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Oral History – Gespräche mit Geretteten und Zeitzeugen
Die in diesem Buch vorliegenden Berichte bzw. Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen sind über einen Zeitraum von 25 Jahren (1995–2020) in Israel, Ungarn, der Schweiz, Grossbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten erfasst und gesammelt worden. Den Begriff «Zeugnis» verwenden wir dabei nicht in seiner juristischen Bedeutung, sondern fassen ihn, um den multiplen methodologischen Ansätzen gerecht zu werden, in weitem Sinn als «Weitergabe von Informationen, für die sowohl ein innerer, unbeugsamer Druck sie mitzuteilen besteht als auch eine äussere Bereitschaft und ein Verlangen, diese zu empfangen»19.
Nachfolgend steckt François Wisard, Leiter des Historischen Dienstes beim EDA, den historischen Zeitrahmen ab, der die Rettungsmassnahmen von Carl Lutz in den Kontext anderer Rettungseinsätze durch Diplomaten und das Internationale Rote Kreuz in Budapest während des Kriegs stellt. Wisards Überlegungen zu den höchst komplizierten Rettungsmissionen unter Schweizer Leitung führen uns zum ersten Kapitel, das Zeugnisse ehemaliger Mitglieder von vier zionistischen Jugendbewegungen vorstellt: Bne Akiva, Hanoar Hazioni, Haschomer Hazair und Hechaluz. In diesem Kapitel ist auch der Zeugenbericht eines Nichtjuden enthalten, Paul Fabry. Fabry, der zum militärischen Widerstand gehörte, stellte eine Truppe zusammen, die vorgeblich mit der Bewachung des Glashauses beauftragt war. Während die falsche Militäreinheit vortäuschte, die Insassen des Glashauses gefangen zu halten, schützten er und seine Soldaten in Wirklichkeit die jüdischen Bewohner vor Angriffen und Verhaftungen durch die Pfeilkreuzler. Sein Bericht erinnert uns daran, wie viele individuelle Widerstandsaktionen zu den von der Schweiz geführten Rettungsmissionen beigetragen haben: «Es gab keinen einzigen geretteten Juden, ohne dass nicht Dutzende andere daran beteiligt waren. Da war derjenige, der ihn ins Haus hereinliess, derjenige, der ihn zum Taxi brachte, derjenige, der ihm ein bisschen Kleingeld oder etwas zu essen gab, derjenige, der mit gefälschten Bescheinigungen von einem Ort zum andern rannte, derjenige, der den Telefonanruf machte, um ihm zu sagen, er soll fliehen. Es war eine Kette von Ereignissen, und eine einzige Sekunde konnte von Bedeutung sein. Wo konnte in dieser Sekunde jemand helfen? War jemand da, der einem zu Hilfe kam? War jemand da, der einem dieses Papier gab? Niemand konnte allein tausende Verfolgte retten. Und das trifft auch für Lutz zu. Lutz war ein Held, aber er brauchte Hunderte andere, die ihm halfen.»
Im zweiten Kapitel werden Lebensgeschichten nachgezeichnet, die auf Interviews mit Überlebenden und deren Nachkommen beruhen. Diese Porträts von Geretteten – die Gespräche, auf denen sie basieren, wurden mit einer Ausnahme alle von Agnes Hirschi geführt – sind weitgehend in der dritten Person gehalten um hervorzuheben, dass diese mündlich erfragten Lebensgeschichten durch die Augen der GesprächspartnerInnen reflektiert werden. Diesem gemeinschaftlichen Ansatz zwischen Interviewern und Befragten liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Erinnerungen der Zeugen nicht in einem abstrakten Vakuum existieren, sondern in einem dialogischen Rahmen gegenseitig konstituiert und vermittelt werden.20
Das dritte Kapitel enthält Zeitzeugengespräche, die von Noga Yarmar, Charlotte Schallié, Daniel von Aarburg und Daniel Teichman geführt wurden.20 Ein Grossteil der Gespräche sind «narrative Interviews», die auf Video aufgezeichnet wurden. Dies bedeutet konkret, dass wir zu Beginn des Gesprächs Leitfragen stellten, danach den Redefluss aber nicht mehr unterbrochen haben. Wenn noch zusätzliche Erklärungen vonnöten waren, haben wir diese gestellt, nachdem die Zeitzeugen ihre Lebensgeschichten zu Ende erzählt hatten. Im Rahmen seines Filmprojektes «Carl Lutz – Der vergessene Held» hat Daniel von Aarburg biografische Interviews geführt, das heisst, er hat sowohl Leitfragen als auch offene Fragen gestellt. Daniel Teichmans Beitrag gibt ein persönliches Gespräch zwischen Vater und Sohn wieder.
