Читать книгу: «Vermisst», страница 2
5
Am Morgen machte Jack alles wie immer und verließ das Haus trotzdem früher als sonst. Zur Belohnung legte er auf dem Weg zum Home Depot einen Zwischenstopp ein und holte sich ein Wurstsandwich und einen großen Kaffee. Kurz überlegte er, einen zweiten Kaffee für Eugenio zu besorgen, ließ es dann aber sein.
Der Kaffee war noch zu heiß, Jack aß das fettige Sandwich auf dem Parkplatz und fuhr wieder los. Das Home Depot lag ganz in der Nähe, das Schild war schon in Sichtweite. Obwohl es noch sehr früh war, warteten dort bereits viele Männer.
Jack wusste heute, wen er haben wollte, und fand Eugenio schnell. Er hielt und ließ das Fenster herunter. »Spring vorne rein.«
Er wartete noch, bis Eugenio den Gurt angelegt hatte, und fuhr los, ohne die langsam auf ihn zutreibende Menge zu beachten.
Diesmal hatte Eugenio keinen Kaffeebecher dabei. Jack nahm seinen aus dem Halter und hielt ihn Eugenio hin. »Hier. Kaffee.«
»Ich brauche keinen.«
»Nun nimm schon.«
Eugenio zögerte und nahm Jack den Becher dann aus der Hand. »Gracias.«
»De nada. Es ist Milch und Zucker drin, hoffentlich ist das okay.«
»Kein Problem.«
Jack beobachtete Eugenio aus dem Augenwinkel. Ob er heute Morgen gefrühstückt hatte? Oder trank er den Kaffee auf leeren Magen? Ein Kaffee kostete einen halben Stundenlohn. Ein Luxus, den man sich nur selten gönnte. Jack konnte heute ohne leben.
Sie fuhren zum Haus des Anwalts und verbrachten den Morgen damit, die Bodenfliesen herauszureißen. Staub hing in der Luft, Eugenios Hände waren kreideweiß. »Wasch dich ab«, sagte Jack. »Wir gehen Mittag essen.«
Sie aßen bei McDonald’s, die Sonne schien auf ihre Sitznische, die goldenen Bögen warfen einen Schatten auf den Tisch und den Fußboden. Jack fiel auf, dass Eugenio seinem Blick auswich, immer schaute er nach links oder rechts, nie geradeaus. Eine Weile schwiegen sie. Das Restaurant füllte sich langsam.
»Du machst gute Arbeit«, sagte Jack schließlich.
»Danke«, antwortete Eugenio, ohne den Blick zu heben.
»Ich meine, ich brauch dir nichts zu zeigen. Du weißt, was du tust.«
Eugenio schwieg. Er schraubte umständlich den Deckel von seiner Wasserflasche und nahm mehrere große Schlucke. Wieder sah er Jack nicht an.
Jack überlegte. »Weißt du, ich hab gestern bloß so gefragt, wo du herkommst. Ohne Hintergedanken.«
»Ich habe eine Green Card«, erwiderte Eugenio schlicht.
»Ich habe nicht danach gefragt.«
Eugenio nickte und sah Jack einen kurzen Moment lang ins Gesicht. Jack hätte zu gern gesagt: Verdammt, jetzt schau mir einfach in die Augen, ließ es aber. »Ich habe eine Green Card«, wiederholte Eugenio.
»Ich glaube dir.«
Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Jack fragte: »Hast du hier Verwandte?«
Zuerst dachte er, Eugenio würde nicht antworten. Er sah, wie er mit sich rang. Er wusste nicht einmal, warum er überhaupt gefragt hatte.
»Nein. Ich bin allein«, sagte Eugenio schließlich.
»Hast du drüben Verwandte?«
Diesmal kam die Antwort schneller. »Ich habe eine Frau. Zwei Töchter.«
»Echt? Ich habe auch zwei Töchter. Na ja, sie sind von meiner Frau. Ich bin der Stiefvater.« Jack zog seine Brieftasche heraus und klappte sie auf. »Das sind sie. Die Jüngere heißt Lidia, die Ältere Marina. Das Bild ist ein paar Jahre alt.«
Eugenio betrachtete das Foto und nickte leicht. »Meine Töchter sind jünger.«
»Wie alt?«
»Acht und neun.«
»Hast du Fotos?«
Wieder ein Nicken. Eugenio brachte seine Brieftasche zum Vorschein, eine zerschlissene Lederbörse, in der zwei Fotos steckten, die Eugenio auf den Tisch legte wie Spielkarten. Auch diese Bilder waren alt, aber die Mädchen sahen gesund, munter und pausbäckig aus.
