Читать книгу: «Vermisst», страница 4

Шрифт:

12

Das Mittagessen bestand aus Bergen von Bohnen, Reis, Enchiladas, Tortillas, Salat und anderem und wurde an dem langen Holztisch in der großen Küche serviert. Bernardo saß an einem Ende, Jack am anderen. Reina flatterte um sie herum, sorgte dafür, dass alle Teller voll waren und voll blieben und alle genug zu trinken hatten. Sie kam erst zur Ruhe, als Jack darauf bestand, dass sie sich hinsetzte und mit ihnen gemeinsam aß.

Bernardo war Vilmas Bruder. Zwar sah er ganz anders aus als sie, aber in seinen Kindern erkannte Jack die Familienähnlichkeit. Patricia war Vilma so ähnlich, dass sie und Marina Schwestern hätten sein können. Lidia und Bernardino hatten die gleichen Augen. Leandra hatte Pausbacken und Babyspeck. Wenn Jack sie ansah, wandte sie immer schüchtern den Kopf ab.

Sie aßen, bis sie nicht mehr konnten. Auch dann häufte Reina ihnen noch Essen auf die Teller, bis Marina schließlich um Gnade flehte und anbot, beim Abräumen zu helfen. Lidia und Leandra zogen sich in Leandras Zimmer zurück, und Bernardino verschwand wieder vor dem Fernseher. Die Sonne war weitergezogen, der Vorhof lag jetzt fast gänzlich im Schatten. Bernardo holte Bier und ging mit Jack nach draußen.

Er hatte vier Flaschen mitgebracht. Jack nahm eine. »Das ist mein letztes«, sagte er.

»Está bien. Ich trinke den Rest.«

Jack trank, Bernardo trank, die Stille zwischen ihnen vertiefte sich. Ein Truck fuhr knirschend auf der anderen Seite der Mauer vorbei, versank in einem Schlagloch, die Stoßdämpfer jaulten auf.

Bernardo sprach als Erster. »Wie ich höre, läuft in Texas das Baugeschäft im Moment nicht so gut.«

»Stimmt«, sagte Jack. »Ich mache vor allem Renovierungen. Zahlt die Rechnungen.«

»Hier ist es das Gleiche. Niemand will mehr Ziegelsteine kaufen, weil niemand mehr baut. An manchen Tagen verkaufe ich gar nichts. Ich musste einen meiner Männer entlassen.«

»Tut mir leid.«

»So was passiert. Er hatte Verständnis.«

Jack rollte die kalte Flasche zwischen seinen Händen hin und her und dachte nach. »Letzte Woche hatte ich einen guten Mann. Sein Name war Eugenio. Kam aus Anáhuac, war drüben, um Arbeit zu finden.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»La migra«, sagte Jack. »Haben uns angehalten, ihn direkt aus meinem Truck gezogen und sich alle Mühe gegeben, mir Angst einzujagen. Aber sie wissen, wie es ist: Wenn ich Hilfe brauche, muss ich sie holen, wo ich sie kriegen kann.«

»Sie werden ihn abschieben«, sagte Bernardo.

»Wahrscheinlich.«

»Weißt du, die Busse mit los deportados fahren mitten in die Stadt. Sie setzen sie auf der Plaza ab und lassen sie da stehen, mit nichts als dem, was sie gerade dabei hatten, als sie geschnappt wurden. Manche haben gar nichts: kein Geld, nichts. Wo gehen sie hin? Das frage ich mich oft, wenn ich sie sehe.«

»Zurück an die Grenze«, sagte Jack.

»Zurück an die Grenze«, stimmte Bernardo zu. »Innerhalb von vierundzwanzig Stunden sind sie wieder drüben. Oder noch schneller. Sie lassen sich nicht aufhalten, weil sie nichts zu verlieren haben. Aber sie müssen aufpassen: Los Zetas sind wachsam. Wenn die Zetas sie fangen, müssen sie zahlen, und wenn sie nicht zahlen können, muss die Familie zahlen. Und wenn die Familie nicht zahlen kann … sieht es nicht gut für sie aus. Schlimm genug, dass man ihnen schon auf dem Weg nach Norden das Geld abknöpft, aber noch mal ausgenommen zu werden …«

»Eines Tages wird es aufhören«, sagte Jack.