Carl Lutz in seinem Büro, Bregenz, Österreich 1960
Wir befragten Überlebende, die im Jahr 1944 noch im Kleinkindalter waren; andere Überlebende, die uns ihre Erinnerungen anvertrauten, waren damals bereits erwachsen und an der Rettungsmission mitbeteiligt. Angesichts dieser grossen Altersspanne variieren die Erinnerungen stark: Einige reflektieren die Wahrnehmung eines Kindes, andere werden aus der Erwachsenenperspektive geschildert und dabei in Zusammenhänge eingebettet, die stark von nachfolgenden Ereignissen und «Folgeerfahrungen»21 geprägt sind.
Während der Gespräche mit den Zeitzeugen achteten wir darauf, aufmerksame und engagierte Zuhörerinnen zu sein und uns so wenig wie möglich einzumischen, um den Erinnerungsprozess zu respektieren, der sich oft als «Bewusstseinsstrom» vollzog. Wir orientierten uns an den vom USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education entwickelten Leitfäden und den vom United States Holocaust Memorial Museum vorgeschlagenen Richtlinien für Interviews. Sämtliche Überlebende, die persönlich befragt wurden, zeigten ein dringendes Bedürfnis, Zeugnis abzulegen – und brachten dies oft schon bei der ersten, telefonischen Kontaktaufnahme deutlich zum Ausdruck. Wenn das Erinnern aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Überlebenden schwieriger war, baten wir ihre Ehepartner und Kinder, beim Gespräch zu vermitteln. In solchen Situationen wurde das Format an die individuellen Bedürfnisse und Umstände angepasst, und es entwickelte sich ein gemeinschaftliches Erinnern von Überlebenden und ihren Familienmitgliedern.22
Das vierte Kapitel enthält schriftliche Selbstzeugnisse, die von Überlebenden oder deren Nachkommen verfasst und zum Teil durch Interviews ergänzt wurden. Sowohl in den mündlichen wie auch in den schriftlichen Selbstzeugnissen erinnern sich einige Überlebende lebhaft und detailliert an die Ereignisse von 1944 und 1945, während andere die Erinnerung mit philosophischen und historischen Reflexionen verweben, die auf jahrelangen Recherchen und der Beschäftigung mit der Vergangenheit beruhen.
Im fünften Kapitel versammeln wir Hommagen und Briefe an Carl Lutz, die Agnes Hirschi – Journalistin, Holocaust-Überlebende und Stieftochter von Carl Lutz – über viele Jahre hinweg von Überlebenden erhalten hat.
Die Transkripte der Gespräche, die auf Deutsch, Hebräisch, Ungarisch und Englisch geführt wurden, sind für die Buchausgabe bearbeitet und gekürzt worden. Die schwierige Aufgabe, einen mündlichen Bericht in ein schriftliches Dokument zu übertragen, erforderte weitere gemeinsame Anstrengungen von Überlebenden, InterviewerInnen, ÜbersetzerInnen, RedakteurInnen und LektorInnen. Obwohl die Erinnerungsprozesse zyklischen und sich wiederholenden Mustern folgen, haben wir uns bei allen Berichten und Zeugnissen für eine lineare Erzählstruktur entschieden. Um ein teambasiertes Modell der Zusammenarbeit umsetzen zu können, haben wir alle einen Ansatz gewählt, der dem komplexen Zusammenspiel von Inhalt, Erinnerungsprozess und Formgebung grosse Aufmerksamkeit schenkt.
Die Arbeit unserer MitherausgeberInnen (Daniel Teichman, Noga Yarmar, Dahlia Beck, Daniel von Aarburg) war ein integraler Bestandteil dieses Projekts. Aus diesem Grund haben wir am Schluss einen Anhang mit ihren Anmerkungen hinzugefügt, damit die Art unseres gemeinsamen Vorgehens so transparent wie möglich wird.
Juli 2020
Kontext und Eckpunkte der Rettungsaktivitäten von Carl Lutz und seinem Team
François Wisard23
Die Rettungsaktivitäten von Carl Lutz und seinem Team können nur im Kontext der politischen Entwicklungen Ungarns in den Jahren 1944 und 1945 und der gleichzeitig von Repräsentanten anderer neutraler Länder unternommenen Rettungsmassnahmen verstanden werden (siehe 1 und 2).
