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Die Schweiz und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes
Vizekonsul Carl Lutz (1895–1975) leitete die Abteilung für fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft in Budapest ab Januar 1942.36 Geboren 1895 in der Ostschweiz, wanderte er 1913 in die Vereinigten Staaten aus, wo er seine zukünftige Frau, die Schweizerin Gertrud Fankhauser (1911–1995), kennenlernte. Lutz hatte für mehrere Schweizer Vertretungen gearbeitet, darunter für die Gesandtschaft in Washington. 1935 wurde er ans Schweizer Konsulat in Jaffa versetzt, wo ihm unter Konsul Jonas Kübler die Leitung des Kanzleramts übertragen wurde. Im September 1939 wurde Lutz mit der Schweizer Vertretung der deutschen Interessen in Palästina und Transjordanien betraut, insbesondere mit der Ausreise des deutschen diplomatischen und konsularischen Personals – eine Aufgabe, die nur von kurzer Dauer sein sollte, denn am 22. Oktober 1939 bestätigte Lutz, dass Spanien diese Aufgabe wahrnehmen werde.37 Ein Jahr später kehrte Lutz in die Schweiz zurück.
In Budapest war Lutz für die Wahrnehmung der Interessen von rund zehn Staaten zuständig. Da es dabei auch um den Schutz diplomatischer Gebäude ging, verlegte er sein Büro in das Gebäude der ehemaligen amerikanischen Gesandtschaft und machte den Sitz der ehemaligen britischen Gesandtschaft zu seiner Residenz. Ersteres befand sich am Freiheitsplatz (Szabadság tér) in Pest, letzterer in Buda. Von 1942 an stellten Lutz und seine etwa 20 Mitarbeitenden 300 bis 400 Schutzpässe für US-amerikanische und britische Staatsbürger aus, sowohl an Juden als auch an Nichtjuden, und verteilten anschliessend 1000 solcher Dokumente an jugoslawische Staatsbürger. Diese Dokumente inspirierten die Schweden zur Ausstellung von Schutzpässen für Juden mit schwedischen Verbindungen.38
Die Abteilung, auf deren Aktionen im nächsten Punkt näher eingegangen wird, vergrösserte sich kontinuierlich. Lutz führte sie bis Weihnachten 1944, als Budapest von der Roten Armee eingekesselt wurde und er in seiner Residenz in Buda von Pest, wo sich die bedrohten Juden befanden, abgeschnitten war. Er hatte für diesen Fall zwei Stellvertreter ernannt. Peter Zürcher (1914–1975) und Ernst Vonrufs (1906–1972), Schweizer, die früher in Budapest in der Textilindustrie tätig gewesen waren. Beide intervenierten bis zur Befreiung von Pest zugunsten der Juden.
Carl Lutz konnte stets auf die Unterstützung seiner wechselnden Vorgesetzten zählen. Die Schweizer Gesandtschaft selbst, von der Lutz’ Abteilung abhing, befand sich in einem anderen Stadtteil von Pest, in der Stefania-Strasse. Die Kanzlei der Gesandtschaft war Anfang Juli bombardiert und auf Initiative des Grafen Esterhazy in dessen Palast in Buda verlegt worden. Die Gesandtschaft stand seit 1938 unter der Leitung von Minister Maximilian Jaeger (1884–1958). Nach der Machtübernahme der Nyilas kehrte dieser jedoch aus Protest in die Schweiz zurück. Sein Nachfolger, Anton Kilchmann (1902–1961), bat aus gesundheitlichen Gründen um Rückkehr. Am 12. Dezember wurde der Berner Harald Feller (1913–2003) zum Leiter der Gesandtschaft ernannt; er versteckte in seiner Residenz etwa zehn Juden und musste vier Schweizerinnen jüdischer Herkunft, die nach ihrer Heirat mit Ungarn ihre Staatsbürgerschaft verloren hatten, evakuieren. Harald Feller wurde im Januar 1945 von den Sowjets verhaftet und in Moskau inhaftiert.
An dieser Stelle sollte kurz auf die Aktivität des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) eingegangen werden. Nach der deutschen Besetzung wurde die Delegation in Budapest von Friedrich Born (1903–1963) geleitet. Die Aktivitäten der bis zu 250 Personen zählenden Delegation erstreckten sich über drei Bereiche: materielle Hilfe, Heime und Krankenhäuser, insbesondere für Kinder, sowie das Ausstellen von Schutzbriefen.