»Hoffentlich. So kann es nicht weitergehen.«

Jack hörte ein Scharren und schaute über seine Schulter. Marina war gekommen. »Alles ist aufgeräumt. Geht’s euch gut hier draußen?«

»Prima«, sagte Jack.

»Ich wollte mit Patricia einkaufen gehen. Ist das in Ordnung?«

Jack wandte sich an Bernardo. »Was sagst du?«

Bernardo zuckte die Achseln. »Das Geschäftsviertel wird bewacht. Überall Armee und Polizei. Ihnen wird nichts passieren.«

»Okay«, sagte Jack. »Aber bleibt da, wo Patricia sich auskennt. Treibt euch nicht irgendwo herum.«

»Machen wir nicht.« Marina gab Jack einen Kuss auf die Wange und verschwand.

Jack seufzte. »Und es ist da wirklich sicher?«

»So sicher wie überall heutzutage.«

Bernardo trank das zweite Bier aus und griff zur dritten Flasche. Die goldene Flüssigkeit fing das Licht ein, und Jack verspürte Durst. »Ich hol mir was anderes zu trinken«, sagte er.

»Klar. Ich halte dir den Platz frei, keine Sorge.«

Im Wohnzimmer traf er auf Marina und Patricia, die gerade gehen wollten. »Bis später«, sagte Marina.

»Wie lange seid ihr weg?«

»Ein paar Stunden.«

»Gut. Denk daran, was ich gesagt habe.«

»Mit mir ist sie sicher«, sagte Patricia.

»Ich verlass mich drauf. Viel Spaß.«

Reina saß in der Küche an dem großen Tisch vor einem aufgeschlagenen Buch und hatte immer noch die Schürze umgebunden. Sie sah auf. Sie und Jack sprachen Spanisch miteinander. Bernardo und Patricia sprachen fließend Englisch, auch die Kleinen konnten sich unterhalten, doch Reina hatte die Sprache nie gelernt. »Hallo, Jack. Ist alles in Ordnung?«

»Ich wollte bloß fragen, ob du ein bisschen limonada oder so hast. Da draußen ist es trocken.«

»Natürlich.«

Der Kühlschrank war klein und alt. Reina holte einen Plastikkrug heraus und schenkte Limonade in ein Konservenglas, das als Trinkbecher diente. Jack hatte keine Angst, für ihn war mexikanisches Wasser genauso gut wie das aus seinem eigenen Hahn. »Danke«, sagte er.

»Ist Bernardo schon betrunken?«, fragte Reina.

»Vielleicht ein bisschen«, sagte Jack.

»Ich sage ihm immer, er soll sich ein Beispiel an dir nehmen und weniger trinken. Aber er hört nicht auf mich.«

»Es ist bei ihm was anderes als bei mir«, sagte Jack.

»Jack, wer so gelitten hat wie du, hätte leicht diesen Weg nehmen können.«

»Vielleicht.«

»Du warst stark und bist da rausgekommen.« Reina trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sie war eine kleine Frau, viel kleiner als er, doch sie hatte eine Unbeugsamkeit an sich, die sie größer und stärker erscheinen ließ. »Du hättest die Mädchen niemals im Stich gelassen. Ich habe dir das nie gesagt, aber ich habe es gewusst. Jedes Mal, wenn ich dich und die Mädchen sehe, danke ich Gott, dass Er dich zu Vilma geschickt hat. Ihr seid immer in meinen Gebeten.«

Er spürte, dass ihm heiß wurde, doch er entzog sich nicht. »Ich bin froh, dass jemand für mich betet«, sagte er schließlich. »Ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann.«

Vielleicht sah Reina es seinem Gesicht an oder spürte es durch die Berührung, denn sie nahm ihre Hand weg und trat einen Schritt zurück. »Es ist immer schön, wenn du hier bist, Jack«, sagte sie.