Lutz’ Rettungseinsatz kann auf keinen Fall als die heroische Tat eines Einzelnen betrachtet werden, sondern war Teil einer kollektiven Anstrengung unter seiner Leitung. Diese Rettungsbemühungen waren jedoch wegweisend: Sie gingen anderen nicht nur zeitlich voraus, sondern ermöglichten auch die Rettung der meisten Menschen (siehe Punkte 2 und 4).
Ungarn und die Judendeportation
Carl Lutz kam im Januar 1942 nach Budapest und kehrte im April 1945 gemeinsam mit seinen Mitarbeitenden in der schweizerischen diplomatischen Vertretung nach Bern zurück – mit Ausnahme seines Vorgesetzten und eines Kollegen, die beide von den Sowjets gefangengenommen und nach Moskau gebracht worden waren. Die Ereignisse in Ungarn zu jener Zeit können in drei verschiedene Phasen eingeteilt werden.
Die erste Phase umfasst die Zeit bis zur deutschen Besetzung am 19. März 1944. Nachdem sich Ungarn 1940 durch seinen formellen Beitritt zum Achsenbündnis gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland zu militärischem Beistand verpflichtet hatte, konnte es Teile der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawiens annektieren und damit Gebiete zurückgewinnen, die es in der Folge des Ersten Weltkriegs verloren hatte. Zwischen 1938 und 1941 verabschiedete Ungarn drei antijüdische Gesetze, die sich weitgehend an den Nürnberger Gesetzen orientierten und die Juden faktisch von allen staatlichen und öffentlichen Ämtern ausschlossen. Darüber hinaus beteiligten sich ungarische Truppen an Massakern an Juden. Dennoch stellte Ungarn im Frühling 1944 das letzte Gebiet unter Kontrolle oder Einfluss der Achsenmächte dar, in dem die «Endlösung» noch nicht durchgeführt worden war. Es lebten um die 750 000 Juden innerhalb seiner Grenzen, darunter viele, die aus Polen, vor allem aber der Slowakei geflüchtet waren.
Mit dem 19. März 1944 änderte sich die Lage. Angesichts des Vorrückens der sowjetischen Armee und des sich zunehmend stärker manifestierenden Willens der ungarischen Regierung, ins Lager der Alliierten zu wechseln, marschierten die deutschen Truppen im Land ein. Nazideutschland verfügte jedoch nicht mehr über die Mittel für eine umfassende, dauerhafte Besetzung, und ein Grossteil der Truppen wurde bald wieder abgezogen. Es zwang dem Reichsverweser Miklós Horthy, der das Land seit 1920 regierte, zwei Reihen von Massnahmen auf: eine Kollaborationsregierung und eine Armada von Aufsehern und Beratern unter der Leitung von Edmund Veesenmayer, der sowohl Heinrich Himmler als auch Joachim von Ribbentrop vertrat. Adolf Eichmann stand an der Spitze eines Spezialkommandos zur Organisation der Deportationen. Es waren also die Deutschen, die die Strippen zogen. Um jedoch den Schein ungarischer Souveränität aufrechtzuerhalten, blieb der Regent Horthy Staatsoberhaupt.
Eichmann und seine Kommandotruppe machten sich umgehend an die Arbeit. Es wurde ein Zeitplan zur Konzentration der ungarischen Juden erstellt, der bald die Deportation folgen sollte. Als erstes waren die Juden der Provinzen im Osten, Südosten und Norden betroffen – die Gebiete, die den heranrückenden sowjetischen Truppen am nächsten lagen und als letzte von Ungarn annektiert worden waren. Die Operation sollte spätestens nach drei Monaten mit den Juden der Hauptstadt abgeschlossen werden. Am 15. Mai 1944 fuhr der erste Zug nach Auschwitz-Birkenau, bis an die slowakische Grenze von Ungarn begleitet. Innerhalb weniger Wochen wurden über 430 000 Juden aus der Provinz deportiert, was eine Welle an Protesten auslöste. Papst Pius XII., der amerikanische Präsident Roosevelt und der schwedische König schickten Protestnoten an den Regenten Horthy. Anfang Juli wurde Budapest von der US-Luftwaffe bombardiert. Vor diesem Hintergrund ordnete Horthy am 6. Juli einen Deportationsstopp an. Bis dahin war die jüdische Bevölkerung aus der ungarischen Provinz verschwunden. Übrig blieb die jüdische Gemeinschaft der Hauptstadt Budapest.