Nach hartnäckigen Verhandlungen erlaubte die ungarische Regierung Born und seinen Mitarbeitenden, Lebensmittelpakete in die Konzentrationslager und Ghettos Kistarcsa und Sárvár zu liefern. Vor allem das Joint Distribution Committee, aber auch andere Hilfsorganisationen stellten die Mittel zum Kauf von Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten bereit, die dann verteilt werden mussten. Diese Aufgabe fiel insbesondere der «Sektion A» der im September 1944 geschaffenen IKRK-Delegation zu, deren Mandat darin bestand, verfolgte Juden zu schützen und zu unterstützen. Born ernannte Ottó Komoly, den Präsidenten der Ungarischen Zionistischen Organisation, den die Nyilas Anfang 1945 ermorden sollten, zu ihrem Leiter.
Friedrich Born widmete sich mit seinem Team ganz besonders der Rettung von Kindern, deren Eltern deportiert worden oder vermisst waren. Er konnte durchsetzen, dass die ungarischen Behörden den Institutionen, in denen diese Kinder Zuflucht fanden, extraterritorialen Status zuerkannten. Born erreichte die Zuerkennung dieses Status nicht nur für bestehende Einrichtungen, sondern auch für solche, die er und sein Team neu einrichteten. Insgesamt wurden mehr als 150 Institutionen (Heime, Krankenhäuser, Volksküchen, Lebensmittellager, Wohnungen für die mit der Delegation arbeitenden Juden) unter den Schutz des IKRK gestellt. 60 dieser Einrichtungen waren Kinderheime, die insgesamt 7000 Kinder beherbergten. Die geschützten Krankenhäuser wurden regelmässig von Nyilas-Banden angegriffen. Born intervenierte persönlich, um ihren extraterritorialen Status durchzusetzen, konnte aber das Massaker an 130 Menschen – Patienten wie Pflegepersonal – im Krankenhaus in der Városmajor-Strasse nicht verhindern.
Schliesslich stellte Born ab September 1944 ebenfalls Schutzbriefe des IKRK aus, laut seinem Tätigkeitsbericht insgesamt 30 000. Er verteilte sie an seine jüdischen Mitarbeitenden, aber auch an all jene, die irgendeine Verbindung zur IKRK-Delegation geltend machen konnten, und an Personen mit Auswanderungszertifikaten für Palästina.
Carl Lutz (1964), Gertrud Lutz-Fankhauser (1978), Friedrich Born (1987), Harald Feller (1999), Peter Zürcher (1998) und Ernst Vonrufs (2001) wurden mit dem Titel «Gerechte(r) unter den Völkern» geehrt. Yad Vashem ehrte noch drei weitere Schweizer Staatsangehörige für ihre Aktivitäten in Budapest, 1995 Schwester Hildegard Gutzwiller, die Mutter Oberin des Herz-Jesu-Klosters, das 250 Menschen Zuflucht geboten hatte; 2003 den Industriellen Otto Haggenmacher, der sich bereit erklärt hatte, etwa 30 jüdische Kinder in seiner Villa unterzubringen und ihren Unterhalt zu finanzieren; 2007 Eduard Benedikt Brunschweiler, einen Mitarbeiter des IKRK, der eine Abtei in der Nähe von Budapest leitete, in der er Kinder aufgenommen und ein Heim für sie eingerichtet hatte.
Die Rettungsaktivitäten von Carl Lutz und seinen Mitarbeitenden39
Die Aktionen von Carl Lutz und seinem Team weisen im Vergleich zu denen der anderen neutralen Länder zwei Besonderheiten auf, die mit der Vertretung der britischen Interessen in Palästina durch die Schweiz zu tun haben. Dies hatte zur Folge, dass auch eine jüdische Organisation – die jüdische Palästina-Agentur (Jewish Agency for Palestine) – nicht nur unter Schweizer Schutz gestellt wurde, sondern bald darauf ihre eigenen Räumlichkeiten erhielt – das Glashaus. Mit diesen beiden Faktoren lässt sich erklären, warum die Aktionen von Lutz und seinem Team sowohl früher einsetzten als andere als auch weitreichender waren.