In ihren Worten und ihrer Berührung hallte Vilma wider, und Jack vermisste seine Frau in diesem Moment so stark wie lange nicht. Er verdrängte das Gefühl und sagte: »Ich komme auch gern.«

»Sag meinem Mann no más cervezas, wenn er ausgetrunken hat.«

»Mach ich.«

Bernardos Flaschen waren leer, als Jack zurückkam. Er beobachtete eine Motte, die verwirrt zwischen Licht und Schatten hin und her flatterte. Der Hof wirkte auf einmal sehr klein, und Jack fragte sich, wie Marinas und Lidias Leben aussehen würde, wenn sie hier aufgewachsen wären anstatt bei ihm. Wären sie anders? Schwer zu sagen. Sie waren amerikanische Mädchen, amerikanisch erzogen, hatten aber immer noch einen Fuß in Mexiko. Das hatte Jack Vilma versprochen, und Tage wie dieser belohnten ihn dafür.

»Reina glaubt, du betrinkst dich hier draußen«, sagte Jack und setzte sich.

»Unsinn. Um betrunken zu werden, bräuchte es einiges mehr. Sie kennt mich kein bisschen.«

Irgendwo in der Ferne heulte eine Polizeisirene auf und verstummte sofort wieder. Jack dachte automatisch an Marina. Er überlegte, sie auf dem Handy anzurufen, nur um sicherzugehen, dass alles okay war, aber sie würde ihn nur auslachen.

Als hätte er Jacks Gedanken gelesen, sagte Bernardo: »Es ist nichts. Wenn wirklich was passiert wäre, würde man viele Sirenen hören. Die Polizei schwärmt dann aus wie Heuschrecken.«

»Macht der Gewohnheit«, sagte Jack und bemühte sich zu lächeln.

»In dieser Stadt lernt man schnell, Geräusche zu unterscheiden. Da eben wurde vermutlich irgendein Verkehrssünder angehalten. Das macht la policía gerne: Strafzettel verteilen. Wenn sie nur halb so gut darin wären, narcos zu fangen wie Knöllchen zu verteilen, wäre der ganze Spuk morgen vorbei.«

»Es ist überall das Gleiche«, sagte Jack, auch wenn das nicht stimmte.

13

Am Abend waren die Fahrbahnen in Richtung Norden nicht weniger voll als am Morgen. Jack hatte den Übergang auf dieser Seite noch nie leer gesehen, immer standen die Fahrzeuge dicht an dicht: beladene LKWs, Mexikaner auf Reisen, dazwischen eingeklemmte Amerikaner. Ein großer Lieferwagen mit einem Früchtelogo auf der hinteren Tür versperrte Jack die Sicht. Er stellte das Radio an, leise Musik ertönte. Die Mädchen schwiegen. Die Klimaanlage spuckte gelegentlich kleine Tropfen Kondenswasser aus den Lüftungsklappen.

»Jack«, sagte Marina.

»Ja?«

»Ich wollte dich was fragen.«

»Klar, was denn?«

»Patricia hat erzählt, dass sie in ein paar Wochen auf ein Konzert geht. Sie kann Karten für uns beide besorgen, wenn ich mit will. Die Band soll echt gut sein.«

»Ein Konzert? Hier in Nuevo Laredo?«

»Ja. Es ist nicht weit von tío Bernardos Haus. Patricia sagt, sie geht mit ein paar Freunden hin, und ich bin eingeladen.«

Jack warf Marina einen Seitenblick zu und merkte, dass sie ihn eindringlich ansah. Sein Hirn mahlte, um die richtigen Worte zu finden. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht.«

»Es wird nichts passieren«, sagte Marina. »Wir gehen zusammen mit drei oder vier anderen Mädchen. Allerdings findet das Konzert am Freitagabend statt.«

»Ein Konzert am Abend?«, fragte Jack. »Keine Chance. Wenn es tagsüber wäre, dann könnten wir vielleicht darüber reden, aber du gehst nachts nicht über die Brücke.«

»Wirklich, Jack, es ist nicht gefährlich. Wir sind eine große Gruppe. Und es wird auch nicht wirklich spät sein. Wahrscheinlich ist es dann noch hell.«

»Ich mache mir nicht Sorgen um das Licht. Du weißt, was hier drüben los ist.«

»Tío Bernardo geht es doch gut.«

Jack trommelte auf das Lenkrad. »Bernardo ist vorsichtig, alle in der Familie sind vorsichtig. Sie gehen keine Risiken ein. So vermeidet man Ärger. Ich lasse dich nicht nachts auf ein Konzert gehen. Das ist zu gefährlich.«