Im Laufe des Sommers zeichneten sich zwei widersprüchliche Entwicklungen ab: Zum einen mussten die jüdischen Bürger der Hauptstadt sowie die Gebäude, in denen sie zu leben gezwungen waren, den gelben Stern tragen. Zum anderen wurden allzu deutschfreundliche Regierungsmitglieder entlassen.
Die dritte Phase begann mit dem 15. Oktober 1944. Nach der Ankündigung des Regenten Horthy, Ungarn werde sich aus dem Krieg gegen die Alliierten zurückziehen, wurde er gezwungen, die Macht an Ferenc Szálasi abzutreten, den Anführer der Nyilas, der nazistischen ungarischen Pfeilkreuzler-Partei. Der neue Innenminister gab auf der Stelle bekannt, die Regierung werde die von den neutralen Staaten ausgestellten und verteilten Schutzdokumente – wie wir noch sehen werden – nicht mehr anerkennen. In der Hoffnung, von diesen anerkannt zu werden, gab das neue Regime dem Druck jedoch schliesslich nach, und die Massnahme wurde nicht umgesetzt.
Diese letzte Phase kann durch drei Hauptmerkmale charakterisiert werden. Zunächst war diese Zeit von Chaos, Unsicherheit und – vor allem – von Gewalt geprägt. Nyilas-Banden nahmen unaufhörlich Razzien und Übergriffe gegen Juden vor, die bis hin zu Exekutionen am Ufer der Donau reichten, bei denen die Leichen direkt ins Wasser geworfen wurden. Diese Angriffe machten auch vor den Diplomaten neutraler Länder nicht halt: Die schwedische Vertretung wurde am 24. Dezember angegriffen, der Leiter der Schweizer Vertretung am 29. Dezember entführt und gefoltert. Die Zahl der jüdischen Todesopfer durch die Nyilas wird auf über 60 000 geschätzt.24 Im November wurden Zehntausende von Juden gezwungen, zur österreichischen Grenze zu marschieren. Während dieser «Todesmärsche» versuchten Vertreter der neutralen Länder und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), den Deportierten Schutzdokumente zu überbringen.
Ausserdem wurden im November im Bezirk Pest zwei grosse Ghettos eingerichtet. Das «Internationale Ghetto» umfasste rund um die Pozsonyi-Strasse 122 Häuser, die unter dem Schutz neutraler Länder standen. Es waren moderne Wohnhäuser von vier bis sechs Stockwerken, in denen sich über 20 000 Juden befanden, Inhaber von durch neutrale Länder ausgestellten oder gefälschten Schutzdokumenten. Die meisten Häuser (76 insgesamt) standen unter schweizerischer Verantwortung, die anderen verteilten sich auf Schweden (33), Spanien, Portugal, das IKRK und das schwedische Rote Kreuz. Das sogenannte «Zentrale» oder «Grosse Ghetto» wurde neben der grossen Synagoge eingerichtet. Darin waren über 60 000 Juden eingeschlossen, darunter mehrere tausend, die durch die Nyilas gewaltsam aus dem «Internationalen Ghetto» geholt worden waren.
Und zu guter Letzt waren sich alle bewusst, dass das Vorrücken der Roten Armee und damit die Befreiung von Budapest unvermeidlich waren. General Malinovsky, der Ende Oktober ungarisches Gebiet betreten hatte, rechnete mit der Befreiung von Budapest Anfang November.25 Der erbitterte Widerstand der deutschen und ungarischen Truppen hatte jedoch zur Folge, dass Budapest erst an Weihnachten vollständig eingekesselt werden konnte. Die Befreiung von Pest am linken Donauufer erfolgte am 18. Januar, die von Buda auf der anderen Seite einen Monat später. Insgesamt forderte die Belagerung von Budapest um die 160 000 Menschenleben.