»Wie heißen sie?«
»Evangelina.« Eugenio zeigte auf das ältere Mädchen. Dann legte er den Finger auf das andere Foto. »Antonia.«
»Hübsche Namen. Usted tiene hijas bonitas.«
»Gracias«, sagte Eugenio, und diesmal hob er den Blick. Zum ersten Mal sahen sie sich direkt in die Augen, einen kurzen Augenblick lang. Dann sammelte Eugenio die Fotos ein und steckte sie wieder in die Lederbörse.
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Jack.
»Vor einem Jahr.«
»Das ist lange her.«
»Ja.«
»Meine Frau war Mexikanerin«, sagte Jack. »Hat einen Ami geheiratet, ist nach Texas gezogen, bekam die Mädchen. Und dann ist ihr Mann gestorben. Später sind wir zusammengekommen und haben geheiratet. Dann ist sie krank geworden. Und vor fünf Jahren gestorben.«
»Du ziehst die Töchter deiner Frau alleine auf?«, fragte Eugenio.
»Ja, gibt nur mich. Ich schicke sie zur Schule und sorge für sie. Sie haben in Mexiko Verwandte, mit denen wir in Kontakt stehen, aber die Mädchen sind Amerikanerinnen. Ich glaube nicht, dass sie auf der anderen Seite der Grenze klarkämen. Sie haben … wie soll ich sagen? Marina nennt es ›Erste-Welt-Probleme‹. Ihr Handy funktioniert nicht, oder sie haben nicht genug Geld für die Mall, solche Sachen.«
Eugenio nickte wieder, und Jack spürte, dass die Verbindung abriss. Er konnte nicht mal genau sagen, warum er damit angefangen hatte, vielleicht weil Eugenio ein Mann war und ihn verstehen würde, aber Eugenio konnte »Erste-Welt-Probleme« nicht nachvollziehen. Er dachte nie weiter als bis zum nächsten Tag, zum nächsten Dollar, zum nächsten Job.
»Auf geht’s«, sagte Jack.
Sie machten sich auf den Weg.
An einer Baustelle wurden drei Spuren zu einer zusammengeführt. Der Verkehr schlich voran, überall wurde geblinkt, alle versuchten, sich irgendwo einzufädeln. Jack drehte das Radio an und nickte. »Hast du einen Lieblingssender? Stell ihn ruhig ein.«
Eugenio zögerte, als wäre der Knopf heiß, doch dann suchte er einen mexikanischen Sender aus, der aus Nuevo Laredo über die Grenze sendete. Jack erkannte weder die Namen noch die Stimmen der Moderatoren, aber das Format war das Gleiche wie hier in Texas. Er hatte etwas Mühe, mit dem schnellen Geplapper und den Witzen der DJs zwischen den Liedern mitzukommen.
»Lustig«, bemerkte Eugenio nach ein paar Minuten.
»Ja, wirklich.«
Sie brauchten für eine einzige Meile fast eine halbe Stunde, endlich passierten sie die Baustelle, und danach war der Weg zum Haus des Anwalts frei. Jack war versucht, aufs Gas zu treten, um die verlorene Zeit zumindest teilweise aufzuholen, widerstand aber. Vilma hatte ihn immer ermahnt, vorsichtig zu fahren. Er hielt sich daran.
»Wir machen noch den Boden fertig«, sagte er zu Eugenio.
»Okay.«
»Dafür werden wir eine Weile brauchen. Wenn wir dann noch Zeit haben, fangen wir mit –«
Im Rückspiegel blitzte Licht auf, Jack brach ab. Ein schwarzer Wagen hatte sich hinter sie gesetzt, flackernd leuchtete rot-blaues Warnlicht auf.
