Nachdenken über Corona

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Nachdenken über Corona
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Nachdenken über Corona

Philosophische Essays über die Pandemie und ihre Folgen

Herausgegeben von Geert Keil und Romy Jaster

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: zero-media.net

Coverabbildung: FinePic

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAMist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961836-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011349-3

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort: Die Philosophie und die Pandemie

  Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona

  Das Samariterprinzip. Warum der Staat in der Not zwingen darf

  Lob der Vermutung

  Verhindern oder Vorbeugen? Freiheitseinschränkungen in der Corona-Krise

  Masken, Abstand, Anschnallpflicht. Freiheitseinschränkungen im Straßenverkehr und in der Pandemie

  Medizin am Limit: Wie umgehen mit Versorgungsengpässen in der Pandemie?

  Wie vernünftig sind Verschwörungstheoretiker? Corona und intellektuelles Vertrauen

  Das Prinzip der Freiwilligkeit belohnt die Falschen

  »Applaus, Applaus!«. Über eine Ethik des Lobes und moralisch unangemessenen Applaus

  Biografische Notizen

Vorwort
Die Philosophie und die Pandemie

Bereits im Jahr 2015 hat die Gesellschaft für Philosophie (GAP) eine Preisfrage zu einer aktuellen gesellschaftlichen Herausforderung ausgeschrieben. Damals, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, lautete die Frage an die philosophische Zunft: »Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?« Zur Teilnahme aufgerufen waren alle akademischen Philosophinnen und Philosophen, vom Studenten bis zur Professorin. Die besten Essays wurden zwischen zwei Buchdeckeln versammelt.1

Als im Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie die Welt in den Griff nahm, wurde schnell klar, dass diese Herausforderung sich nicht wie andere Krisen angehen lässt: Wegsehen, auf die lange Bank schieben und Symbolpolitik waren diesmal keine Optionen. Die Menschheit kämpft seither gegen die Ausbreitung einer Viruskrankheit, die bis Ende 2020 fast zwei Millionen Opfer gefordert und in einigen Ländern katastrophenartige Zustände ausgelöst hat. Das Virus hat sich auf allen fünf Kontinenten verbreitet; zu Wasser und in der Luft findet es nur deshalb kaum noch Wirte, weil die Pandemie den Luftverkehr und die Kreuzfahrtschifffahrt weitgehend zum Erliegen gebracht hat. Aus Europa werden nicht zuletzt die Bilder aus Norditalien im Gedächtnis bleiben: Ärztinnen und Ärzte am Ende ihrer Kräfte, die völlige Überlastung der Krankenhäuser, Leichen, für die es keinen Platz mehr in den Kühlhäusern gab. Erschütternd waren die Briefe sterbender Menschen, die ihre Angehörigen nicht noch ein letztes Mal sehen konnten.

Auf diesen Schock reagierten viele Länder mit einem Lockdown, der in alle Lebensbereiche ausstrahlte: Wirtschaft, Reisen, Kulturveranstaltungen, Sport, Religionsausübung, Schulen, Universitäten, Freundschaft und Familie. Noch nie gab es zu Friedenszeiten so große Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Es wurde schmerzhaft klar, dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit mit anderen wichtigen Gütern in Konflikt geraten kann.

Eine Krise dieses Ausmaßes befeuert vielfältige gesellschaftliche Debatten, zu denen auch die Philosophie etwas beizutragen hat. Die GAP hat daher erneut einen Essay-Wettbewerb ausgerichtet. Das Thema war der Titel dieses Bandes: Nachdenken über Corona. Wir haben uns bewusst für diese Formulierung entschieden, um es den Beitragenden offenzuhalten, welche Fragestellung sie aus der Vielzahl möglicher philosophischer Anknüpfungspunkte herausgreifen wollen. Dass diese Offenheit im Sinne der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war, sieht man daran, welch unterschiedliche philosophische Zugänge die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gewählt haben (die Ausschreibung findet sich am Ende dieser Einleitung abgedruckt).