Bereits im März 1942 wurde eine hochkomplexe Operation in Gang gesetzt, um in Ungarn lebenden jüdischen Kindern die Auswanderung nach Palästina zu ermöglichen. Die Hauptakteure waren die Jewish Agency in Jerusalem und ihr Budapester Büro, die britische Diplomatie (das Foreign and Commonwealth Office und seine Vertretungen in Palästina und der Schweiz) sowie die Schweizer Diplomatie (das Politische Departement 40 und seine Budapester Vertretung). Diese mussten die Listen für die Kinder erstellen und die erforderlichen Ausreise- oder Transitgeneh-migungen einholen. In Budapest führte die Operation zu einer engen, kontinuierlichen Zusammenarbeit zwischen Mosche Krausz, dem örtlichen Leiter der Jewish Agency, und Carl Lutz und ihren jeweiligen Mitarbeitenden. Laut Theo Tschuy konnten bis zum 19. März 1944 fast 10 000 Kinder, hauptsächlich ausländische, Budapest verlassen und in Palästina Zuflucht finden.
Hilfesuchende Juden und Jüdinnen vor der Auswanderungsabteilung der Schweizer Gesandtschaft im Glashaus. Carl Lutz hat dieses Foto im Herbst 1944 gemacht.
Die deutsche Besetzung Ungarns setzte dieser absolut legalen Auswanderung ein jähes Ende. Sie führte zu zwei konkreten Problemen. Erstens sahen Tausende Juden, die im Besitz eines Zertifikats zur Einwanderung nach Palästina waren (Palästina-Zertifikat), ihre Chancen auf ein Ausreisevisum zunichte gemacht. Zweitens waren Krausz und sein Team nun der direkten Bedrohung ausgesetzt. Anfang April gelang es Lutz, sie von der Zwangsarbeit zu befreien und in seinen Büros in der ehemaligen US-Gesandtschaft unterzubringen. Mit Unterstützung seines Vorgesetzten führte Lutz wochenlange Verhandlungen mit den Deutschen (erst mit Veesenmayer, später mit Eichmann) und den Ungarn, damit die Inhaber eines palästinensischen Zertifikats Ungarn verlassen konnten. Zwar wurde eine grundsätzliche Vereinbarung getroffen, es kam jedoch nie zu einer tatsächlichen Ausreise. So genehmigte der ungarische Ministerrat am 26. Mai die Auswanderung von 7000 Juden nach Palästina unter Schweizer Verantwortung und von mehreren hundert Juden nach Schweden.
Auf dieser Grundlage leitete Carl Lutz eine Reihe von Massnahmen ein und wandte auch verschiedene Strategeme an. Diese Prozesse liefen meist parallel nebeneinanderher, was insbesondere im Hinblick auf die Anzahl der betroffenen Personen zu manchmal widersprüchlichen Angaben führte.
Er bat um die Erlaubnis, Schutzbriefe an Personen auszustellen, denen die Auswanderung nach Palästina bewilligt worden war. Diese Dokumente bescheinigten, dass der Inhaber zur Einwanderung berechtigt war und dass sein Name in einem Kollektivpass enthalten war – ein juristischer Trick, auf den nochmals eingegangen werden soll. Sie waren mit dem Schweizer Wappen, dem Namen der Abteilung fremder Interessen sowie einem Stempel versehen. Es ist nicht möglich, das genaue Datum zu bestimmen, ab dem diese Dokumente erstellt und, was noch wichtiger ist, verteilt wurden. Zwei Dinge sind sicher. Erstens löste die Machtergreifung der Nyilas eine fieberhafte Produktion dieser Dokumente aus. Zweitens begannen Fälschungen in grosser Zahl in Umlauf zu gelangen, von denen einige recht ungeschickt ausgeführt waren und typographische Fehler aufwiesen. Mit der Anzahl der Fälschungen bzw. der Herstellung von Briefen, die keinem palästinensischen Zertifikat entsprachen, stieg das Risiko, dass die Ungarn und die Deutschen die gesamte Operation in Frage stellen würden. Im November wurden Carl und Gertrud Lutz gezwungen, in einer Ziegelfabrik in Óbuda die Inhaber gefälschter Dokumente zu identifizieren, unter Androhung, dass sonst alle Inhaber von Schweizer Schutzdokumenten zu Zwangsmärschen verurteilt würden.