Marina warf sich im Sitz nach hinten. »Ich wusste, dass du Nein sagst. Ich hab’s ihr gesagt.«

»Ich würde gerne Ja sagen. Aber ich muss das Richtige tun. Du bist siebzehn und solltest dich nicht alleine in der Stadt rumtreiben.«

»Aber ich wäre nicht allein, darum geht es doch! Patricia ist die ganze Zeit dabei. Und sie ist volljährig.«

»Gerade so.«

»Auf jeden Fall ist sie erwachsen.«

Jack merkte, dass Lidia auf dem Rücksitz so tat, als würde sie nicht zuhören. Er wünschte sich, der Lastwagen vor ihm würde endlich in die Gänge kommen, damit sie über die Brücke und am Zoll vorbeifahren konnten, bevor er wieder etwas sagen musste. Marina strahlte Gereiztheit aus, als wäre es Hitze.

Und sie ließ nicht locker. »Wie gesagt, ich will ja nicht wild feiern. Ich würde zu tío Bernardo fahren, Patricia abholen und aufs Konzert gehen. Danach essen wir irgendwo etwas und übernachten bei tío Bernardo. Am Morgen fahre ich wieder zurück.«

»Marina –«

»Es sind jede Menge Cops unterwegs! Das hättest du heute mal sehen sollen. Polizisten. Soldaten. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, gehen wir direkt zur Polizei.«

»Ich weiß nicht«, sagte Jack.

»Komm schon, Jack, es ist nur ein Konzert. Wenn die Schule wieder anfängt, habe ich keine Zeit mehr für irgendwas. Ich bitte dich nie um was!«

»Ohne beglaubigte Genehmigung von mir kommst du nicht mal über die Grenze«, sagte Jack.

»Dann besorgen wir uns eine. Die Beglaubigung kann man sich in diesem Büro in der Mall besorgen.«

»So leicht ist das, wie?«, fragte Jack.

»Es muss ja nicht schwer sein.«

»Kapierst du nicht, dass hier drüben Krieg herrscht? Die Polizisten und Soldaten schwirren ja nicht grundlos überall herum. Was du da willst … da geht’s nicht bloß um ein Konzert.«

»Du vertraust mir, oder?«

»Es geht auch nicht um Vertrauen. Ich weiß, dass du keine Dummheiten machen würdest.«

»Was ist dann das Problem?«

Jack bemühte sich, nicht finster dreinzuschauen, doch sein Gesicht hatte sich verzogen. Der LKW vor ihnen schob sich kaum einen Zentimeter vorwärts. »Verdammt noch mal«, sagte er laut.

»Ich verspreche, dass ich dich dieses Jahr um nichts anderes mehr bitte«, sagte Marina. »Ehrlich. Wenn doch, kannst du mir einen Monat Hausarrest geben.«

»Du versprichst, dich genau an das zu halten, was ich dir sage?«, fragte Jack. »Keine Umwege, kein Ups, hab ich vergessen, sondern genau das, was wir absprechen?«

»Versprochen. Heiliges Ehrenwort.«

»Ich muss irre geworden sein«, sagte Jack. »Deine Mutter hätte dich das niemals machen lassen. Ich kann hören, wie sie mich gerade für verrückt erklärt.«

»Mom hätte überhaupt nichts dagegen«, sagte Marina.

»Meinst du, ja?«

»Jack, ich möchte wirklich gern hingehen. Es wird Spaß machen, und ich erlebe mal ein Abenteuer.«

»Nein«, sagte Jack. »Keine Abenteuer. Das wird das Gegenteil von einem Abenteuer. Und wenn ich rausfinde, dass du was getrunken hast oder so, dann kannst du jegliches Abenteuer ein für allemal vergessen.«

»Ich habe verstanden.«

Jack betrachtete sie. Sie biss sich auf die Lippe, wie Vilma es immer getan hatte. Sie waren sich so ähnlich. »Ich sage vielleicht. Ich sage nicht Ja. Wann ist das Konzert?«

»In zwei Wochen.«

»Ich denke darüber nach und spreche mit Bernardo, und wenn ich überzeugt bin, dass dir nichts passieren kann, dann werde ich mich entscheiden. Aber wenn ich Nein sage, gilt das. Keine weiteren Diskussionen.«

»Okay. Danke, Jack.«

»Bedank dich nicht zu früh.«

14

Jack arbeitete den größten Teil der Woche allein im Haus des Anwalts. Das Home Depot mied er geflissentlich. Wenn er doch daran vorbeifahren musste, wandte er den Blick ab, um nicht sehen zu müssen, ob sich Eugenio unter den dort wartenden Männern befand.