Die vielfältigen Herausforderungen betreffen die Philosophie in ihrer ganzen fachlichen Breite – nicht nur die politische Philosophie, die Ethik und die Sozialphilosophie, sondern auch zentrale Felder der theoretischen Philosophie wie die Erkenntnistheorie, die Naturphilosophie und die Wissenschaftsphilosophie. Es geht um Themen wie:

 Güterabwägungen zwischen Gesundheit, Freiheit, Wohlstand,

 staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte und das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang,

 die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen im Ausnahmezustand,

 medizinische Versorgungsengpässe, die Verteilung knapper Ressourcen (Intensivbetten, Impfstoff) und eine Ethik der Triage,

 Selbstgefährdung, Fremdgefährdung und die Solidarität bei unterschiedlicher Verletzlichkeit von Bevölkerungsgruppen,

 die Verlagerung wichtiger politischer Entscheidungen auf die Exekutive,

 Herausforderungen des Entscheidens unter Unsicherheit,

 die Erfolgsbilanz unterschiedlicher Politikstile und Gesellschaftsmodelle bei der Bewältigung der Krise,

 Ökonomie und Verteilungsfragen,

 systemrelevante Berufe und gerechte Entlohnung,

 unser Verhältnis zu den anderen Tieren; Essgewohnheiten, Haltungsbedingungen und Zoonosen,

 die Rolle wissenschaftlicher Expertise für Politik und Gesellschaft,

 Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten, Vorläufigkeit und Fehlbarkeit der Wissenschaft,

 Herausforderungen für die Wissenschaftskommunikation,

 Corona-Skepsis und Verschwörungstheorien,

 die Gesellschaft als Wissens- und Vertrauensgemeinschaft,

 Probleme von Corona-Warn-Apps, etwa beim Datenschutz.

Diese unvollständige Themenliste zeigt, wie breit das Spektrum der Aspekte ist, die angesichts der Corona-Krise zu bedenken sind. Die Pandemie und ihre Auswirkungen geben Anlass, nahezu alle Bereiche unseres Zusammenlebens neu zu verhandeln. Bei dieser Aufgabe werden uns die Expertinnen und Experten der Stunde – Virologen, Epidemiologinnen, Impfstoffforscher – nicht helfen können. Medizinisch wird die Pandemie früher oder später eingehegt sein. Bleiben werden die Fragen, die andere Arten von Expertise und nicht zuletzt philosophisches Nachdenken verlangen.

Die Philosophie in der Pandemie

Aus Sicht der analytischen Philosophie stellt die Kommentierung der Zeitläufte eine besondere Herausforderung dar: Der hohe Anspruch an die Philosophie, ihre Zeit – die Corona-Zeit – in Gedanken zu erfassen, ist kaum seriös einzulösen. Analytische Philosophinnen und Philosophen sind besser im sorgfältigen Zerlegen von Problemen als im Blick auf das große Ganze. Und sie stehen dazu: Die Erwartung, die Corona-Zeit bündig auf den Begriff zu bringen, würde die schiere Vielfalt der Herausforderungen verkennen. Und man sollte der Versuchung widerstehen, die Corona-Krise zur Bestätigung der je eigenen vorgefassten Globaldiagnose zu missbrauchen. Die analytische Philosophie hat ihre Stärken im nüchternen, sortierenden, begriffsklärenden und argumentierenden Problemzugriff. Es spricht einiges dafür, dass dieser Philosophiestil der Vielfalt und Komplexität dessen, was es zu bedenken gibt, besser entspricht als eine mit Aplomb vorgetragene Globaldiagnose. Die Philosophie der Pandemie gibt es schon deshalb nicht, weil Corona uns nicht die eine Lektion erteilt hat, sondern ziemlich viele Lektionen.

Die mediale Präsenz der akademischen Philosophie in der Corona-Krise war, wie erste Zusammenstellungen zeigen, beachtlich.2 Über den Ertrag der Wortmeldungen gehen die Meinungen auseinander. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung war zu lesen, dass den Philosophen zu Corona »außer Banalitäten erstaunlich wenig« eingefallen sei, »die Originalität und Substanz der Wortmeldungen« sei gering gewesen. Zwar hätten die Philosophen neben einem »fröhlichen Einerseits-andererseits-Brei«, auch viel Richtiges gesagt, nur sei dieses Richtige »von anderen Beobachtern längst bemerkt« worden, »bevor es die Philosophen wiederholten«.3