Wie bei den von anderen neutralen Ländern ausgestellten Dokumenten kann die Gesamtzahl der Schweizer Schutzbriefe nicht ermittelt werden. Die Zahlen von über 100 000, die in Umlauf waren, erscheinen nicht sehr glaubwürdig, doch man kann realistischerweise von mehreren Zehntausend ausgehen. Sicher ist auf jeden Fall, dass Lutz die Herstellung von Schutzbriefen, die nicht durch Palästina-Zertifikate gedeckt waren, gestattet hatte. Da die Schutzbriefe nummeriert waren, musste darauf geachtet werden, dass die erlaubte Quote nie überschritten wurde, wobei natürlich mehrere Dokumente die gleiche Nummer bekamen.
Ab Sommer 1944 begann Lutz, die Quote der Personen (etwa 7000), für die er die Auswanderungsgenehmigung beantragt und die prinzipielle Zustimmung der ungarischen und deutschen Behörden erhalten hatte, so auszulegen, dass sie sich nicht auf Einzelpersonen, sondern auf Familien bezog. Später bestätigte er, dass er auf dieser Grundlage die Ausstellung von 50 000 Schutzbriefen genehmigt hatte.
Der Text der Schutzbriefe nahm Bezug auf sogenannte Kollektivpässe. Diese Pässe sollten die Ausreise und anschliessend den Transit durch Rumänien für Inhaber von Palästina-Zertifikaten administrativ erleichtern. Sie enthielten Namen und Fotos der betroffenen Personen. Die Herstellung wurde jungen Juden anvertraut, die unter diplomatischem Schutz der Schweiz standen. Die ersten Pässe wurden Ende Juli fertiggestellt. Natürlich war die Zahl der in den Pässen eingetragenen Personen viel geringer als die Zahl der Inhaber von Schutzbriefen.
Im Juli gelang es Lutz, von den Ungarn die Bewilligung zu erhalten, dass sich Inhaber von Schutzbriefen in speziellen Gebäuden, sogenannten Schutzhäusern, mit diplomatischer Immunität aufhalten konnten. Diese bildeten zusammen mit den Häusern, die später anderen neutralen Ländern und dem IKRK gewährt wurden, den Kern des «Internationalen Ghettos». Am 10. November ordnete der Aussenminister des neuen Regimes an, dass alle Inhaber von Schutzdokumenten in diesem Ghetto konzentriert werden mussten. Insgesamt verfügte die Schweiz über 76 der insgesamt 122 von den neutralen Staaten geschützten Häusern, die rund 15 000 Menschen Unterschlupf boten. Der diplomatische Schutz dieser Häuser wurde wiederholt verletzt oder bedroht. Lutz oder seine Stellvertreter mussten immer wieder eingreifen. Die Verpflegung wurde vorwiegend von jungen jüdischen Pionieren (Chaluzim) gewährleistet, wobei oft auch Gertrud Lutz mit Hand anlegte.
Die oben beschriebenen Massnahmen waren ausgehend von der bereits ab 1942 organisierten – legalen – Auswanderung jüdischer Kinder nach Palästina im Rahmen der britischen Interessenvertretung der Schweiz entwickelt worden. Die von Lutz und seinem Team durchgeführten Aktionen hatten, wie bereits erwähnt, noch eine zweite Besonderheit: Die Büros und Mitarbeitenden der Jewish Agency for Palestine standen unter Schweizer Schutz. So konnten Krausz und seine rund 30 Mitarbeiter unter Lutz’ Verantwortung in den von ihm genutzten Räumlichkeiten im Gebäude der ehemaligen amerikanischen Gesandtschaft arbeiten. Die zunehmend grösseren Menschenmassen auf dem Szabadság tér (Freiheitsplatz), die auf der Suche nach Schutzdokumenten waren, brachten das Risiko von Repressalien – von deutscher und ungarischer Seite – für ein Gebäude mit sich, zu dessen Schutz sich die Schweiz verpflichtet hatte. Es musste eine Alternativlösung gefunden werden für das Büro, das bald als Auswanderungsabteilung bezeichnet werden sollte.
Diese Lösung bestand im sogenannten «Glashaus», dem leerstehenden Geschäftsgebäude einer Glasfabrik in der nahe gelegenen Vadász-Gasse 29, das Arthur Weiss gehörte. Lutz bot ihm an, in der Auswanderungsabteilung zu arbeiten und diese ins Glashaus zu verlegen, womit es zu einem Nebengebäude der schweizerischen Gesandtschaft erklärt und unter diplomatische Immunität gestellt werden konnte. Weiss war einverstanden, und die Ungarn gaben grünes Licht. So zog das Auswanderungsamt am 24. Juli ins Glashaus um.
