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8
Jack kam früh nach Hause. Die Mädchen waren noch bei ihren Freundinnen oder in der Mall, oder wo immer sonst sie sich die freien Spätsommernachmittage vertrieben. Er stellte das Radio in seinem Schlafzimmer so laut, dass er es bei geöffneter Badezimmertür unter der Dusche hören konnte, und sang aus voller Kehle mit, schließlich hörte ihn niemand. Er entdeckte einen Schnitt an seiner Hand, der ihm vorher nicht aufgefallen war, und säuberte ihn. Handwerkerhände waren immer dreckig, eine Entzündung konnte er nicht gebrauchen.
Nach dem Duschen zog er sich an und ging nach hinten in den Garten, zupfte eine halbe Stunde lang Unkraut und warf die Pflanzen in eine alte, verrostete Schubkarre, die früher knallorange gewesen war. Dann schob er die Karre vor das Haus und machte dort weiter. Am Wochenende würde er den Rasenmäher herausholen und das Gras richtig schneiden.
Irgendwie kam ihm die Schubkarre schwerer vor, als er sie wieder nach hinten rollte, was nicht an den welkenden Pflanzen lag, sondern an seiner plötzlich düsteren Stimmung. Er leerte den Inhalt der Karre in die Mülltonne und stellte sie in die Garage zurück.
Im Haus war es sehr still. Jack stellte sich vor, wie es sein würde, wenn Marina und Lidia ausgezogen wären, was seine trüben Gedanken nur verstärkte.
Wenn die Schule wieder anfing, würde Marina in ein Community College gehen, irgendwo in der Nähe. Sie würde zu Hause wohnen und in ihrem Bett schlafen, und Jack würde für sie sorgen, wie er es immer getan hatte. Das Gleiche galt für Lidia. Er hatte es ihnen nie gesagt, aber sie wussten, so lange er lebte, waren sie bei ihm immer zu Hause. Das hatte er Vilma versprochen, und er würde sich daran halten.
»Bier«, sagte er laut. Er holte eine Flasche und ließ sie schwitzen, bevor er sie öffnete. Dann setzte er sich auf den alten La-Z-Boy-Sessel im Wohnzimmer und starrte die dunkle Mattscheibe des Fernsehers an. Er konnte das Parfüm riechen, das Lidia neuerdings trug. Das Sofa war wie ihre Kommandozentrale, sie legte die Füße hoch und lebte per Handy.
Er hörte Marinas Wagen in der Auffahrt und wartete. Die Schlüssel klimperten. Sie kam herein und sah ihn.
»Du trinkst alleine?«, fragte sie.
»Nur eins«, sagte er.
»Ich hab die Flaschen im Kühlschrank gezählt, ich weiß also, wenn du lügst«, erwiderte sie und hängte ihre Tasche an den Haken neben der Tür.
»Hast du nicht«, sagte er.
»Vielleicht nicht, vielleicht doch. Wer weiß.«
»Das ist das erste und einzige Bier«, wiederholte Jack.
»Ich glaube dir.«
Marina kam ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Jack sah, dass sie eine neue Bluse und frische Jeans und Pumps anstelle von Turnschuhen trug. »Hübsch siehst du aus«, sagte er.
»Ach, das? Ich bin bei dem Ohrringladen vorbeigegangen, von dem ich dir erzählt hatte, und habe mit der Managerin gesprochen. Ich wollte professionell wirken, weißt du?«
»Klar, verstehe ich.«
»Sie hat gesagt, ich kann nächsten Dienstag zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Sie meinte, das ist bloß eine Formalität, aber so sind die Regeln.«
Jack nickte. Es war nur noch ein Schluck Bier in der Flasche, er hob sie an den Mund.
