Dr. Jekyll und Mr. Hyde

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Robert Louis Stevenson

Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Inhaltsverzeichnis

Über den Autoren:

Die Tür

Nachforschung nach Hyde

Dr. Jekylls Gemütsruhe

Der Mord

Der Brief

Eine merkwürdige Mitteilung von Dr. Lanyon

Am Fenster

Die letzte Nacht

Dr. Lanyons Bericht

Henry Jekylls vollständiger Bericht über den Fall

Impressum

Über den Autoren:

Robert Louis Balfour Stevenson war ein schottischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters. Obwohl er an Tuberkulose erkrankt war und nur 44 Jahre alt wurde, hinterließ er ein umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen, aber auch Lyrik und Essays.

Die Tür

Rechtsanwalt Utterson war ein Mann mit bärbeißigem Gesicht, das niemals von einem Lächeln erhellt wurde; kalt, wortkarg und verlegen im Gespräch; schwerfällig in seinen Gefühlen; hager, lang, ein verstaubter, trauriger Mensch, und dabei doch in gewisser Weise liebenswürdig. Bei freundschaftlichen Zusammenkünften und wenn der Wein nach seinem Geschmack war, strahlte etwas eminent Menschliches aus seinen Augen – etwas Menschliches, das sich allerdings niemals in seinen Worten zeigte, sich aber nicht nur in diesen stummen Symbolen eines Nachtischgesichtes aussprach, sondern häufiger und laut und deutlich in den Handlungen seines Lebens. Er war strenge gegen sich selbst; trank, wenn er allein war, Gin, um einen Geschmack für edle Weine zu bekämpfen; und obwohl er das Theater liebte, war er seit zwanzig Jahren nicht über die Schwelle eines solchen gekommen. Aber ihm war eine erprobte Duldsamkeit anderen Menschen gegenüber eigen; manchmal erstaunte er, beinahe mit einer Art von Neid, über den hochgespannten Geisteszustand, der sich in ihren Missetaten aussprach; und in jeder gefährlichen Lage, in die solche Menschen gerieten, war er mehr geneigt, ihnen zu helfen, als sie zu verdammen.

»Ich neige zu Kains Ketzereien,« lautete ein barockes Wort von ihm, das er gelegentlich zu gebrauchen pflegte: »Ich lasse meinen Bruder auf seine eigene Art und Weise zum Teufel gehen.«

Bei solcher Charakteranlage war es ihm häufig beschieden, daß er der letzte in Achtung stehende Bekannte von Menschen war, mit denen es bergab ging, und daß er den letzten guten Einfluß auf solche Menschen ausübte. Und solange sie in seinem Hause verkehrten, zeigte er in seinem Benehmen gegen sie niemals eine Spur von einer Änderung.