Ab dem 15. Oktober wurden in dem dreistöckigen Gebäude mit Innenhof nicht nur Schutzbriefe zu Tausenden ausgestellt, es wurde auch zum Zufluchtsort für die Verfolgten. Ende des Monats drängten sich darin bereits 800 Menschen. Lutz mietete ein angrenzendes Gebäude und ein drittes im gleichen Bezirk dazu. Insgesamt fanden dort mehr als 4000 Menschen Schutz. Das Glashaus wurde wiederholt von Nyilas-Banden bedroht oder angegriffen. Am Silvesterabend 1944 verlor Arthur Weiss bei einem solchen Überfall das Leben.
Die gefährlichste Zeit waren für die Budapester Juden, die vor allem in Pest im «Zentralen Ghetto», im «Internationalen Ghetto» oder im Glashaus und in seinen Nebengebäuden zusammengedrängt waren, zweifellos die Wochen unmittelbar vor der Befreiung durch die Rote Armee. Seit Weihnachten standen jedoch an vorderster Front Peter Zürcher und Ernst Vonrufs, die Lutz zu seinen Vertretern in Pest ernannt hatte – während er selbst im Gebäude der ehemaligen britischen Gesandtschaft eingeschlossen war, dessen Schutz er zu gewährleisten hatte.
Schweizer Kollektivpässe 1 und 2, Juli 1944
Nach dem Krieg
Dieser Abschnitt beschränkt sich auf zwei oft diskutierte Fragen zu Lutz: Ist Carl Lutz Gegenstand einer disziplinarischen Untersuchung geworden? Wie viele Menschen hat er gerettet?
1945 ordnete das Eidgenössische Politische Departement (EPD) eine Untersuchung über die Tätigkeit des Personals der Schweizer Gesandtschaft in Budapest an. Auch Carl Lutz wurde in diesem Zusammenhang befragt. Der Gegenstand der Untersuchung hatte jedoch nichts mit seinen Aktivitäten zum Schutz der Juden zu tun. Das EPD wollte die Motive rekonstruieren, die die Sowjets dazu veranlasst hatten, den Leiter der diplomatischen Vertretung, Harald Feller, und einen seiner Kollegen gefangen zu nehmen, und zwar in äusserst heiklem Kontext: Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren seit 1918 abgebrochen. Schliesslich wurde Harald Feller im Frühjahr 1946 repatriiert. Carl Lutz stand nie im Zentrum einer Untersuchung und wurde nie bestraft.
Interessiert man sich für die Zahl der von Lutz geretteten Menschen, so wird oft von 62 000 gesprochen. Tatsächlich stammt diese Zahl aus einem Brief des ehemaligen Präsidenten der Ungarischen Zionistischen Organisation, Michael Salamon, an Carl Lutz.41 Salamon kommt zu dieser Gesamtzahl, indem er fünf Kategorien von Menschen addiert, die von Lutz und seinem Team gerettet wurden – darunter die im Internationalen Ghetto und die im Glashaus. Dabei wurden einige zwei oder mehrmals gezählt.
Vor allem Randolph Braham und Paul Levine haben einige interessante Fragen über die «Rettung der Juden von Budapest» aufgeworfen.42 Sie stellten insbesondere fest, dass die Summe aller (von neutralen Ländern und anderen) angegebenen geretteten Juden von Budapest die tatsächliche Zahl der Überlebenden deutlich übersteigt. Wir halten es für unmöglich, die Anzahl der von Lutz, Wallenberg und anderen geretteten Menschen genau zu bestimmen. Hingegen scheint – wie es auch der Historiker Yehuda Bauer aufgezeigt hat 43 – gesichert, dass die kollektiven Anstrengungen des schweizerischen diplomatischen Schutzes sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Zahl der geretteten Personen Massstäbe setzten.