Das ist eine wenig schmeichelhafte Einschätzung. Wenn man ehrlich ist, wird man sie nach Abzug des polemischen Überschusses nicht rundheraus zurückweisen können. Etliche Wortmeldungen aus der Philosophenzunft haben der Zunft keine Ehre gemacht. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die knappen und häufig zuspitzenden Formate der Publikumsmedien philosophischen Überlegungen keinen günstigen Entfaltungsraum bereitstellen. Redaktionen und Teile der Öffentlichkeit mögen sich von Philosophen vor allem originelle Einsichten und steile Thesen erhoffen. Doch philosophisches Nachdenken zeichnet sich weniger durch die besondere Originalität der Thesen, sondern in erster Linie durch die Genauigkeit und Sorgfalt aus, mit der diese Thesen dargelegt, begründet und mit anderen Überlegungen in Zusammenhang gebracht werden. Wo Philosophie verblüffen will, verspielt sie ihre Stärken. Steile Thesen sind oft vor allem eines: falsch.

 

Was nun den Einwand betrifft, die Philosophen seien mit ihren Wortmeldungen sehr spät gekommen, so erinnert er an Hegels berühmte Bemerkung über die Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt. Ja, das Nachdenken braucht etwas Zeit, und die Philosophie kommt meistens etwas spät. Doch kommt sie immer noch früh genug zu spät: Philosophen tragen zu gesellschaftlichen Debatten idealerweise etwas bei, das eine längere Halbwertszeit besitzt als Einlassungen zur Tagespolitik. Philosophinnen sind gut beraten, auf diejenigen Aspekte des Umgangs mit der Pandemie abzustellen, die nicht so schnell durch Tagesereignisse überholt werden. Dies ist im Falle der Corona-Krise durchaus eine Herausforderung. Die Jury war jedoch vorausschauend genug, ausnahmslos Beiträge zu Fragen in den Band aufzunehmen, die uns noch länger beschäftigen werden.

Der Wettbewerb

Auf die Ausschreibung hin wurden mehr als hundert Essays eingereicht. Eine divers besetzte Fachjury hat in einem blinden Begutachtungsverfahren die drei Preisträgerinnen sowie sechs weitere Beiträge ausgewählt, die in diesem Band versammelt sind. Besonders freuen wir uns, dass Texte von Philosophinnen und Philosophen aller Qualifikationsstufen für den Band ausgewählt wurden. Die Jurymitglieder waren Susanne Boshammer (Osnabrück), Elke Brendel (Bonn), Daniel Cohnitz (Utrecht), Simone Dietz (Düsseldorf), Anna Goppel (Bern), Tim Henning (Stuttgart), Geert Keil (Berlin), Peter Schaber (Zürich), Ralf Stoecker (Bielefeld), Eva Weber-Guskar (Bochum), Markus Wild (Basel) und Héctor Wittwer (Magdeburg). Für den ehrenamtlichen Einsatz der Jurymitglieder möchten wir uns an dieser Stelle im Namen der GAP bedanken.

Der erste Preis des Wettbewerbs ist Christian Budnik (Zürich) für seinen Essay »Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona« verliehen worden. Der Beitrag nimmt die Corona-Krise als Krise des Vertrauens in den Blick. Budnik ruft zunächst die Gründe dafür in Erinnerung, dass wir in dieser Krise unterschiedlichen Akteuren vertrauen müssen: politischen Entscheidungsträgern, Medizinern und Epidemiologen, unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern. In den Protesten gegen die verhängten Maßnahmen wurden allerdings Exzesse des Misstrauens sichtbar. Angesichts der damit verbundenen Gefahren plädiert Budnik dafür, die moralisch und emotional aufgeladenen Begriffe des Vertrauens und des Misstrauens in sozialpolitischen Kontexten mit Vorsicht zu verwenden. Tatsächlich wird etwas von Vertrauen Verschiedenes gefordert: Wir verlassen uns bis zum Beweis des Gegenteils darauf, dass auch andere das Gebotene tun und dass Regierung und Wissenschaft keine finsteren Ziele verfolgen. In der Pandemie gilt nach Budnik: Vertrauen ist gut, sich verlassen ist besser.