Eines Nachmittags fuhr er zu dem Büro in der Mall und ließ sich eine getippte Genehmigung beglaubigen, die es Marina erlaubte, zu einem bestimmten Zeitpunkt alleine die Grenze zu überqueren. Marina umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Jack versuchte, sich keine Sorgen zu machen.

Er bekam weitere Renovierungsaufträge. Die nächsten drei Monate würde er genug zu tun haben. Das war gut, regelmäßige Arbeit bedeutete ein regelmäßiges Einkommen. Wenn eines Tages weniger Jobs reinkamen, musste er von dem leben, was er seit Vilmas Tod angespart hatte. Er bezahlte immer noch ihre Arztrechnungen ab.

Er genoss seine Feierabendbiere, ging zeitig ins Bett und wachte früh auf. Der Kalender zeigte an, dass bald wieder die Schule beginnen würde. Die Mädchen hatten sich die Bücherliste besorgt, und Jack brachte im Walmart ein paar Stunden damit zu, alles Benötigte für das neue Schuljahr zusammenzusuchen. Früher hatte die Schule selber die Materialien gestellt, doch das war lange vorbei, das Geld zu knapp. Die Schulen mussten jeden Dollar zusammenkratzen, genau wie die Männer auf dem Parkplatz vom Home Depot.

Marina kaufte sich von ihrem ersten Lohn ein neues Kleid. Jack fand, es zeigte zu viel Haut an Schultern und Beinen, aber Marina lachte ihn nur aus. Vielleicht wurde er doch langsam ein alter Mann, der sich über harmlose Dinge aufregte. Als Marina ankündigte, das Kleid zum Konzert zu tragen, schlug er nur vor, einen dünnen Pulli mitzunehmen, um sich ein wenig zu bedecken. Natürlich würde sie das nicht tun. Selbst wenn er ihr den Pulli eigenhändig über den Kopf zöge.

15

Das Telefon auf Gonzalos Schreibtisch klingelte zweimal. Er nahm ab. »Soler.«

»Ist da Inspector Gonzalo Soler?«, fragte ein Mann, dessen Stimme Gonzalo nicht erkannte.

»Ja. Wer spricht da?«

»Valdez. Ich arbeite in La Zona.«

»Was kann ich für Sie tun, Oficial Valdez?«

»Ich glaube, Sie sollten herkommen.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

»Worum geht es?«

»Das sehen Sie sich besser selbst an.«

Nur Pepito bekam mit, dass Gonzalo seinen Schreibtisch verließ. »Ich bin bald wieder da«, sagte Gonzalo. »Ich muss nach La Zona.«

»Was ist los?«

»Keine Ahnung.«

»Viel Glück.«

Die Fahrt nach Boy’s Town dauerte nicht lange, diesmal fuhr er durch das Tor und parkte am Polizeirevier. Zwei Polizisten in Uniform standen vor der Tür und winkten ihm zu, als hätten sie ihn schon erwartet. Einer kam auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. »Herminio Valdez.«

»Gonzalo Soler. Was ist denn los?«

»Kennen Sie einen Mann namens Tomás Contreras?«

»Ja, kenne ich.«

»Dann kommen Sie mal mit.«

Valdez führte Gonzalo über die Circunvalación Casanova zu einem Platz, den Gonzalo sofort erkannte, nur stand diesmal ein Krankenwagen auf der Straße, außerdem weitere Polizisten und Sanitäter in neongelben Westen. Gonzalo wusste schon, was er gleich sehen würde: die Leiche von Tomás Contreras in einer Blutlache, eine Hand vor sich ausgestreckt, als hätte er die Kugeln auffangen wollen.