»Es werden nur ein paar Stunden sein, vielleicht zehn pro Woche. Aber das ist für den Anfang gut, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Ginny sagt, eins von den anderen Mädchen kündigt vielleicht bald, dann könnte ich auch ihre Stunden übernehmen. Dann kommt was zusammen.«
»Mhm«, stimmte Jack zu. »Weißt du, wo deine Schwester ist?«
»Mit Saundra unterwegs, glaube ich. Sie wollten ins Kino gehen.«
»Solange sie zum Abendessen zu Hause ist.«
»Keiner verpasst das Abendessen, Jack«, sagte Marina und stand auf. »Soll ich dir noch ein Bier holen?«
»Wenn du mir vertraust.«
»Wie gesagt: Ich hab sie abgezählt.«
»Okay, ich nehme noch ein Bier.«
»Kommt sofort.«
9
Manche nannten es »Boy’s Town«, aber in Nuevo Laredo war es als La Zona bekannt. Drei Straßenblöcke, von einer Mauer umgeben, eine kleine Stadt. Sogar ein Polizeirevier gab es, schichtweise von zwei Beamten besetzt. Hauptsächlich diente es zur Unterbringung von Betrunkenen, bis sie abgeholt und in eine der größeren Einrichtungen in der Innenstadt gebracht wurden.
Das Revier befand sich direkt am Eingang, ein Metallschild bezeugte seine Existenz, allerdings sparten sich die wachhabenden Polizisten das Streifegehen. La Zona war für Toleranz bekannt, Prostitution und Sexshows florierten, es gab Geschäfte und Zimmer zur Miete für Touristen und Einwohner. Bars und Restaurants säumten die Straßen, dazwischen lagen Bordelle und Stripclubs, sogar die berüchtigte Donkey Show war im Angebot. Für die Polizei war La Zona ein Ort des Lasters und der Verbrechen, aber es kamen auch Paare zum Tanzen oder Arbeiter auf ein billiges Feierabendbier hierher. Tagsüber war La Zona von Verkaterten und Geistergestalten bevölkert.
Gonzalo parkte vor dem Tor und ging den Rest des Wegs zu Fuß. Er überlegte kurz, sich bei seinen wachhabenden Kollegen zu melden, aber sie konnten ihm bei seiner Aufgabe nicht helfen, er würde nur ihre Zeit verschwenden. Er trug seinen Dienstausweis und seine Waffe bei sich, was im Zweifel nicht viel nützen würde, aber reichen musste. Vermutlich würde er sie nicht brauchen.
Er folgte der Circunvalación Casanova, die eine Art Ring um La Zona bildete. Tomás Contreras hatte ihm den Weg so gut beschrieben, dass er ihn leicht fand. La Zona war wie ein Kaninchenbau, aber wie alle Kaninchenbauten nicht endlos, es gab nur eine beschränkte Zahl von Versteckmöglichkeiten. Erst recht, wenn Sichtbarkeit zum Geschäft gehörte.
Auf der linken Seite einer langen, ungepflasterten Straße reihten sich heruntergekommene, weiß getünchte Häuser aneinander. Zwischen ihnen führten hinter schmalen Türen Außentreppen nach oben. Keines der Häuser hatte mehr als zwei Stockwerke. Nur wenige Wohnungen waren nummeriert. Gonzalo suchte nach einem Gebäude, auf das die Zahl 9 gepinselt worden war.
Iris Contreras Behausung lag im oberen Stock. Die Treppe war so schmal, dass Gonzalos Schultern die Wände berührten. Die Stufen endeten direkt vor der Tür, einen Treppenabsatz gab es nicht. Gonzalo stand unbeholfen auf der letzten Stufe und klopfte zweimal an die Tür.
Da sich nichts regte, versuchte er es erneut. Möglicherweise war sie nicht zu Hause, oder von der letzten Nacht zu müde, um sein Klopfen überhaupt zu hören. Gonzalo wartete.
Nach einer Weile hörte er das Patschen von Füßen auf dem Boden und spürte, dass auf der anderen Seite der Tür jemand stand. Eine Stimme erklang. »Wer ist da?«
»Iris Contreras?«
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Gonzalo Soler. Ich bin Polizist.«
»Was will die Polizei von mir?«
»Bitte machen Sie die Tür auf.«
Es folgte eine lange Pause, dann rasselte eine Kette, und die Tür wurde geöffnet. Dahinter war es dunkel. Eine junge Frau erschien im Türrahmen.
Iris war keine Schönheit, aber Dunkelheit und Schminke würden sie in eine verwandeln. Sie war so schmal wie ihr Vater und hatte weder große Brüste noch breite Hüften. Sie trug ein einfaches weißes Nachthemd und war barfuß. »Was wollen Sie?«, fragte sie.