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Erinnerungen aus der Widerstandsbewegung
Rafi Benshalom
Tamar und Rafi Benshalom, Kibbuz Ha’ogen, Israel 1994
Kibbuz Ha’ogen, Israel
«Wir durften den Henkern keine helfende Hand reichen»
Richard Friedl (später Rafi Benshalom) wurde im Januar 1944 gemeinsam mit Mosche Alpan (Pil) aus Nové Město (Tschechoslowakei) nach Budapest entsandt, um die von der Haschomer Hazair-Bewegung organisierten Rettungsaktionen für Flüchtlinge zu überwachen. Im Frühling 1944 trat Richard Friedl mit der Bitte an Carl Lutz heran, auf Basis eines Ausweises, der auf den Namen «János Sampiás» ausgestellt war, seine amerikanische Staatsbürgerschaft zu bestätigen. Als Friedl Lutz später gestand, dass er nicht János Sampiás war, versicherte dieser ihm, dass er ihn weiterhin schützen werde.44
Der 19. März war ein Sonntag. Wie in einem Albtraum beobachtete ich [in Budapest] dasselbe schreckliche Schauspiel, das sich genau fünf Jahre zuvor auf den Strassen von Prag abgespielt hatte. Die endlosen Kolonnen grauer Panzer, die Motorräder, die militärisch getarnten Fahrzeuge, alles bewegte sich stumm mit der Präzision eines Uhrwerks vorwärts, Angst und Schrecken über der schneebedeckten Stadt verbreitend. Was wir so sehr gefürchtet und wovor wir so oft gewarnt hatten, war eingetroffen. Spontan trafen wir uns alle im Hauptquartier der Bewegung. Von dort machten wir uns auf den Weg zu den Büros des jüdischen Nationalfonds, da wir wussten, dass sich dort die gesamte zionistische Führung versammeln würde. Und tatsächlich, da sassen sie alle. Alle diese Herren, die sich stets so sicher gewesen waren – und sich ihre eigenen Stürme im Wasserglas zusammenbrauten –, warteten nun darauf, dass ihnen jemand Mut zusprach und Vorschläge für das weitere Vorgehen machte. Und zum ersten Mal waren diese erfahrenen Männer, die mehr Respekt einforderten, als ihnen zustand, in ihrer Autorität ratlos und baten uns um Hilfe. Jetzt erinnerten sie sich an unsere Warnungen und wollten wissen, wie es sich genau verhielt und was wir vorschlugen. Wir sahen einander an – Leon Blatt aus Polen, Ivo Davidovitch aus Jugoslawien, Eli Sajó und ich aus der Slowakei – und konnten uns ein bitteres Lächeln nicht verkneifen. Wir vier waren uns einig: Diese Zionisten durften für das, was nun bevorstand, nicht die Verantwortung übernehmen, sie durften die Führungsposition nicht einnehmen, denn das, was jetzt drohte, war die absolute Vernichtung, und wir durften den Henkern keine helfende Hand reichen. Es war unumgänglich, dass wir uns in den Schatten zurückzogen, die Dinge von dort aus lenkten und ruhig und ohne Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, taten, was in unserer Macht stand.
Es sollte allerdings eingestanden werden, dass auch unsere Bewegung auf diesen plötzlichen Umschlag nicht vorbereitet war, so sehr sie auch mit ihm gerechnet hatte. Unsere erste Aufgabe bestand darin, für alle Mitglieder der Bewegung christliche Dokumente zu beschaffen. Das schien kein einfaches Unterfangen. In den ersten Tagen herrschte ein Gefühl der Hilflosigkeit. Bisher waren die Juden in Ungarn gesetzestreue Staatsbürger gewesen. Auch wir waren es gewohnt, uns in den «Kens» der Bewegung [Hebräisch für «Vogelnester»: Versammlungsorte, an denen die Aktivitäten der Bewegung stattfanden] und in verschiedenen zionistischen Büros zu treffen. Von nun an beschlossen wir, um alle diese Orte einen weiten Bogen zu machen. Die gesamte Bewegung musste dezentralisiert werden und wieder auf die Strasse zurückkehren. Das war natürlich keine leichte Sache, und auf der Strasse bestand ständig die Gefahr, überfallen zu werden. Wir suchten verschiedene Plätze der Stadt auf und hielten nach Menschen Ausschau, die jüdisch aussahen. Ausserdem war die Stadt zu einer betäubten Festung geworden. Die jüngsten Ereignisse wurden mehrere Tage lang nicht publik gemacht. Wir hatten keine Ahnung, was aus Horthy geworden war und welches Schicksal dem Land beschieden sein würde. Die Macht lag in den Händen der Gestapo. Führende Liberale waren gleich am ersten Tag verhaftet worden, darunter viele bekannte Juden – nach Listen.