Mit dem zweiten Preis ist der Beitrag »Das Samariterprinzip: Politische Legitimität und Covid-19« von Luise K. Müller (Dresden) ausgezeichnet worden. Der Beitrag nimmt seinen Ausgang von dem Slogan »Nicht ohne uns!«, mit dem besorgte Bürgerinnen und Bürger gegen Beschränkungen ihrer individuellen Freiheiten demonstrieren. Müller sucht zu zeigen, dass die Einschränkungen durchaus mit einem wohlverstandenen Liberalismus vereinbar sind. Wie schon John Stuart Mill argumentiert hat, findet unsere Freiheit dort eine Grenze, wo ihre Ausübung andere schädigt. In der Corona-Pandemie müssen die Handlungen vieler so koordiniert werden, dass große Not vermieden wird. Diese Rolle kann einstweilen nur der Staat übernehmen. Der Essay verteidigt ein »Samariterprinzip«, nach dem der Staat seine Bürgerinnen in Notsituationen zwingen darf, ihren Teil zur Rettung beizutragen. Auch aus liberaler Perspektive lässt sich nach Müller rechtfertigen, dass wir kein moralisches Recht haben, von solchem Zwang verschont zu bleiben.

Der dritte Preis ging an Emanuel Viebahn (Berlin), der in seinem Beitrag »Lob der Vermutung« eine sprachphilosophische Perspektive auf die Wissenschaftskommunikation in der Pandemie einnimmt. In Krisen, so Viebahn, scheinen klare Ansagen gefragt zu sein, bei denen wir wissen, woran wir sind. Vermutungen hingegen stehen im Ruf, unklar zu sein und es dem Sprecher zu erlauben, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Viebahn zeigt mit den Mitteln der Sprechakttheorie, dass vermutende Sprechakte für die Krisenkommunikation in der Corona-Pandemie richtig und wichtig sind. Weder seien Vermutungen anfälliger für Unklarheit als andere Sprechakte, noch seien sie besser dazu geeignet, Verantwortung abzuweisen. Im Gegenteil: In einer Situation, die durch Unsicherheit geprägt ist, sind Vermutungen Viebahn zufolge besonders wertvoll für das Kommunizieren von Annahmen, für die man zwar Gründe, aber keine wasserdichten Belege hat.

Die sechs zusätzlich ausgewählten Essays beleuchten weitere Aspekte des Umgangs mit der Pandemie.

Oliver Hallich (Essen) macht in seinem Beitrag »Verhindern oder Vorbeugen?« auf einen oft übersehenen Unterschied im Bereich von Freiheitseinschränkungen aufmerksam: Vorbeugende Maßnahmen setzen früh ein und sollen im Vorfeld ein Risiko minimieren, beispielsweise den Ausbruch einer Epidemie. Steht hingegen die Gefahr schon vor der Tür, bleiben nur noch verhindernde Maßnahmen, die etwa auf das Unterbrechen von Infektionsketten abzielen. Hallich argumentiert, dass vorbeugende und verhindernde Maßnahmen sich in der Stärke der jeweils erforderlichen Rechtfertigung voneinander unterscheiden, und plädiert dafür, für Freiheitseinschränkungen in einer liberalen Demokratie möglichst hohe Rechtfertigungsstandards anzusetzen.

Ludger Jansen (Rostock/Münster) vergleicht in seinem Beitrag »Masken, Abstand, Anschnallpflicht« die Corona-Maßnahmen mit Regulierungen im Straßenverkehr. Im Juli 2020 war klar: Die erste Welle der Corona-Infektionen konnte erfolgreich gestoppt werden. Zur gleichen Zeit wurde bekannt, dass im Vorjahr die Zahl der Verkehrstoten einen historischen Tiefstand erreicht hatte. Beides wurde durch Maßnahmen erreicht, die die Freiheit der Bürger einschränken, doch nur die Corona-Maßnahmen führten zu empörtem Protest und Demonstrationen. Jansen fragt, woran die unterschiedliche Akzeptanz der Maßnahmen liegen mag und ob wir aus der Analogie mit den Verkehrsregeln etwas über den Umgang mit der Pandemie lernen können.