Auch Eugenio hatte das Licht bemerkt, und Jack spürte seine Anspannung. Jack fuhr langsamer, hielt auf dem Seitenstreifen vor einem Supermarkt und stellte den Motor ab.
Er beugte sich vor und öffnete das Handschuhfach, wo in einer kleinen schwarzen Kladde die Autopapiere und seine Versicherungskarte lagen. Als er sich aufrichtete, sah er zwei Männer aus dem anderen Wagen steigen. Sie kamen auf ihn zu und stellten sich links und rechts neben den Truck. Keiner der beiden trug Uniform.
Der Mann auf der Fahrerseite klopfte an die Scheibe und zeigte eine Dienstmarke, die Jack nicht erkannte. Er ließ das Fenster herunter. »Ich glaube nicht, dass ich zu schnell gefahren bin«, sagte er.
»Nein, sind Sie nicht«, sagte der Mann. »Mein Name ist Jesse Dreier. Ich arbeite für die Einwanderungs- und Zollbehörde. Das ist mein Kollege. Würden Sie mir bitte sagen, wo Sie hinwollen?«
Jack war versucht, den Kopf zu drehen und Eugenio anzusehen, tat es aber nicht. Er hielt die schwarze Kladde noch immer in der Hand. »Ich bin Handwerker. Ich fahre gerade zu einer Baustelle.«
»Der Mann neben Ihnen ist Ihr Angestellter?«
»Genau.«
»Würden Sie bitte aussteigen, Sir?«
Er gehorchte, aus dem Augenwinkel bekam er mit, dass der andere Mann die Beifahrertür öffnete und Eugenio auf Spanisch anwies, ebenfalls auszusteigen. Jack bemerkte, dass Dreier eine Waffe am Gürtel trug und dass das, was ihn so kräftig wirken ließ, eine schusssichere Weste war.
»Gehen wir da rüber«, sagte Dreier und deutete auf seinen Wagen. Das Warnlicht war immer noch an. Jack wandte Eugenio jetzt den Rücken zu und konnte nicht hören, was gesagt wurde.
Dreier sah ihn an. »Wie lange ist dieser Mann schon bei Ihnen angestellt?«
»Seit ein paar Tagen.«
»Sie stellen ihn als Tagelöhner ein?«
»Genau.«
»Haben Sie sich seine Papiere zeigen lassen? Die Arbeitserlaubnis? Irgendwas in der Art?«
»Er sagt, er hat eine Green Card.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Na ja, nein. Ich hab nicht danach gefragt.«
»Er ist also kein amerikanischer Staatsbürger«, sagte Dreier.
»Nein. Er sagt, er kommt aus Anáhuac.«
»Gut. Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen, Sir?«
Jack zog seine Brieftasche hervor und zeigte dem Mann seinen Führerschein. Dreier zog ihn aus der Plastikhülle, gab Jack die Brieftasche zurück und stieg in seinen Wagen. Jack sah ihn zum Handy greifen.
Er warf einen Blick hinüber zu Eugenio, halb erwartete er, ihn in Handschellen am Boden liegen zu sehen, Dreiers Kollege auf seinem Rücken. Doch die beiden redeten nur. Dreiers Kollege drehte eine Karte in den Händen hin und her.
Dreier stieg wieder aus dem Wagen und gab Jack den Führerschein zurück. »Danke für Ihre Mithilfe, Mr. Searle.«
»Wird es irgendwie Ärger geben?«, fragte Jack.
Dreier sah ihn ausdruckslos an. »Nein, keinen Ärger. Wir müssen nur was klären.«
»Ich frage bloß.«
Dreiers Kollege gab ein Zeichen mit der Hand. Dreier winkte zurück. »Mr. Searle«, sagte er, »ich muss Sie bitten, uns aufs Polizeirevier zu folgen. Ihr Angestellter wird bei uns mitfahren.«
»Ich weiß nicht mal, wo das Revier ist.«
»Wir zeigen Ihnen den Weg.«
6
Sie ließen ihn auf einem Plastikstuhl Platz nehmen, der mit anderen zu einer langen Reihe zusammengeschraubt war. Jacks Cola wurde allmählich schal, er nippte nur noch daran, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Polizisten kamen und gingen und schenkten ihm keine Beachtung. Dreier und seinen Kollegen sah er über eine Stunde lang nicht. Er fragte sich, ob Leeks Haushälterin auf sie wartete, ob er anrufen sollte.