Ohne Zweifel fiel ein solches Verhalten Herrn Utterson nicht schwer; denn er war sicherlich ein kühler Mensch, und sogar seine Freundschaften schienen auf einer ähnlichen gutmütigen Gleichgültigkeit zu beruhen. Es ist das Kennzeichnen eines bescheidenen Menschen, wenn er seinen Freundeskreis fix und fertig aus den Händen der Gelegenheit entgegennimmt; und dies war bei dem Rechtsanwalt der Fall. Seine Freunde waren entweder Blutsverwandte oder die Menschen, die er am längsten gekannt hatte; seine Zuneigungen wuchsen wie Efeu mit der Zeit, sie bedeuteten nicht, daß der Gegenstand besonders geeignet war. So war auch ohne Zweifel die Freundschaft zu erklären, die ihn mit einem entfernten Verwandten, dem allgemein bekannten Lebemann Richard Enfield, verband. Es war für viele Leute eine harte Nuß zu knacken, was diese beiden miteinander verbinden könnte, oder welche Interessen sie gemeinsam haben könnten. Von Leuten, die ihnen auf ihren Sonntagsspaziergängen begegnet waren, wurde berichtet, daß sie nicht sprächen, außerordentlich gelangweilt aussähen und mit sichtlicher Erleichterung das Erscheinen eines Freundes begrüßten. Trotz alledem legten die beiden Herren den größten Wert auf diese Spaziergänge, schätzten sie als das größte Kleinod jeder Woche und lehnten ihretwegen nicht nur gesellige Vergnügungen ab, sondern setzten sogar geschäftliche Verpflichtungen hintenan, um den ununterbrochenen Genuß eines solchen Beisammenseins zu haben. Bei einer dieser Streifereien geschah es, daß ihr Weg sie durch eine Nebenstraße in einem verkehrsreichen Londoner Viertel führte. Die Straße war klein und, wie man das nennt, ruhig; aber an den Wochentagen herrschte in ihr ein lebhafter Geschäftsverkehr. Die Anwohner waren dem Anschein nach alle wohlhabend und alle von eifriger Hoffnung erfüllt, es zu noch größerem Wohlstand zu bringen, und benutzten den Überschuß ihrer Gewinne zu koketten Ausschmückungen ihrer Geschäfte, so daß die Schaufenster in dieser Straße etwas Einladendes hatten, wie eine Reihe lächelnder Verkäuferinnen. Sogar Sonntags, wenn die Straße ihre sonst schmucker blühenden Reize verhüllte und verhältnismäßig menschenleer dalag, stach sie von ihrer schäbigen Nachbarschaft ab, wie ein Feuer in einem Walde; mit ihren frischgemalten Fensterläden, blankgeputzten Messingzieraten und mit ihrer allgemeinen Sauberkeit und Heiterkeit war sie sofort dem Auge des Vorübergehenden ein wohlgefälliger Anblick. Zwei Türen von der Ecke ab, zur linken Hand in östlicher Richtung, wurde die Häuserreihe durch den Eingang zu einem Hof unterbrochen; und gerade an dieser Stelle drängte ein finster aussehendes Gebäude seinen Giebel auf die Straße vor. Es war zwei Stockwerke hoch, hatte kein einziges Fenster, sondern weiter nichts als eine Tür im Erdgeschoß und eine blinde Stirn von schmutziger Mauer im oberen Stock, und trug in jedem Zug die Merkmale einer langen, schmutzigen Vernachlässigung. Die Tür, die weder mit einer Glocke noch mit einem Klopfer ausgerüstet war, war rissig und fleckig. Strolche schlotterten in diesen Winkel hinein und strichen an der Tür ihr Zündholz an; Kinder spielten auf den Treppenstufen Kaufladen; der Schuljunge hatte an den Holzpfeilern sein Messer versucht; und beinahe eine Generation hindurch war niemals ein Mensch erschienen, um diese gelegentlichen Besucher fortzujagen oder ihre Verwüstungen auszubessern.

Enfield und der Rechtsanwalt gingen auf der anderen Seite dieser Nebenstraße; als sie aber der Hoftür gegenüber waren, hob Enfield seinen Stock und zeigte über die Straße hinüber und fragte:

»Haben Sie jemals die Tür bemerkt?« Und als sein Begleiter diese Frage bejahte, fuhr er fort: »Sie ist in meiner Erinnerung mit einer sehr sonderbaren Geschichte verknüpft.«

»So?« sagte Utterson mit einer kleinen Veränderung in der Stimme, »und wie war das?«

»Tja, das war so: Ich kam von irgendeiner Gesellschaft am anderen Ende der Welt nach Hause; es war ungefähr drei Uhr an einem schwarzen Wintermorgen, und mein Weg führte durch einen Stadtteil von London, wo buchstäblich nichts weiter zu sehen war, als Laternen. Straße auf Straße, und alle Leute im Schlaf – Straße auf Straße, alle hell erleuchtet wie für eine Prozession und alle so leer wie eine Kirche – bis ich zuletzt in jene Geistesverfassung geriet, in der man horcht und horcht und sich nach dem Anblick eines Schutzmanns zu sehnen beginnt. Plötzlich sah ich zwei Gestalten: die eine war ein kleiner Mann, der in rüstigem Schritt nach Osten stampfte, die andere ein Mädchen von vielleicht acht oder zehn Jahren, das so schnell es nur konnte eine Querstraße herabrannte. Nun, die beiden liefen an der Ecke gegeneinander an, das war ja ganz natürlich; dann aber kam das Schreckliche, Grausige: der Mann trampelte ganz ruhig dem Kind auf den Leib und ließ es schreiend am Boden liegen. Wenn man es so hört, klingt es nach nichts. Aber anzusehen war es höllisch. Es war, wie wenn nicht ein Mensch das getan hätte, sondern ein teuflischer Götze, ein Juggernaut, der mit seinen Wagenrädern über Menschenleiber dahinfährt. Ich schrie unwillkürlich laut auf, rannte herzu, packte den feinen Herrn am Kragen und schleppte ihn an die Stelle zurück, wo sich bereits eine ganze Gruppe um das schreiende Mädchen gebildet hatte. Er war vollkommen kühl und leistete keinen Widerstand; aber er warf mir einen einzigen Blick zu, einen so gräßlichen Blick, daß mir der Schweiß ausbrach und über den Leib lief. Die Leute, die herbeigelaufen waren, waren die eigenen Angehörigen des Mädchens; und sehr bald erschien auch der Doktor, den zu holen das Kind ausgeschickt worden war. Na, dem Kind war nicht viel geschehen; es war mehr der Schreck, wie der Pflasterkasten sagte; und somit hätte man annehmen können, die Geschichte wäre zu Ende. Aber es war ein sonderbarer Umstand dabei. Ich hatte auf den ersten Anblick einen Ekel vor diesem Herrn empfunden. Dasselbe war mit den Angehörigen des Kindes der Fall, was auch ganz natürlich war. Aber was mir auffiel, war das Benehmen des Doktors: es war die übliche Sorte von einem trockenen Apotheker, von unbestimmtem Alter und keiner besonderen Farbe, der mit einem starken Edinburgher Akzent sprach und ungefähr so gefühlvoll war wie ein Dudelsack. Na, ich sage Ihnen: der war geradeso wie die anderen alle! Jedesmal, wenn er meinen Gefangenen ansah, bemerkte ich, daß der Pflasterkasten ganz wild wurde und kreideweiß vor Lust, den Mann totzuschlagen. Ich wußte, was in seinem Sinn vorging, genau so, wie er wußte, was ich fühlte; und da Totschlagen nicht in Frage kam, so taten wir das, was dem am nächsten kam. Wir sagten dem Mann: wir könnten und würden aus dieser Geschichte einen solchen Skandal machen, daß sein Name von einem Ende Londons zum anderen stinken würde. Wenn er überhaupt Freunde und Kredit hätte, so würden wir dafür sorgen, daß er diese und diesen verlieren würde. Und die ganze Zeit über, während wir uns in glühende Entrüstung redeten, mußten wir die Weiber von ihm abhalten, so gut wir konnten, denn die waren so wild wie Furien. Niemals habe ich einen Kreis von solchen haßerfüllten Gesichtern gesehen; und mitten in diesem Kreise stand der Mann mit einer Art von finsterer, höhnisch lächelnder Kühle – auch geängstigt, das konnte ich wohl sehen – aber seine Haltung bewahrend, wahrhaftig, Utterson, wie Satan. ›Wenn Sie belieben, aus diesem Zufall Kapital schlagen zu wollen,‹ sagte er, ›so bin ich natürlich machtlos. Es gibt keinen Gentleman, der nicht vor allen Dingen eine Szene zu vermeiden wünscht. Nennen Sie Ihre Summe.‹ Nun, wir schraubten ihn nach und nach bis zu hundert Pfund hinauf, die er an des Mädchens Familie zahlen sollte; offenbar hätte er am liebsten sich gesträubt, aber die Aufregung der ganzen Menschenansammlung war so groß, daß er schließlich sah, das Ding würde gefährlich, und so gab er denn zuletzt klein bei. Das Nächste war nun, das Geld herbeizuschaffen; und was meinen Sie, wohin er uns führte? Hier nach dieser Stelle mit der Tür! Holte einen Schlüssel aus der Tasche, ging hinein und kam sofort wieder mit ungefähr zehn Pfund in Gold und für den Rest mit einem Scheck auf Couths, zahlbar an den Vorzeiger und unterzeichnet mit einem Namen, den ich nicht nennen darf – obgleich er allerdings bei meiner Geschichte wichtig ist; nur soviel: es war ein sehr wohl bekannter Name, den man oft in den Zeitungen gedruckt sieht. Es war ein ordentliches Stück Geld; aber die Unterschrift war auch für mehr gut, wenn sie nur echt war. Ich nahm mir die Freiheit, dem Herrn anzudeuten, daß die ganze Geschichte märchenhaft erscheine, daß im wirklichen Leben ein Mensch nicht um vier Uhr morgens in eine Kellertür hineingehe und mit dem Scheck eines anderen Menschen im Betrage von beinah hundert Pfund wieder herauskomme. Aber er war ganz unbefangen und lächelte nur höhnisch. ›Beruhigen Sie sich nur,‹ sagte er, ›ich werde bei Ihnen bleiben, bis die Bank geöffnet wird, und werde dann den Scheck selber einkassieren.‹ So gingen wir denn alle miteinander los: der Doktor und der Vater des Mädchens und unser Freund und ich, und brachten den Rest der Nacht in meiner Wohnung zu. Und am anderen Morgen frühstückten wir erst und gingen dann alle miteinander zur Bank. Ich gab den Scheck selber ab und sagte, ich hätte allen Grund anzunehmen, daß er gefälscht wäre. Keine Spur! Der Scheck war echt!«

 

»Oh, oh!« sagte Utterson.

»Ich sehe. Sie fühlen ganz wie ich,« sagte Enfield. »Ja, es ist eine böse Geschichte. Denn mein Mann war ein Bursche, mit dem kein anständiger Mensch was zu tun haben könnte, ein richtiger Galgenvogel. Und die Person, die den Scheck ausstellte, ist die Blüte der Wohlanständigkeit, ist sogar ein berühmter Mann und ist – was das schlimmste dabei ist – einer von euren Leuten, die – wie man das nennt – Gutes tun. Erpressung – vermute ich. Ein anständiger Mensch bezahlt wohl oder übel für irgendwelche Bocksprünge seiner Jugendjahre. Das Erpresserhaus nenne ich infolgedessen dieses Gebäude mit der Tür. – Aber freilich – auch das erklärt ja die Geschichte noch nicht annähernd,« setzte er hinzu, und mit diesen Worten versank er in ein nachdenkliches Schweigen. Aus diesem rief Utterson ihn wieder zu sich, indem er ziemlich plötzlich fragte:

»Und Sie wissen nicht, ob der Aussteller des Schecks in dem Hause hier wohnt?«

»Es sieht nicht so recht danach aus, was?« antwortete Enfield. »Aber ich habe mir zufällig seine Adresse gemerkt; er wohnt an irgendeinem Platz.«

»Und Sie erkundigten sich niemals nach … dem Gebäude mit der Tür?«

»Nein, Utterson. Mein Zartgefühl hielt mich davon ab. Ich habe überhaupt eine starke Abneigung gegen Fragestellen; es erinnert zu sehr an den Tag des Jüngsten Gerichts. Man rührt an eine Frage, und es ist, wie wenn man im Gebirge an einen Stein stößt. Man sitzt ruhig oben auf einem Berg, und da saust der Stein los und reißt andere mit; und plötzlich kriegt ein gutmütiges altes Männchen – an das man gewiß niemals gedacht hätte – in seinem eigenen Hausgärtchen einen von den Steinen auf den Kopf, und der schmeißt ihn um, und es kommt eine böse alte Geschichte heraus, und seine Angehörigen müssen ihren Namen ändern. Nein, Utterson – ich mach es mir zur Regel: je mehr etwas nach Spitzbubenkram aussieht, desto weniger frage ich!«

»Eine sehr gute Regel,« sagte der Rechtsanwalt.

»Aber ich habe selber um das Gebäude herumgespürt,« fuhr Enfield fort. »Es scheint kaum ein Haus zu sein. Eine andere Tür ist nicht vorhanden, und kein anderer Mensch geht ein oder aus als – in großen Zwischenräumen einmal – der Gentleman, mit dem ich das Abenteuer hatte. Im ersten Stock sind drei Fenster nach dem Hof hinaus; unten ist keins; die Fenster sind stets geschlossen, aber sauber. Und dann ist ein Schornstein da, der gewöhnlich raucht; es muß also jemand dort wohnen. Und doch ist das nicht so sicher; denn die Gebäude um jenen Hof herum sind so ineinander geschoben, daß es schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere anfängt.«

Die beiden gingen eine Weile schweigend weiter; Dann sagte Utterson:

»Enfield, Sie haben da eine gute Regel.«

»Ja, ich glaube auch.«

»Aber bei alledem«, fuhr der Anwalt fort, »ist da noch ein Punkt, nach dem ich fragen möchte: ich möchte wissen, wie der Mann hieß, der auf dem Kind herumtrampelte.«

»Nun, ich sehe nicht, was das schaden könnte. Es war ein Mann namens Hyde.«

»Hm,« sagte Utterson; »wie sieht der wohl aus?«

»Er ist nicht leicht zu beschreiben. In seinem Äußeren stimmt irgend etwas nicht. Ich sah niemals einen Menschen, der mir so zuwider war – und doch weiß ich kaum, warum. Er muß irgendwo an seinem Leibe verkrüppelt sein. Er macht sofort den Eindruck, verwachsen zu sein, obgleich ich eine bestimmte Stelle nicht bezeichnen könnte. Er ist ein ganz auffallend aussehender Mann, und doch kann ich tatsächlich nichts Außergewöhnliches an ihm bezeichnen. Nein, Utterson, ich kann's nicht ausdrücken, ich kann ihn nicht beschreiben. Nicht etwa, weil ich mich deutlich erinnere – denn ich versichere Ihnen, ich sehe ihn in diesem Augenblick vor mir.«

Utterson ging wieder ein Stück schweigend weiter; offenbar drückte ihn ein Gedanke.

»Sie sind sicher, daß er einen Schlüssel benutzte?« fragte er schließlich.

»Mein lieber Utterson …« rief Enfield, ganz über die Maßen erstaunt.

»Ja, ich weiß,« sagte Utterson, »es muß sonderbar erscheinen. Es ist Tatsache: wenn ich Sie nicht nach dem Namen des anderen frage, so ist das, weil ich den schon kenne. Sie sehen, Richard, Ihre Geschichte ist unter die Leute gekommen. Wenn Sie in irgendeinem Punkt ungenau gewesen sind, ist es gut, wenn Sie ihn richtigstellen.«

»Ich meine, Sie hätten mich warnen sollen,« versetzte der andere mit einem Anflug von Verdrießlichkeit. »Aber ich bin pedantisch genau gewesen, wie Sie das nennen. Der Kerl hatte einen Schlüssel; und noch mehr: er hat ihn noch jetzt. Ich sah ihn Gebrauch davon machen, es ist noch keine Woche her.«

Utterson seufzte tief, sagte aber kein einziges Wort, und der junge Mann fuhr fort:

»Da habe ich wieder einmal eine Lehre bekommen, nichts zu sagen! Ich schäme mich meiner langen Zunge. Wir wollen ein Abkommen treffen, daß wir niemals wieder über dieses Thema sprechen.«

»Von ganzem Herzen!« rief der Anwalt. »Darauf gebe ich Ihnen die Hand, Richard.«

Nachforschung nach Hyde

An jenem Abend kam Utterson in düsterer Stimmung in seine Junggesellenwohnung und setzte sich ohne Appetit zum Essen nieder. Es war seine Gewohnheit, Sonntags nach der Mahlzeit sich dicht an das Kaminfeuer zu setzen und irgendein langweilig frommes Buch auf seinem Lesepult liegen zu haben, bis es auf der nahen Kirche zwölf Uhr schlug, worauf er nüchtern und dankbar zu Bett ging. An diesem Abend aber nahm er, sobald das Tischtuch abgehoben war, eine Kerze und ging in sein Arbeitszimmer. Dort öffnete er seinen Geldschrank, nahm aus dem Geheimfach desselben ein Dokument hervor, das auf dem Umschlag als Dr. Jekylls Testament bezeichnet war, und setzte sich mit gerunzelter Stirne nieder, um den Inhalt desselben zu studieren. Dieser letzte Wille war vom Doktor mit eigener Hand geschrieben; denn Utterson hatte ihn zwar in seinen Gewahrsam genommen, nachdem er einmal geschrieben war, hatte sich aber geweigert, bei der Abfassung auch nur die geringste Hilfe zu leisten. Das Testament bestimmte nicht nur, daß im Falle des Ablebens von Henry Jekyll, M. D., D. C. L., LL. D., F. R. S., etc. alle seine Besitztümer in die Hände seines »Freundes und Wohltäters Edward Hyde« übergehen sollten, sondern auch, daß im Fall von Dr. Jekylls »Verschwinden oder unerklärter Abwesenheit für einen Zeitraum, der drei Kalendermonate überschritte«, besagter Edward Hyde sofort ohne jeden weiteren Aufschub in besagten Dr. Henry Jekylls Schuhe treten sollte, und zwar frei von jeder Last oder Verpflichtung, abgesehen von der Auszahlung einiger kleiner Beträge an die Angehörigen von des Doktors Haushalt.

Dieses Dokument war lange Zeit dem Rechtsanwalt ein Dorn im Auge gewesen. Es ärgerte ihn sowohl als Rechtskundigen wie als einen Freund vernünftiger und herkömmlicher Lebensgewohnheiten, dem Phantastik gleichbedeutend war mit Unbescheidenheit. Und bis jetzt hatte der Umstand, daß dieser Hyde ihm unbekannt war, seinen Unwillen vermehrt; nun aber war es im Gegenteil gerade der Umstand, daß er ihn kannte. Es war bereits schlimm genug, als der Name nur ein Name war, der einem weiter nichts sagen konnte. Schlimmer aber wurde es, als dieser Name mit abscheulichen Attributen ausstaffiert zu werden begann, und als aus den wogenden, ungreifbaren Nebeln, die ihm solange das Auge getrübt hatten, plötzlich das bestimmte Gefühl heraussprang, es mit einem Teufel zu tun zu haben.

»Ich dachte, es sei Wahnsinn,« sagte er, indem er das unangenehme Dokument in den Geldschrank zurücklegte; »jetzt aber beginne ich zu fürchten, es ist Schande.«

Hierauf blies er seine Kerze aus, zog einen dicken Mantel an und machte sich auf nach Cavendish Square, der Hochburg der Arzneikunst, wo sein Freund, der große Dr. Lanyon, sein Haus hatte und den Andrang seiner Patienten empfing.

Wenn irgendein Mensch was weiß, wird Lanyon es sein, hatte Utterson gedacht.

Der feierliche Kammerdiener kannte und begrüßte ihn; er brauchte nicht einen Augenblick zu warten, sondern wurde gleich von der Haustür in das Eßzimmer geführt, wo Dr. Lanyon allein bei seinem Wein saß. Er war ein herzhafter, gesunder, munterer alter Herr mit rotem Gesicht, mit einem Schopf von Haaren, die vor der Zeit weiß geworden waren, und einem entschiedenen, etwas lauten Auftreten. Bei Uttersons Anblick sprang er von seinem Stuhl auf und begrüßte ihn mit ausgestreckten Händen. Die Herzlichkeit war etwas theatralisch anzusehen, wie der Doktor sich benahm; aber sie entsprang aufrichtigem Gefühl. Denn die beiden waren alte Freunde, alte Schul- und Universitätskameraden; beide hatten Achtung vor sich selber und voreinander, und sie waren, was aus dem Vorherigen nicht ohne weiteres folgt, Männer, die an ihrer Gesellschaft gegenseitig eine wahre Freude hatten. Nach einem kurzen Geplauder über dies und das kam der Anwalt auf den Gegenstand, der ihn in so unangenehmer Weise beschäftigte.

»Ich vermute, Lanyon,« sagte er, »du und ich müssen wohl die beiden ältesten Freunde von Henry Jekyll sein?«

»Ich wollte, die Freunde wären jünger,« kicherte Dr. Lanyon. »Aber ich glaube, wir sind es. Und wozu fragst du? Ich sehe ihn jetzt nur noch selten.«

»So?« sagte Utterson, »ich dachte, euch verbänden gemeinsame Interessen.«

»Das war einmal. Aber seit mehr als zehn Jahren ist Henry Jekyll für mich zu phantasievoll geworden. Er begann auf Abwege zu kommen, auf geistige Abwege, meine ich; und obgleich ich natürlich immer noch an seinem Wirken Anteil nehme, um der alten Freundschaft willen, so sehe ich und sah ich schon seit langer Zeit höllisch wenig von dem Mann. So ein unwissenschaftlicher Quatsch«, rief der Doktor, indem er plötzlich purpurrot wurde, »würde Damon und Pythias auseinandergebracht haben.«

 

Dieser kleine Gefühlsausbruch war für Utterson eine Art von Erleichterung.

Sie sind nur wegen irgendeiner wissenschaftlichen Frage in Streit geraten, dachte er bei sich selber; und da er ein Mann war, dem wissenschaftliche Leidenschaften ganz fremd waren – abgesehen in Fragen, die notarielle Dinge betrafen – so fügte er sogar hinzu: Wenn es nichts Schlimmeres ist!

Er gönnte seinem Freunde ein paar Sekunden, um sich wieder zu sammeln, und kam dann auf die Frage, die ihn eigentlich hergeführt hatte:

»Kamst du jemals mit einem Schützling von ihm zusammen – einem gewissen Hyde?«

»Hyde?« wiederholte Lanyon. »Nein. Nie von ihm gehört. Muß nach meiner Zeit gewesen sein.«

Das war die ganze Auskunft, die der Anwalt mit sich nach Hause nahm und mit der er sich in das große, dunkle Bett legte, in welchem er sich hin und her warf, bis die kleinen Morgenstunden groß zu werden begannen. Es war eine Nacht, die seinem geschäftigen Geist wenig Erquickung brachte, da er völlig im Dunkeln arbeitete und sich von Fragen bestürmt sah.

Sechs Uhr schlug es auf dem Kirchturm, der so angenehm nahe bei Uttersons Haus stand, und immer noch bohrte er an dem Problem herum. Bisher hatte es nur seinen Verstand beschäftigt; jetzt aber war auch seine Einbildungskraft in Anspruch genommen, oder besser gesagt: gefesselt; und wie er so lag und sich in der dichten schwarzen Finsternis der Nacht in seinem durch Vorhänge gegen jedes Licht geschützten Zimmer hin und her warf, zog Enfields Erzählung wie eine Rolle von hellerleuchteten Bildern an seinem Geist vorüber. Er sah vor sich die endlosen Laternenreihen einer nächtlichen Stadt; dann die Gestalt eines schnellgehenden Mannes; dann ein Kind, das vom Hause des Doktors nach der elterlichen Wohnung lief; dann stießen diese zusammen, und der menschliche Juggernaut trat das Kind zu Boden und ging weiter, ohne sich um das Geschrei zu bekümmern. Dann wieder sah er ein Zimmer in einem reichen Hause, worin sein Freund schlafend lag und träumte und über seine Träume lächelte; und dann öffnete sich die Tür dieses Zimmers, die Bettvorhänge wurden zur Seite gerissen, der Schläfer angerufen, und da, siehe! an seiner Seite stand eine Gestalt, der Macht über ihn gegeben war, und augenblicklich, in dieser Todesstunde, mußte er aufstehen und sein Geheiß erfüllen. Die Gestalt in diesen beiden Erscheinungsformen verfolgte den Anwalt die ganze Nacht; und wenn er einmal einschlummerte, so geschah es nur, um sie noch verstohlener durch schlafende Häuser gleiten zu sehen oder sie schneller und immer noch schneller, bis zu schwindelerregender Schnelligkeit durch noch größere Labyrinthe von Gaslaternen beleuchteter Großstadtstraßen sich bewegen zu sehen: an jeder Straßenecke ein Kind zu zertrampeln und es schreiend am Boden liegen zu lassen. Und doch hatte die Gestalt kein Gesicht, woran er sie hätte erkennen können; sogar in seinen Träumen hatte sie kein Gesicht, oder doch nur eins, das ihn verhöhnte und vor seinen Augen zerfloß. Und so geschah es, daß in des Anwalts Sinn eine eigentümlich starke, beinahe zügellose Neugier erwuchs, die Gesichtszüge des wirklichen Hyde zu erblicken. Er dachte: wenn er nur ein einziges Mal ihn zu Gesicht bekommen könnte, dann würde das Geheimnis sich aufhellen und vielleicht überhaupt verschwinden, wie es mit geheimnisvollen Dingen zu geschehen pflegt, wenn sie sorgfältig geprüft werden. Vielleicht würde er einen Grund entdecken, weshalb sein Freund diese sonderbare Vorliebe für den Menschen hätte oder unter dessen Bann stände – was von beidem es denn eben sein mochte – und vielleicht entdeckte er sogar einen Grund für die überraschenden Bestimmungen des Letzten Willens. Zum mindesten würde es ein Gesicht sein, das zu sehen der Mühe wert wäre: das Gesicht eines Menschen, der keinen Funken von Barmherzigkeit in sich hatte; ein Gesicht, das sich nur zu zeigen brauchte, um in dem Gemüt eines sonst keines Eindrucks fähigen Menschen wie Enfield ein Gefühl dauernden Hasses zu erregen.

Von dieser Zeit an begann Utterson die Tür in der Nebenstraße zu beobachten. Morgens vor seinen Kanzleistunden – mittags, obgleich die Geschäfte drängten und die Zeit knapp war – nachts unter dem Antlitz des nebelumhüllten Londoner Mondes – bei allen Beleuchtungen und in allen Stunden von Einsamkeit oder Menschengedränge war der Anwalt auf dem von ihm erwählten Posten zu finden.

Wenn er Mister Hyde ist, hatte er gedacht, werde ich Mister Seek sein Hyde (hide) bedeutet im Englischen: sich verstecken; seek: suchen..

Und schließlich wurde seine Geduld belohnt. Es war eine schöne trockene Nacht; Frost in der Luft; die Straßen so sauber wie eine Ballsaaldiele; die Laternen, die von keinem Wind bewegt wurden, woben auf der Erde ein regelmäßiges Muster aus Licht und Schatten. Nach zehn Uhr, nach Schluß der Kaufläden, war die Nebenstraße sehr einsam und sehr still, obgleich ringsherum der Londoner Lärm grollte. Leise Töne waren auf weite Entfernung zu hören; Geräusche im Inneren der Häuser waren auf beiden Seiten der Straße deutlich vernehmbar; wenn ein Fußgänger kam, hörte man schon lange vorher seine Schritte. Utterson war einige Minuten auf seinem Posten, als er bemerkte, daß ein eigentümlicher, leichter Schritt sich näherte. Im Laufe seiner nächtlichen Patrouillengänge hatte er sich längst an die eigentümliche Wirkung gewöhnt, welche die Schritte eines einzelnen Menschen machen, die noch weit entfernt sind, aber plötzlich ganz deutlich unterscheidbar aus dem ungeheuren Lärm und Tosen der Riesenstadt sich ablösen. Aber nie zuvor war seine Aufmerksamkeit so scharf und entschieden gefesselt worden; und mit einer starken, abergläubischen Vorahnung von Erfolg zog er sich in die Nische der Hoftüre zurück.

Die Schritte kamen schnell näher und wurden plötzlich lauter, als sie um die Straßenecke bogen. Der Anwalt spähte aus seiner Türnische heraus und konnte bald sehen, mit was für einer Art von Mann er zu tun hatte. Er war klein und sehr einfach angezogen; sein Anblick erregte selbst auf die weite Entfernung in dem Beobachtenden ein starkes Unbehagen.

Der Mann ging gerade auf die Tür zu, quer über den Fahrdamm, um Zeit zu sparen; und während der letzten Schritte zog er einen Schlüssel aus der Tasche, wie es einer tut, der nach Hause kommt.

Utterson trat vor, klopfte ihm auf die Schulter, als er an ihm vorüberkam, und sagte:

»Herr Hyde, denke ich!«

Hyde fuhr zurück, indem er mit einem zischenden Laut den Atem einzog. Aber seine Furcht war nur augenblicklich; obgleich er dem Anwalt nicht ins Gesicht sah, antwortete er kühl genug:

»Das ist mein Name – was wünschen Sie?«

»Ich sehe, Sie gehen hier hinein,« erwiderte der Anwalt. »Ich bin ein alter Freund von Dr. Jekyll – Utterson in der Gaunt Street, Sie müssen meinen Namen gehört haben – und da ich Sie so gelegen traf, so dachte ich, Sie könnten mich einlassen.«

»Sie werden Dr. Jekyll nicht zu Hause finden; er ist ausgegangen,« antwortete Hyde und blies in den Schlüssel hinein. Und dann fragte er plötzlich, aber ohne dabei aufzublicken:

»Woher kannten Sie mich?«

»Wollen Sie Ihrerseits«, sagte Utterson, »mir einen Gefallen erweisen?«

»Mit Vergnügen; was wünschen Sie?«

»Wollen Sie mich Ihr Gesicht sehen lassen?« fragte der Anwalt.

Hyde schien zu zögern; dann aber, wie wenn er sich's plötzlich überlegt hätte, drehte er mit einem trotzigen Ausdruck auf dem Gesicht sich um, und die beiden starrten einander ein paar Sekunden lang fest an.

»Jetzt werde ich Sie wiedererkennen,« sagte Utterson. »Das wird vielleicht von Nutzen sein.«

»Ja,« antwortete Hyde, »es ist ganz gut, daß wir uns getroffen haben; und apropos – Sie sollten meine Adresse haben.«

Und er nannte eine Hausnummer in einer Straße in Soho.

Guter Gott! dachte Utterson; kann auch er an das Testament gedacht haben?

Aber er behielt seine Gefühle für sich und brummte nur etwas, als der andere die Adresse nannte.

»Und nun,« sagte dieser, »woher kannten Sie mich?«

»Nach einer Beschreibung.«

»Von wem?«

»Wir haben gemeinsame Freunde.«

»Gemeinsame Freunde?« echote Hyde etwas heiser. »Wer sind die?«

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