Frank Dietrich (Düsseldorf) erörtert in seinem Beitrag »Medizin am Limit« die Handlungsempfehlungen ärztlicher und medizinethischer Gremien zum Umgang mit Versorgungsengpässen in der Pandemie. Was tun, wenn nicht für alle Patienten mit schweren Krankheitsverläufen Beatmungsgeräte und Pflegekräfte zur Verfügung stehen? Wie dann »priorisiert« werden soll, ist eine ethische Frage, keine medizinische. Hinter dem Kriterium der »klinischen Erfolgsaussicht« verbergen sich nämlich unterschiedliche Priorisierungen, die sich vor allem darin unterscheiden, ob sie ältere Patienten benachteiligen. Dietrich diskutiert auch den Extremfall der »Ex-post-Triage«, die bereits aufgenommene Patienten in die Auswahl einbezieht und unter Umständen Therapieabbrüche zugunsten neu eingetroffener Kranker verlangt.

Sebastian Schmidt (Zürich) fragt in seinem Beitrag »Wie vernünftig sind Verschwörungstheoretiker?«, wie es um die Vernunft derjenigen steht, die einer Verschwörungstheorie über die Corona-Pandemie anhängen. Im Umgang mit Corona scheint sich zu bestätigen, was die Psychologie seit Jahrzehnten lehrt: Menschen unterliegen in ihrem Denken kognitiven Fehlern und Verzerrungen. Doch ist verschwörungstheoretisches Denken, das solche Fehler ebenfalls begeht, deshalb irrational? Schmidt warnt davor, einander zu leichtfertig als irrational zu betrachten, und verweist auf die wichtige Rolle, die intellektuelles Vertrauen in Wissensgemeinschaften spielt. Am Beispiel des sogenannten Bestätigungsfehlers führt er aus, dass Menschen, die ihre Überzeugungen nicht fortwährend kritisch prüfen, in diesem Verhalten durchaus rational sein können.

Alexandra Tiefenbacher (Zürich) befasst sich in ihrem Beitrag »Das Prinzip der Freiwilligkeit belohnt die Falschen« mit den Nachteilen des Freiwilligkeitsprinzips, das den Corona-Maßnahmen einiger Länder zugrunde liegt. Zwar galten zeitweise die Maßnahmen der Schweiz und Schwedens vielen als vorbildlich, weil sie anstelle von Verboten auf die Souveränität ihrer Bürgerinnen setzen. Das Freiwilligkeitsprinzip hat aber auch gravierende Nachteile: Insbesondere erzeugt es Tiefenbacher zufolge ein Fairnessproblem, denn von freiwilligen Maßnahmen profitieren vor allem diejenigen, die sich nicht an die Maßnahmen halten: die Trittbrettfahrer. Damit werfen die Corona-Maßnahmen ähnliche Probleme auf wie die größtenteils freiwilligen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise. In beiden Fällen spricht Tiefenbacher sich für verbindliche Regelungen aus, die die Lasten fair verteilen.

Yannic Vitz (Berlin) erinnert in seinem Beitrag »Applaus, Applaus!« an den Beifall für die von der Arbeit heimkehrenden Pflegekräfte, der in den ersten Monaten der Pandemie von den Balkonen erschallte. Das Echo auf diesen Applaus war nicht nur positiv. Es war von Zynismus die Rede; viele Pflegekräfte empörten sich öffentlich. Doch worin besteht eigentlich genau das Problem? Vitz macht geltend, dass Applaus moralisch durchaus unangemessen sein kann, und zwar dann, wenn er Ausdruck eines heuchlerischen Lobs ist. Oft ist es völlig in Ordnung, andere für etwas zu loben, was man selbst nicht tut, in bestimmten Fällen aber nicht. Die von Vitz skizzierte ›Ethik des Lobs‹ versucht, das Phänomen des heuchlerischen Lobs genauer zu bestimmen.

Wir möchten uns bei all jenen bedanken, die Beiträge zum Wettbewerb eingereicht haben. Ein besonderer Dank gilt Kerstin Helf und Sara Nothnagel, die uns bei der Durchführung des Wettbewerbs und bei der Arbeit am Manuskript vielfältig unterstützt haben.