Die neutralen Staaten in Budapest26
Die diplomatischen Vertretungen der neutralen Staaten spielten gemeinsam mit den jüdischen Organisationen eine zentrale Rolle bei den Rettungsbemühungen für die Juden von Budapest. Manche jüdischen Oberhäupter führten mit den Nazis Verhandlungen, die insbesondere die Ausreise von nahezu 1700 Juden in die Schweiz ermöglichten.27 Namentlich stehen hier die fünf neutralen Staaten, die über eine diplomatische Vertretung in Budapest verfügten, im Zentrum des Interesses: der Heilige Stuhl, Spanien, Portugal, Schweden und die Schweiz.28
Die Neutralen haben für gewisse Juden Schutzdokumente ausgestellt oder ausstellen lassen. Die ungarischen Behörden hatten nur eine begrenzte Anzahl dieser Dokumente zugelassen. Es wurden Dokumente gefälscht, andere verkauft. Die genaue Anzahl dieser von den neutralen Staaten ausgestellten Schutzbriefe zu eruieren, ist nicht möglich, erst recht nicht, da die Zahlen je nach Quelle voneinander abweichen. Wir müssen uns mit ungefähren Grössenordnungen begnügen. Es muss dabei betont werden, dass diese Dokumente zwar einen gewissen Schutz, aber auf keinen Fall absolute Sicherheit boten, besonders nach der Machtergreifung der Nyilas am 15. Oktober.
Der Apostolische Nuntius Angelo Rotta (1872–1965) spielte eine wichtige Rolle bei der Koordination der Bemühungen durch die Neutralen. Am 21. August wurde ein erster gemeinsamer Protest zu einer geplanten Judendeportation eingelegt. In einer zweiten Protestbotschaft, verfasst anlässlich eines Treffens beim Nuntius am 15. November 1944, wurde der sofortige Stopp der Judenverfolgungen verlangt. Während die neutralen Staaten ihre Koordination allgemein intensivierten, waren es gegen Ende vorwiegend die Schweizer und die Schweden, die sich mobilisierten, manchmal in Begleitung von Vertretern der Nuntiatur und des IKRK.
Die Nuntiatur stellte ebenfalls Schutzdokumente aus. Ihr wurden ungefähr 2500 bewilligt, hauptsächlich für zum Christentum konvertierte Juden, sie gab jedoch mindestens sechsmal so viele aus. Ungarn war das einzige Land, in dem Papst Pius XII. öffentlich für die Rettung verfolgter Juden intervenierte und in dem der Nuntius mit den anderen Diplomaten zusammenarbeitete.29 Rotta wurde 1997 posthum als «Gerechter unter den Völkern» geehrt.
Die spanische Gesandtschaft wurde seit dem Sommer 1944 vom Geschäftsträger Ángel Sanz Briz (1910–1980) geleitet. Im Juli erhielt er die Anweisung, 500 Kindern die Emigration nach Tanger zu erlauben, das damals von Spanien besetzt war, darunter 200 aus Budapest. Er liess für diese 200 Kinder Schutzdokumente ausstellen. Nach dem Krieg berichtete er, er habe jedes dieser Kinder in administrativer Hinsicht als eine Familie behandelt und so die Schutzdokumente vervielfachen können. Anfang Dezember gab Spanien den Forderungen der Nyilas nach und versetzte seinen Geschäftsträger unter dem Vorwand der herannahenden Roten Armee von der ungarischen Hauptstadt nach Sopron an der österreichischen Grenze. Ein Italiener, Giorgio Perlasca (1910–1992), löste ihn ab und unterzeichnete die spanischen Schutzdokumente. Wie der Schwede Raoul Wallenberg und die Schweizer Peter Zürcher und Ernst Vonrufs blieb dieser bis zur Befreiung von Pest, des Stadtteils, in dem sich die jüdischen Ghettos befanden, in dieser Weise aktiv. Sanz Briz wurde 1966, Perlasca 1988 mit dem Titel «Gerechter unter den Völkern» geehrt.
Die portugiesische Gesandtschaft von Budapest war ermächtigt, provisorische Pässe an Juden mit Verbindungen zu Portugal oder Brasilien auszustellen – Länder, deren Interessen Lissabon in Deutschland vertrat. Sie stellte um die 800 Pässe aus. Es gab viele Wechsel an der Spitze der Gesandtschaft: Minister Carlos Sampaio Garrido (1883–1960) musste Budapest verlassen, nachdem er in seiner Residenz mit Juden zusammen verhaftet worden war. Er wurde bis Ende Oktober durch den Geschäftsträger Alberto Teixera Branquinho (1902–1973) ersetzt, dieser bis Anfang Dezember durch einen Konsul. Sampaio Garrido wurde 2010 der Titel «Gerechter unter den Völkern» zuerkannt.