Am 21. März wurden Vertreter der jüdischen Gemeinde zu einem Treffen einberufen, bei dem ihnen freundlich mitgeteilt wurde, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, es werde ihnen kein Schaden zugefügt. Sie sollten in Ruhe ihren Geschäften nachgehen. Zwar müssten die Juden einen Teil ihrer überschüssigen Energie eindämmen, aber niemand habe um sein Leben zu fürchten. Es war der Zeitpunkt, da der «Judenrat» oder «Jüdische Rat» ernannt wurde. Die weisen Budapester Juden fielen auf den primitiven Taschenspielertrick der Gestapo herein, und der Optimismus war gross. Bis dahin waren bereits mehrere Juden im wieder eingerichteten Konzentrationslager Kistarcsa verschwunden. Der Judenrat war darauf nicht vorbereitet und der neuen Situation hilflos ausgeliefert. Angesichts des Leids und der Unfähigkeit, dem jüdischen Normalbürger Antworten zu geben, beschlossen die Zionisten, im Ratsgebäude in der Síp-Gasse 12 eine Informationsstelle einzurichten. Die meisten altgedienten Zionisten arbeiteten in diesem Gebäude, aber es war eine Sisyphusarbeit. Also sind wir aktiv geworden. Zum Glück hatten wir nach langer Wartezeit gerade ein Kopiergerät [einen Schapirographen] aus der Slowakei erhalten. Da unsere slowakischen Freunde uns zusammen mit dem Schapirographen alle notwendigen Tintenarten geschickt hatten, waren wir in der Lage, alles herzustellen, was wir wollten [in verschiedenen Privatwohnungen und in einer Werkstatt in der Izabella-Gasse]. Es war eine gefährliche Angelegenheit, in irgendeiner Wohnung an der Herstellung von gefälschten Dokumenten beteiligt zu sein, vor allem in der Zeit, da Hausdurchsuchungen an der Tagesordnung standen. Damals bestand die Bewegung in Budapest aus fast 500 Mitgliedern. In der Anfangszeit mussten wir jeden Tag jedes einzelne Mitglied treffen, nur um sicherzugehen, dass niemand verhaftet worden war, aber den Leuten war auch sehr daran gelegen, uns ihre kleinsten Probleme mitzuteilen. Ich war für die Verbindung mit [Rezső] Kasztner und seinen Männern im Judenrat verantwortlich. Wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht an meinen Tagesablauf erinnern. Ich weiss nur, dass ich sehr spät nachts nach Hause kam, meine Nerven blank lagen und mir quälende Gedanken im Kopf herumgingen, sodass es mir unmöglich war, mehr als drei oder vier Stunden am Stück zu schlafen.
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Schweizer Kollektivpass 1 (S. 34), Juli 1944
[Im Juli 1944] hatte uns die Schweizer Gesandtschaft die Möglichkeit gegeben, [im Glashaus in der Vadász-Gasse] halblegale «Sprechstunden» abzuhalten. Wir konnten hier Leute empfangen und in Ruhe ihre Probleme besprechen, ohne die Angst, von jemandem belauscht zu werden; was nicht so schlecht war, wenn in der Zwischenzeit andere warteten. Endlich hatten wir einen Ort gefunden – und das war vielleicht das Wichtigste dabei –, wo wir uns jederzeit aufhalten konnten. Hier konnte jeder, der wollte, vorbeikommen und uns darüber informieren, dass er oder sie noch am Leben war. Hier konnte jeder, der es brauchte, vorbeikommen und Ersatz für eine fehlende Meldebescheinigung oder die Geburtsurkunde seiner Grossmutter in Auftrag geben – wenn diese plötzlich benötigt wurden. Freunde, die aus Arbeitslagern geflohen waren, konnten uns hier finden.