Berlin, im Dezember 2020

Geert Keil und Romy Jaster


Christian Budnik

Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona

Vertrauen ist ein Phänomen, das uns vor allem in Nahbeziehungen wie Freundschaften, Liebes- oder Familienbeziehungen begegnet, es spielt aber auch in sozialen und politischen Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Vertrauen kommt immer dann zum Tragen, wenn Personen sich in einer Situation der Unsicherheit befinden. Bei Gewissheit ist es fehl am Platz. So wäre es etwa verfehlt, davon zu reden, dass man darauf vertraut, nicht bestohlen zu werden, nur weil der potenzielle Dieb im Koma liegt. Sich bezüglich des Verhaltens von Personen nicht vollkommen sicher zu sein, ist demnach eine Voraussetzung dafür, dass man ihnen vertraut. Vertrauen wiederum schafft eine spezielle Art von Sicherheit und ermöglicht uns auf diese Weise, in im weitesten Sinne kooperative Verhältnisse zu treten, bei denen es keine Garantien gibt und manchmal auch nicht geben kann.

Vertrauen durchdringt unseren Alltag auf zahlreichen Ebenen und lässt viele unserer Handlungen vernünftig erscheinen, für die wir ansonsten keine oder zumindest keine hinreichenden Gründe angeben könnten. Warum entspannen wir uns etwa auf einem Sitzplatz in der Straßenbahn? Es könnten ja Mörder auf den Bänken hinter uns lauern. Sind wir uns wirklich sicher, dass im Freibad, im Supermarkt, im Flugzeug, im Park, beim Friseur keine Gefahren lauern? Wir haben dies in der Regel nicht genau überprüft, haben keine Charaktertests durchgeführt, keine eigenen Überwachungskameras installiert. Und dennoch benutzen wir weiterhin öffentliche Verkehrsmittel, gehen im Park spazieren und lassen uns im Friseursalon mit scharfen Gegenständen am Kopf herumhantieren. Ist das nicht eine an Irrsinn grenzende Waghalsigkeit, da es immerhin um die wichtigsten Güter wie unser Leben und unsere Gesundheit geht? So kann nur denken, wem Vertrauen fremd ist. Vertrauensvoll zu handeln bedeutet gerade, dass wir uns – zumindest dann, wenn unser Vertrauen seinerseits nicht unvernünftig ist – auf angemessene Weise darauf verlassen, dass Personen sich auf eine bestimmte Weise verhalten werden, obwohl wir uns dabei keinesfalls sicher sein können.

 

Die Corona-Krise ist primär eine medizinische Krise, aber sie ermöglicht gleichzeitig die Einnahme einer Perspektive, von der aus die hier skizzierte Vertrauensdynamik auf besonders deutliche Weise in den Blick rückt. Viele der Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften seit dem Ausbruch der Pandemie konfrontiert sind, lassen sich als Vertrauensprobleme verstehen. Die politischen Gefahren, die mit der Pandemie verbunden sind, machen deutlich, auf welche Weise das Funktionieren demokratischer Systeme von Vertrauen abhängt. Die Lösungen schließlich, die im Umgang mit der Corona-Krise gefunden werden müssen, werden auch mit dem Problem fertigwerden müssen, wie unsere Gesellschaften nach den seismischen Erschütterungen, die uns zu Beginn der Pandemie erfasst haben, wieder zu einem vertrauensvollen Miteinander finden sollen. Umso wichtiger erscheint vor diesem Hintergrund die philosophische Reflexion auf den Begriff des Vertrauens. Im Folgenden werde ich zunächst drei Merkmale der Krise rekonstruieren, die verstehen helfen sollen, inwiefern in ihr auch Vertrauen auf dem Spiel steht. In einem zweiten Schritt werde ich aufzeigen, um welches Vertrauen es im Rahmen der Corona-Krise genauer geht und warum in Zeiten von Corona Misstrauen so weit verbreitet ist. In einem abschließenden dritten Teil werde ich andeuten, wie uns ein angemessenes Nachdenken über Vertrauen aus der Krise helfen könnte. Dabei werde ich die möglicherweise überraschende These vertreten, dass wir mit Vertrauen als politischer Kategorie gerade in der momentanen Situation ganz besonders behutsam umgehen sollten.

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