Im Hintergrund bemerkte Gonzalo eine Gestalt. In der offenen Tür mit der Nummer 9 stand Iris Contreras mit einer Decke um die Schultern. Beide Augen waren blaugeschlagen und vom Weinen verquollen. Ein Polizist war dabei, sie zu befragen.

»Was zum Teufel ist passiert?«, wollte Gonzalo von Valdez wissen.

»Das Mädchen sagt, ihr Vater wurde erschossen. Den Mörder konnten wir verhaften«, erwiderte Valdez. »Sie sagt, ihr Vater wäre heute gekommen, um sie nach Hause zu holen, und ist dabei Enrique Guerrero begegnet. Das ist der Zuhälter des Mädchens. Die Männer sind in Streit geraten, es kam zu einem Kampf, und Guerrero hat Contreras aus dem Haus geworfen. Als er nicht gehen wollte, hat Guerrero ihn erschossen.«

»Zeugen?«

»Die Tochter. Sie hat versprochen, umfänglich auszusagen.«

Einer der Notfallmediziner holte einen schwarzen Leichensack aus Plastik aus dem Wagen und breitete ihn neben Tomás Contreras auf dem Boden aus. Zusammen mit seinem Kollegen legte er die Leiche hinein und zog den Reißverschluss zu.

»Kann ich mit dem Mädchen sprechen?«

»Klar. Sobald wir am Tatort fertig sind, kriegen Sie den ganzen Fall übergeben. Die Tochter hat uns Ihren Namen genannt.«

»Danke«, sagte Gonzalo und ging zu Iris.

Er bat den Polizisten, der mit ihr sprach, sie mit ihm allein zu lassen. Iris wirkte bedeutend magerer als bei ihrem letzten Treffen, obwohl das nicht lange her war. Die dunklen Prellungen in ihrem Gesicht sahen schmerzhaft aus.

Gonzalo musste fragen. »Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Zu Hause ist kein Platz für mich.«

»Ihr Vater –«

»Hat mich eine Hure genannt und mich geschlagen. Hier bin ich besser dran. Ich bin so schnell wie möglich zurückgekommen.«

»Und jetzt ist Ihr Vater tot.«

»Ja.«

Sie schaute zum Leichensack hinüber. Die Mediziner hoben ihn an beiden Enden hoch, trugen ihn zum Krankenwagen und hievten ihn hinein. Gonzalo sah nur kurz hin. »Haben Sie das gewollt?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht.«

»Glauben Sie, Sie wären jetzt frei, weil Ihr Vater tot ist und Ihr Zuhälter ins Gefängnis wandert?«

»Ich weiß es nicht.«

»Es wird ein anderer kommen, Iris«, sagte Gonzalo. »Und dann noch einer und noch einer. Es ist nicht zu Ende.«

»Ist mir egal«, sagte Iris.

»Hören Sie mir zu, Iris«, sagte Gonzalo.

Die Türen des Krankenwagens wurden geschlossen. Iris blinzelte und schaute weg. Als sie sich Gonzalo zuwandte, merkte er, dass sie meilenweit weg war, in einer völlig anderen Welt. Er wollte fragen, auf was für Drogen sie war, aber es war egal. Sie würde lügen, und er würde wütend werden, und sie würden nicht weiterkommen.

»Ich will hier bleiben«, sagte Iris schließlich.

»Nein.«

»Doch.«

Gonzalo ließ die Hände sinken. Es hatte keinen Sinn zu streiten. »Dann sollen Sie Ihren Willen bekommen. Viel Glück, Iris. Ich melde mich, wenn wir Ihre Aussage brauchen.«

»Auf Wiedersehen«, sagte Iris.

Sie drehte sich im Türrahmen um und verschwand in der Dunkelheit. Gonzalo sah ihr nach.

1 886,45 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
341 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783948392031
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Аудио
Средний рейтинг 4,2 на основе 352 оценок
Черновик
Средний рейтинг 5 на основе 104 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,6 на основе 680 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 141 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 1805 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 482 оценок
По подписке
Текст
Средний рейтинг 3,9 на основе 9 оценок
18+
Текст
Средний рейтинг 4,9 на основе 313 оценок
По подписке
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 977 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок