebracht wurden oder könn’ Se keene Zahl’n lesen?“ Bevor der Stationskalfaktor schließlich die Türe zuwarf, hörten sie den Schließer noch so was wie „Zelle fünfundzwanzig“, brummen. Dann krachte auch schon das Schloss und der schwere Riegel klirrte in seine Halterung.

„Könn’ Se keene Zahl’n lesen?“, äffte Totila den Schließer nach. „Ich möchte den mal sehen ob der, grade eben zu vielen Jahren Zuchthaus verurteilt, dann auf Zellennummern achten würde.“

Sebastian zuckte lächelnd mit den Schultern. „Zellennummern“, sagte er, „gehören nun mal in seinen Alltag. Wahrscheinlich kann der sich nicht vorstellen, dass für einen der gerade eben sieben oder zehn Jahre Knast verpasst gekriegt hat, anderes wichtiger ist als Zellennummern.“ Dabei ging er vor den Fenstern langsam auf und ab. „Na gut“, sagte er, „Nummer fünfundzwanzig, das wissen wir jetzt.“

„Vorhin der eine Schließer hat aber gesagt, wir blieben sowieso nicht hier“, erinnerte Totila den Freund.

„Weiß ich“, sagte der. „Die von nebenan“, dazu wies er mit dem Daumen gegen die Wand, „haben ja auch erklärt wir würden ins Zellenhaus kommen, als Langstrafer.“

„Na schön, heute wird nichts mehr passieren“, sagte Totila, „das geht erst morgen richtig los. Wir werden uns bald ein Bett aussuchen müssen.“

Beide saßen auf vorgefundenen Hockern. Sebastian lehnte sich gegen den Tisch, einen Arm flach auf der Tischplatte.

Und Totila saß vorgebeugt, mit den Ellenbogen auf den Knien. „Wirklich nicht zu sagen“, erklärte er nach längerem Schweigen und richtete sich auf, „wie beschissen die Lage ist!“

„Das wird uns erst langsam klar werden“, bestätigte Sebastian diese kohlrabenschwarze Einschätzung des Freundes. „Mir ist so als wäre das mit der Verhandlung schon viele Tage her, dabei war’s erst heute Nachmittag. Aber immerhin, Zeit haben wir ja genug.“

Und wieder schwiegen beide. Jeder mit sich alleine und mit dem beschäftigt was in weiter Ferne lag, wie ein Nebel der noch undurchdringlich schien. Draußen stieg dunstig die Dämmerung auf, vom Scheinwerferlicht der Wachtürme diesig zerstrahlt und zurückgeworfen vom Weiß der Mauern und Werkstattgebäude.

Totila war ans Fenster getreten. „Du meine Güte, da oben sieht man ja schon die Sterne“, und er wies mit der Hand in den Nachthimmel. Es ist spät …“

„Bei dieser Lampenherrlichkeit da draußen wird’s eben nie dunkel in den Zellen.

„Man wird sich daran gewöhnen müssen. Wir sollten uns auf ’s Ohr hauen.

Morgen werden die uns bestimmt zeitig rausschmeißen.“

„Kannst du denn schlafen?“, fragte Totila und sah den Freund zweifelnd an.

„Ich denke schon. Das ganze Theater heute war doch anstrengend genug.“

„Richtig, aber ich bin noch ganz schön aufgekratzt … mal seh’n ob’s klappt mit dem Einschlafen. Aber hinhauen sollten wir uns schon, da haste recht. Morgen kommt ja noch einiges auf uns zu. Und ob wir dann noch zusammenbleiben, steht auch in den Sternen.“

„Damit sollten wir vielleicht besser nicht rechnen. Dann seh’n wir uns womöglich nur noch von weitem draußen bei der Freistunde.“

Totila hob dazu nur kurz die Schultern.

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