»Darf ich reinkommen?«
»Ich habe gerade frei.«
»Kann ich trotzdem reinkommen?«
»Ich will Ihren Ausweis sehen.«
Erst als Gonzalo ihn hochhielt, öffnete sie die Tür. Gonzalo trat in die Düsternis.
Ein winziges Zimmer ohne Küche oder Bad, immerhin gab es ein kleines Waschbecken. Vor das einzige schmale Fenster war ein vergilbter Papierbogen geklebt worden. Der größte Gegenstand im Zimmer war das Bett, und selbst das war klein. Es stank nach Zigaretten und Schweiß. In einem Eimer neben dem Bett lag eine dicke Schicht Kippen.
Iris schloss die Tür. »Ich habe nichts Falsches getan.«
»Ich bin nicht hier, um Sie festzunehmen, keine Sorge«, sagte Gonzalo.
»Warum denn dann?«
»Warum setzen Sie sich nicht?«
Das Mädchen sah ihn säuerlich an und ließ sich auf dem Bett nieder. Ihr Haar war zerzaust. Es war Mittag, aber sie sah aus, als hätte sie nur wenig Schlaf gehabt. Was vermutlich stimmte.
»Ihr Vater war gestern bei mir«, sagte Gonzalo.
»Mierda.«
»Er macht sich große Sorgen um Sie. Ihre Mutter und Ihre Geschwister ebenfalls. Er hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen.«
»Wieso?«
»Ich glaube, das wissen Sie«, sagte Gonzalo.
»Ich gehe nicht nach Hause.«
Gonzalo sah sie an. Sie wirkte jünger als zwanzig. »Ist es dort so schlimm?«
»Grauenhaft. Kein Geld, nichts zu essen. Den ganzen Tag schuften, wie meine Mutter und Schwester, um von nichts zu leben. Und niemand hat Arbeit.«
»Ihr Vater arbeitet.«
»Im Moment. Aber wenn die Trockenheit anhält, entlässt die Farm alle Arbeiter, dann haben wir keine Chance mehr. Als ich hergekommen bin, hab ich ihnen einen Gefallen getan.«
»Es gibt andere Jobs in der Stadt. Die maquiladoras –«
»Sind schon voll mit Mädchen vom Land, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen. Hier ist es nicht wie in Juárez, wo es immer irgendwas gibt. Ich habe einen Job gefunden und verdiene gutes Geld.«
Sie hatte recht, Ciudad Juárez war zwar viel gefährlicher, aber auch größer und geschäftiger und bot mehr Möglichkeiten. Nuevo Laredo würde nie so werden, es würde immer ein Durchgangsort bleiben, den der Grenzhandel am Leben hielt, dem er aber keinen Wohlstand brachte.
Gonzalo sah sich in dem heruntergekommenen Zimmer um. Die Wände waren von Wasserflecken verfärbt, vermutlich waren sie das letzte Mal vor Iris’ Geburt gestrichen worden, die Farbe war abgeplatzt und heruntergerieselt. »Was ist in Ihren Augen gutes Geld?«, fragte er.
»Sechshundert Pesos.«
»Pro Kunde?«
»Natürlich.«
»Wie viele Kunden haben Sie pro Nacht?«
»Ich zähle nicht.« Iris wandte den Blick ab.
Gonzalo ließ nicht locker. »Wie viele?«
»Keine Ahnung. Zehn. Fünfzehn.«
»In diesem Loch«, sagte Gonzalo. »Was zahlen Sie pro Nacht dafür? Dreitausend Pesos? Viertausend? Wie viel bleibt Ihnen dann?«
»Hauen Sie ab!«, rief Iris. »Ich muss mich nicht rechtfertigen.«
»Hat sich schon jemand gemeldet, der auf Sie ›aufpassen‹ will?«, fragte Gonzalo. »Das ist nämlich nur eine Frage der Zeit. Keine Frau arbeitet hier lange allein. Irgendwann taucht ein Typ auf und sagt, wenn er fünfzig Prozent abbekommt, kümmert er sich um die bösen Kunden. Und wenn Sie ablehnen, erhöht sich der Anteil, außerdem wird er Sie schlagen. Freuen Sie sich darauf?«
Sie hatte den Blick gesenkt, und Gonzalo kannte die Antwort. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie tonlos.