Immer häufiger tauchten Detektive vor dem Glashaus auf. Wir wurden verfolgt, nicht zu auffällig, aber eindeutig. Um sicherzugehen, nahm ich im Gebäude und wenn ich ans Telefon gerufen wurde, den Namen Dr. Rafai anstelle von Rafi an. Viel gefährlicher als die Detektive war jedoch ein Haufen jüdischer Spitzel, angeführt von einem polnischen Juden namens Steiner, der auch Leute erpresste. Zu Beginn hielt er sich im Glashaus auf, später, als er keinen Zutritt mehr hatte, ging er stundenlang vor dem Gebäude auf und ab. Überraschenderweise waren wir Mitglieder vom Haschomer Hazair die Einzigen, die der Bande nicht zum Opfer fielen, vielleicht respektierten sie unsere Stärke. Eine ständige derartige Bedrohung war jedoch nicht besonders angenehm. Um die Situation ein wenig zu entschärfen, gründeten wir – wenn auch mit grosser Verspätung – innerhalb der Auswanderungsabteilung eine Abteilung für die Auswanderung Jugendlicher. So ist es uns wenigstens gelungen, einen Raum für die Organisation Hechaluz zu bekommen. Dies gab unserer Arbeit eine Art Rahmen, den wir selbst mit der Zeit für notwendig erachteten, vor allem im Hinblick auf die bereits erwähnten Detektive und Informanten. Wir versprachen [Mosche] Krausz, dass wir uns nicht mit gefälschten Papieren und der Verteilung von Geld abgeben würden, ein Versprechen, das wir keine Sekunde lang einzuhalten gedachten.
Tag für Tag tauchten Tausende arme Seelen im Glashaus auf. Plötzlich sah sich das Konsulat mit unvorhergesehenen strategischen Problemen konfrontiert. Hinzu kam die moralische Frage: Die Behörden hatten den Schweizern eine Quote von 7800 Schutzbriefen zugesagt, eine Zahl, die angesichts einer solchen Katastrophe nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein war. Wir, die Jugendbewegungen, forderten die Ausstellung von Schutzbriefen in unbegrenzter Zahl. Die sowjetische Armee stand vor Szolnok, und wir befanden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit. Unsere Forderung wurde nicht akzeptiert und, so gut es ging, sabotiert. Dessen ungeachtet begannen wir mit der Herstellung von gefälschten Schutzbriefen. Das Konsulat hatte längst das gesamte Kontingent ausgeschöpft, aber als es 10 000 zusätzliche Formulare bestellte, bestellten wir [mit Carl Lutz’ Einwilligung] schnell dieselbe Anzahl.Später bestellten wir elf weitere Sätze dieser Dokumente, insgesamt 120 000 «Briefe», die die zionistische Jugendbewegung an Juden in ganz Budapest verteilte.
Unter einem Schild, das den Namen des Internationalen Roten Kreuzes trug, eröffneten wir ein Büro, von dem aus wir die Schutzbriefe des Schweizer Konsulats ausstellten. Natürlich hatten wir auch unsere eigenen Stempel. Noch pikanter war, dass das Büro in der Perczel-Mór-Gasse sich gegenüber der eigentlichen Schweizer Gesandtschaft befand. Die ganze List wurde vor der Nase des echten Schweizer Konsuls abgewickelt.45
In dieser Phase spielte das Komitee des Internationalen Roten Kreuzes eine entscheidende Rolle. Wir hatten schon vor dem 15. Oktober mit der Planung mehrerer Jugendheime begonnen, die später als Grundlage für die Auswanderung dieser jungen Menschen nach Palästina (Erez Israel) dienen sollten. Nun war es unsere Aufgabe, eine grosse Zahl improvisierter Jugendheime zu errichten, um die Kinder zumindest vor der Deportation zu retten. Innerhalb kurzer Zeit wurden in diesen Häusern mehr als 5000 Kinder untergebracht [von Mitgliedern der Haschomer Hazair-Bewegung als «Beit Jeladim» bezeichnet], zusammen mit 1000 Mitarbeitern, was ein riesiges Operationssystem erforderte. Das Internationale Rote Kreuz war inzwischen zu einer wichtigen Institution geworden, und die Anfänge waren vielversprechend. Als das Führungsteam in die Baross-Gasse 52 verlegt wurde, zog auch ich zum Internationalen Roten Kreuz und richtete dort die «Politische Abteilung» ein. Die Abteilung wurde damit betraut, Verbindungen zu den Untergrundbewegungen herzustellen und Informationen politischer Ausrichtung zu sammeln, die an die entsprechenden jüdischen Organisationen weitergegeben werden konnten. Nach aussen wurde das Ganze als Forschungsabteilung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes mit Sitz in Genf dargestellt, die Listen mit vermissten Verwandten in Ungarn erstellte.