Im Gegensatz zu Spanien und Portugal, die Ende 1944 in Budapest keine eigentlichen Vertretungen mehr hatten, befanden sich Schweden und die Schweiz in diplomatischer Hinsicht gegenüber den Budapester Behörden in einer besonderen Situation. Schweden vertrat die Interessen Ungarns in Washington, London und Berlin sowie die Interessen der Sowjetunion in der ungarischen Hauptstadt. Die Schweiz vertrat in Budapest die Interessen von rund zehn Staaten, welche die diplomatischen Beziehungen mit Ungarn abgebrochen hatten, darunter die Vereinigten Staaten und Grossbritannien. Diese Situation verlangte von beiden Ländern nicht nur ein Mindestmass an diplomatischer Präsenz, sondern ermöglichte ihnen auch, ihren Aktionsspielraum je nach Bedarf einzuschränken oder zu erweitern, um den verfolgten Juden zu helfen.
Die Zusammensetzung des schwedischen diplomatischen Personals war bemerkenswert konstant. Die Gesandtschaft mit Sitz im Bezirk Buda wurde von Minister Carl Danielsson (1880–1963) geleitet, bis dieser am 25. Dezember 1944 in der Residenz der Schweizer Gesandtschaft Zuflucht fand.30 Danielsson wurde wirksam unterstützt von Per Anger (1913–2002), später ausserdem von Lars Berg. Mitte Juni bat er um die Erlaubnis, Notpässe [emergency passports] für Juden mit Verbindungen zu Schweden auszustellen, die von der Deportation bedroht waren. Einen Monat später hatte er etwa 450 davon ausgegeben.31 Die Gesandtschaft verhandelte mit ungarischen und deutschen Behörden, um den Juden, die in Besitz eines Notpasses waren, die Emigration zu ermöglichen. Dies geschah parallel zu den Verhandlungen, die Lutz und die Schweizer über die Auswanderung von rund 7000 Juden nach Palästina führten, die aber schliesslich erfolglos waren.32
Am 9. Juli bekam die Gesandtschaft mit der Ankunft von Raoul Wallenberg (1912–?) Verstärkung. Dessen relativ vage gehaltenes Mandat war in Stockholm vom Aussenministerium in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Vertreter des War Refugee Board formuliert worden, der Anfang 1944 durch Roosevelt eingerichteten Agentur zur Hilfe für Juden. Wallenberg stand offiziell einer neuen Abteilung der Gesandtschaft vor (Sektion B) und mietete dafür eigene Lokale in Buda an. Sein Aufenthalt, ursprünglich für zwei Monate geplant, war in erster Linie dazu bestimmt, Stockholm über die Entwicklung der Lage der jüdischen Bevölkerung zu unterrichten.
Wallenberg setzte sich sehr rasch mit Lutz in Verbindung, um sich über die Schutzmassnahmen der Schweizer zu informieren. Er begann ebenfalls, Schutzdokumente auszustellen, die sogenannten Schutzpässe [protective passports]. Bis zum 10. September waren etwa 5000 ausgestellt worden, von denen 2000 verteilt waren.33 Er beklagte sich oft in Stockholm über fehlende finanzielle Mittel. Nach dem 15. Oktober intensivierte er seine Hilfsaktivitäten und verlegte die Büros nach Pest. Mehrere hundert Menschen, mehrheitlich Juden, arbeiteten für ihn. Er gab an, dass in seinen Büros 700 Leute lebten.34 Wallenberg erwies sich in den Wochen, die seiner Verhaftung durch die Sowjets am 17. Januar vorangingen, als ausgesprochen aktiv vor Ort in Pest. Er kann jedoch nicht als derjenige angesehen werden, der durch Vereitelung des geplanten Angriffs der Nyilas im Januar 1945 die 60 000 oder 70 000 Gefangenen des «Grossen Ghettos» rettete.35
Im Sommer 1944 trat in Budapest ein weiterer schwedischer Akteur in Erscheinung. Der ehemalige Journalist Waldemar Langlet, der in der ungarischen Hauptstadt lebte, drängte darauf, örtlicher Vertreter des schwedischen Roten Kreuzes zu werden. Als ihm dies im Juli gelang, hatte er bereits zwei Monate lang ohne Erlaubnis Schutzdokumente ausgestellt. Offiziell Danielsson unterstellt, führte er unabhängige Operationen durch, und die von ihm ausgestellten Schutzdokumente überstiegen die autorisierte Quote von 400 bei weitem. Carl Danielsson (1982), Per Anger (1980), Raoul Wallenberg (1963), Lars Berg (1982), Waldemar und Nina Langlet (1965) wurden mit dem Titel «Gerechte unter den Völkern» geehrt.