»Es ist also bereits passiert«, sagte er. »Und es wird nicht aufhören. Jede Nacht das Gleiche, bis Sie nicht mehr jung genug sind, nicht mehr gesund genug … und dann wird man Sie wegjagen und Sie dahin zurückschicken, wo Sie hergekommen sind. Pleite, süchtig oder in welchem Zustand auch immer.«
»Bitte gehen Sie«, sagte Iris.
»Ich gehe, wenn Sie Ihre Sachen gepackt haben und mit mir kommen.«
»Was ich mache, ist nicht illegal!«
»Nein. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht falsch ist.«
Iris hob den Kopf, blickte ihn aus feuchten Augen an und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »Wollen Sie die ganzen anderen Mädchen etwa auch retten?«
»Nein.«
»Würden Sie es tun?«
»Nein. Ich bin hier, weil Sie eine Familie haben, die Sie liebt. Und weil es noch nicht zu spät ist, um es wiedergutzumachen. Es gibt Dinge, die man nie wiedergutmachen kann.«
Sie starrten einander an. Eine Träne rollte über Iris’ Wange, gefolgt von weiteren, bis sie Gonzalos Blick nicht länger ertrug und in heftiges Schluchzen ausbrach. Gonzalo biss sich auf die Zunge.
Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie: »Ich besitze nicht viel.«
»Was Sie haben, reicht. Ich bin sicher, dass es Ihrem Vater nichts ausmacht.«
»Warten Sie draußen auf mich?«, fragte Iris.
»Natürlich.« Gonzalo verließ das stinkende Zimmer und ging die Treppe hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen.
10
Am Samstagmorgen zog sich Jack nicht gleich an, sondern machte sich in Schlafshorts und T-Shirt in der Küche einen Kaffee, setzte sich damit in seinen Sessel und blätterte ein paar der Promimagazine durch, die Lidia so mochte. Er erkannte weder die Gesichter noch die Namen, aber eine menschelnde Story über eine Familie, die durch eine Spendensammlung in der Nachbarschaft vor der Zwangsvollstreckung gerettet worden war, hielt sein Interesse eine Zeit lang gefangen.
Sein eigenes Haus war noch nicht abbezahlt, aber die Hypotheken überschaubar, und er kam den Zahlungen nach. Anfallende Reparaturen erledigte er selbst. Manchmal holte er die Mädchen dazu. Eines Tages würden sie sich selber um solche Dinge kümmern müssen, und er wollte nicht, dass sie dann von anderen abhängig waren. Seine Mädchen wussten sich zu helfen.
Als er hörte, dass sie wach wurden, ging er in die Küche und machte Frühstück. Samstags gönnten sie sich Pfannkuchen und Rührei mit Speck, dazu Milch und Orangensaft. Lidia und Marina kamen in Schlafanzügen an den Tisch, wie kleine Kinder.
»Heute besuchen wir Onkel Bernardo«, sagte Jack.
»Ist das heute?«, fragte Marina. »Lidia und ich wollten schwimmen gehen.«
»Nein, das ist heute, also macht euch fertig, in einer Stunde fahren wir. Macht euch hübsch für eure Cousins, ja?«
Jack zog seine beste Jeans und ein Arbeitshemd ohne Löcher an, dazu die guten Stiefel, nicht die abgewetzten Stahlkappenschuhe, die er zur Arbeit trug. Die Mädchen erschienen sauber, gekämmt und in helle Farben gekleidet. Sie zogen sich nicht mehr an wie früher zu Ostern, aber im Geiste sah Jack sie noch immer so: in Rüschenkleidern und Schnallenschuhen.
»Okay, los geht’s.«
Der kühle Morgen verwandelte sich bereits in einen heißen Vormittag. Jack stellte die Klimaanlage im Truck an. Früher hatten beide Mädchen hinten gesessen, als wäre er ihr Chauffeur, inzwischen saß Marina vorne neben ihm. Lichtreflektionen blitzten an ihrer Sonnenbrille auf und tanzten in Jacks Augenwinkeln.
Sie fuhren zur Laredo International Bridge und reihten sich in die kurze Schlange der Wagen ein, die die Brücke in südliche Richtung überqueren wollten. In der Gegenrichtung, von Mexiko in die USA, füllten die Wartenden vier Fahrspuren.