Eugenio bekam er nicht mehr zu Gesicht. Sie hatten ihm Handschellen angelegt und ihn in den Polizeiwagen gesetzt, beim Aussteigen war er Jacks Blick ausgewichen. Jack war nichts Tröstliches eingefallen. Als man Eugenio wegbrachte, stand er stumm daneben.
Nach langem Warten sah er Dreier mit zwei Polizisten in Uniform und seinem Kollegen hinter einer Glaswand stehen. Als der Kollege herüberschaute, senkte Jack reflexartig den Blick. Er trug keine Handschellen, kam sich aber so vor.
Schließlich ertönte ein elektrisches Summen, dann tauchte Dreier mit einigen ausgedruckten Seiten in der Hand auf. »Bitte kommen Sie mit, Mr. Searle.«
Am Ende eines scheinbar endlos langen Korridors bogen sie links ab und kamen an ein paar identisch aussehenden geschlossenen Türen mit Nummern vorbei. Dreier schloss eine auf und bat Jack herein. In dem winzigen Zimmer standen ein kleiner Tisch und drei Stühle. An der Decke war eine Kamera mit einer rot leuchtenden Lampe befestigt.
»Nehmen Sie Platz.«
Jack setzte sich.
»Bevor Sie fragen«, sagte Dreier, »Sie stehen nicht unter Arrest. Sie haben keine Anzeige zu erwarten. Sie können jederzeit gehen. Sie müssen nicht mal mit mir reden.«
»Schon gut«, sagte Jack.
»Okay.« Dreier setzte sich. Er legte die Seiten mit der Schrift nach unten auf den Tisch. »Nur damit Sie wissen, wo Sie stehen.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Jack.
»Unter welchem Namen kennen Sie den Mann, den Sie angestellt haben?«
»Eugenio.«
»Kein Nachname?«
»Nein, hab ich nie nach gefragt.«
»Und er hat gesagt, er käme aus Anáhuac in Mexiko.«
»Genau.«
»Stellen Sie oft Männer vom Home-Depot-Parkplatz ein?«
»Ab und zu. Ich bekomme alle möglichen Aufträge und kann es mir nicht leisten, Leute zu bezahlen, wenn es keine Arbeit gibt. Es ist einfacher, sie bei Bedarf zu holen.«
»Was zahlen Sie ihnen?«
»Acht Dollar die Stunde plus Mittagessen.«
Dreier zog eine Augenbraue hoch. »Nicht viele Handwerker zahlen Tagelöhnern heutzutage den Mindestlohn.«
»Ich zahle, was ich für fair halte.«
»Sicher, ich verstehe. Und Sie kümmern sich nicht um Steuern und solche Sachen.«
»Hören Sie, ich –«
Dreier hob die Hand. »Ich meine bloß, Mr. Searle. Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Sie sind nicht der Erste, der sich den Papierkram spart, und Sie werden nicht der Letzte sein. Wir unterhalten uns bloß.«
»Ich erwarte nur ehrliche Arbeit für ehrlichen Lohn«, sagte Jack.
»Das verstehe ich. Wie viele Männer haben Sie von dem Parkplatz da geholt, sagen wir mal, im letzten Jahr?«
»Fünf oder sechs.«
»Können Sie sich an Namen erinnern?«
»Nicht wirklich.«
»Würden Sie sie auf Fotos erkennen?«
»Vielleicht. Das also wollen Sie von mir?«
»Später.« Dreier legte die Fingerspitzen aneinander. »Wissen Sie, wir gehen davon aus, dass neun von zehn Männern auf dem Parkplatz illegal hier sind. Wir könnten sie jeden Tag abgreifen. Wie wir es heute Morgen gemacht haben. Und wissen Sie was? Morgen ist der Parkplatz dann voll mit lauter neuen Gesichtern.«
»Wenn ich aufhören soll, Tagelöhner einzustellen, tue ich das«, sagte Jack.
»Das meine ich gar nicht. Sie sollten sich nur bewusst sein, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen. Es gibt jede Menge legale Arbeiter, die Sie einstellen könnten. Auch jede Menge Mexikaner, wenn die Ihnen lieber sind.«
»Hören Sie, er hat gesagt, er hätte eine Green Card.«
»Er hatte eine. Gefälscht.«
»Würde ich nicht erkennen«, sagte Jack.
»Ehrlich gesagt, wenn ich nicht wüsste, worauf man achten muss, hätte ich es auch nicht erkannt«, sagte Dreier. »Aber es war eine Fälschung, und ›Eugenio‹ hält sich illegal bei uns auf. Sie haben Glück gehabt: Manche der Typen sind kriminell und knöpfen ihren Auftraggebern das Geld ab, oder Werkzeug oder was auch immer. Ihr Mann war sauber. Wer weiß, vielleicht heißt er sogar wirklich Eugenio.«
Jack atmete tief ein. »Und was wird jetzt aus ihm?«
»Er wird in ein, zwei Tagen abgeschoben.«
»Und was passiert mit mir?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ganz genau. Ich bin ehrlich zu Ihnen: Mir fehlt die Zeit, jeden Handwerker hochzunehmen, der billige Arbeitskräfte beschäftigt. Und in diesem Fall haben Sie jemanden erwischt, der behauptete, eine Green Card zu haben und sie sogar bei sich trug. Das ist die Mühe nicht wert.«
»Und was ist das?« Jack deutete auf die Seiten.
»Oh, das? Das ist Ihre Akte. Keine Einträge.«
Jacks Schultern sackten nach unten. Erst jetzt merkte er, wie angespannt er gewesen war. Er richtete sich auf. »Vermutlich sagen Sie mir jetzt, dass ich in Zukunft aufpassen soll.«
»Das ist wohl nicht nötig. Sie haben es kapiert.«
»Kann ich dann gehen?«
»Können Sie.«
Jack erhob sich, Dreier ebenfalls. Er hielt Jack die Hand hin, er schlug ein. »Ich finde den Weg«, sagte er.
»Macht es Ihnen was aus, wenn ich Sie trotzdem begleite?«
»Kann ich Sie davon abhalten?«
Sie durchquerten wieder den langen Korridor. In der Eingangshalle herrschte Eile und Gedränge. Cops und Kriminelle. Opfer. Das Licht fiel in großen Rechtecken auf den gefliesten Boden, Jack blieb mitten in einem stehen.
»Passen Sie auf sich auf, Mr. Searle«, sagte Dreier. »Hoffentlich kreuzen sich unsere Wege nicht noch einmal.«
»Das hoffe ich auch.«
Jack verließ das Polizeirevier und kehrte zu seinem Truck zurück. Es war fast fünfzehn Uhr.
7
Das Polizeirevier im Zentrum von Nuevo Laredo, eins von mehreren in der Stadt, war nicht groß. Es mochte Gründe dafür gegeben haben, die Reviere dort einzurichten, wo sie waren, aber sie wirkten fast wie zufällig verteilt, die Zuständigkeiten überschnitten sich, die Lücken wurden von der Armee und der Bundespolizei, der Policía Federal, gefüllt. Der Eingang zum Gebäude war mit Betonpfeilern und Stacheldraht geschützt. Auf einigen Fenstersimsen lagen Sandsäcke.
Als ein dünner Mann in Arbeitskleidung das Revier betrat, bemerkte Gonzalo Soler ihn nicht gleich. Auf Gonzalos Schreibtisch stapelten sich Akten, jede verlangte seine Aufmerksamkeit, und er musste entscheiden, welche warten konnte und welche Priorität hatte. Als Polizist war er fast so etwas wie ein Arzt, der Verwundete nach Dringlichkeit einordnet. Gonzalo konnte nicht allen Akten die gleiche Aufmerksamkeit widmen, gab sich aber Mühe, zumindest einen Blick in jede zu werfen.
Pepito Barriga bemerkte den Mann zuerst. »Ach, verdammt.«
Gonzalo sah zu seinem Kollegen hinüber. »Was ist los?«
»Dieser Typ ist wieder da«, sagte Pepito. »Er war schon gestern hier, und vorgestern. Ich hab ihm gesagt, er soll nach Hause gehen und dort bleiben, aber er hört einfach nicht auf mich.«
Jetzt sah auch Gonzalo den Mann. Er war so dünn, dass er kurz vor dem Verhungern zu stehen schien, und trug eine zerschlissene braune Arbeitskluft, die sich seiner sonnengebräunten Haut angeglichen hatte. Insgesamt machte er den Eindruck einer wettergegerbten, schmutzigen Vogelscheuche auf einem Stoppelfeld. Er stand vor dem Tresen des Wachhabenden am Eingang, umklammerte seine Baseballkappe und warf den beschäftigten Polizisten, die ihm keinerlei Beachtung schenkten, flehende Blicke zu.
»Was will er?«, fragte Gonzalo.
»Geht um seine Tochter. Glaub mir, nicht der Mühe wert.«
Der Mann sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben und war sogar aus der Entfernung spürbar. Gonzalo klappte die vor ihm liegende Akte zu, stand auf und zog sein Jackett über.
Pepito bemerkte es. »Ich sag doch, spar dir deine Zeit.«
»Ich will nur mal mit ihm reden.«
»Von mir aus. Aber bitte mich nicht um Hilfe.«
»Mache ich nicht.«
Gonzalo ging zwischen den Tischen hindurch, von denen manche leer, manche besetzt waren. Als er den Mann im Eingangsbereich erreicht hatte, streckte er die Hand aus. »Hallo. Ich bin Inspector Gonzalo Soler. Mein Kollege meinte, Sie hätten ein Problem.«
»Ja«, sagte der Mann. »Der da drüben. Mit dem habe ich schon gesprochen.«
»Ich würde gerne hören, was Sie zu sagen haben. Wie heißen Sie?«
»Tomás Contreras.«
»Wohnen Sie in der Stadt?«
»Nein, señor. Ich arbeite auf einer Farm in der Nähe von Sabinas Hidalgo.«
»Das ist etwa eine Stunde von hier, oder? Nicht weit.«
»Nein, nicht weit.«
»Kommen Sie doch mit an meinen Schreibtisch, dann können Sie mir erzählen, was passiert ist.«
Gonzalo ging voraus, holte dem Mann einen Stuhl und ignorierte Pepitos Blick. Er nahm einen Notizblock und einen Stift aus einer Schublade, schlug eine leere Seite auf und schrieb den Namen des Mannes auf.
»Es geht um meine Tochter«, sagte Tomás, als Gonzalo bereit war. »Sie heißt Iris.«
»Wie alt ist sie?«
»Zwanzig.«
»Haben Sie noch andere Kinder?«
»Ja«, sagte Tomás. »Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen, beide jünger.«
Gonzalo wurde klar, dass das Alter des Mannes nur schwer abzuschätzen war. Lange Tage und Wochen und Monate unter der Sonne hatten sein Gesicht gegerbt, Staub schien sich in jede Falte gelegt zu haben. So ähnlich hatte Gonzalos Vater ausgesehen, kurz bevor er gestorben war. »Wo ist Ihre Tochter jetzt?«, fragte er.
»Hier. In Nuevo Laredo.«
»Sie lebt hier?«
»Ja. Seit drei Monaten.«
»Was macht sie hier?«
In dem Moment verzog Tomás so schmerzvoll das Gesicht, dass Gonzalo dachte, der Mann wäre irgendwie verletzt. Er kämpfte ganz offensichtlich mit seinen Gefühlen, in seinen Augen glänzten Tränen. »Verzeihen Sie, Inspector«, sagte er.
»Schon gut. Fangen Sie einfach an, wenn Sie so weit sind.«
Tomás nickte, atmete tief ein und zerrieb die Tränen in seinen Augen mit den Fingerknöcheln. Seine Brust hob und senkte sich. »Ich habe alles schon dem anderen Polizisten erzählt«, sagte er schließlich.
»Ich verstehe, aber ich höre es jetzt zum ersten Mal.«
Der Mann sah Gonzalo an, jede Falte in seinem Gesicht war verzogen. »Meine Tochter … Iris … arbeitet in Boy’s Town, Sir. In Boy’s Town.«