Schon seit Generationen fuhr man nach Nuevo Laredo, wenn man billig einkaufen oder Ablenkung und ein bisschen Spaß haben wollte. Jack erinnerte sich an viele Karnevalsfeiern und Konzerte auf den Plätzen der Stadt. Auf einer Cinco de Mayo Fiesta hatte er zum ersten Mal auf einem Pferd gesessen. Für ein paar Centavos hatte ihn ein alter Mann auf das schunkelnde Tier gesetzt und ihn in einem großen Kreis durch den Korral geführt. Jack hatte sich für einen Cowboy und den Klepper für einen Hengst gehalten.
Jetzt war alles anders. Früher war der Fußgängerübergang samstags voller Touristen gewesen, heute waren nur wenige zu sehen, und die schienen die Überquerung eher widerwillig anzutreten. Die Kennzeichen der Wagen vor Jack stammten fast alle aus Mexiko und dem Bundesstaat Tamaulipas. So war es immer.
Zuerst wurden die Autos auf der amerikanischen Seite angehalten. Uniformierte Grenzschützer patrouillierten zwischen den Fahrzeugen hin und her, führten Suchhunde an den Fahrbahnen entlang, redeten mit den Fahrern. Ein dunkelhäutiger Latino winkte Jack vorwärts und hob dann die Hand. Jack hielt an und ließ das Fenster herunter. Warme Luft drang herein.
»Guten Morgen, Sir«, sagte der Grenzbeamte. Auf seinem Namensschild stand GALLEGO. »Sie wollen nach Mexiko?«
»Ja.«
»Was ist der Anlass Ihrer Reise?«
»Wir besuchen Verwandte.«
»Wer sind die Mädchen, die bei Ihnen sind?«
»Meine Stieftöchter.«
»Haben Sie Pässe oder andere Ausweispapiere bei sich?«
»Ja, wir haben alle Pässe.«
»Darf ich die bitte sehen?«
Jack reichte sie ihm. Im Seitenspiegel sah er, dass eine Grenzbeamtin einen Schäferhund am Truck entlangführte. Der Hund schnüffelte, schlug aber nicht an.
Ihr Kollege Gallego inspizierte die Pässe und gab sie Jack zurück. »Haben Sie irgendwas dabei, von dem wir wissen sollten? Waffen, illegale Drogen?«
»Nein.«
»Tragen Sie mehr als zehntausend Dollar in bar bei sich?«
»Nein, Sir.«
Jack sah dem Beamten ins Gesicht und erblickte in dessen undurchdringlich schwarzer Sonnenbrille sein eigenes dunkles Spiegelbild. Gallego nickte. »Okay. Schönen Tag noch.«
Jack kurbelte das Fenster hoch und fuhr weiter. Vor ihnen hatte sich eine Lücke aufgetan, sie fuhren über die Brücke bis zu einer aufgemalten gelben Linie, die die Grenze markierte. Auf der anderen Seite saßen mexikanische Zollbeamte in kleinen Häuschen und sammelten die Mautgebühr von drei Dollar ein. Auf dem Rückweg würde Jack ein zweites Mal bezahlen.
Hinter den Häuschen, wo die Brücke in eine breite Kreuzung mündete, sah Jack einen schwarzen Humvee halb auf dem Bürgersteig stehen. Hinten auf dem Geschützturm stand ein Soldat mit einer Maschinenpistole, zwei weitere beobachteten hinter der Windschutzscheibe den von der Brücke kommenden Verkehr.
Der Mexikaner stellte die gleichen Fragen, Jack gab die gleichen Antworten und bezahlte die Mautgebühr. Man winkte ihn weiter. Er hatte das Gefühl, dass die Soldaten in dem Humvee ihn beobachteten, wollte aber nicht in ihre Richtung schauen.
Wer hinter der Brücke eine andere Welt erwartete, wurde enttäuscht. Die Straßen sahen genauso aus wie im Norden, nur dass die Läden spanische Aufschriften trugen und es wenig weiße unter den braunen Gesichtern gab. Jack navigierte vorsichtig durch die Straßen und passte auf, nicht zu schnell zu fahren, denn die Polizei war überall, und wo sie nicht war, stand die Armee.
Angst hatte er keine. Die Soldaten zeigten aus guten Gründen Präsenz, man musste schon blind und taub sein, um sie nicht zu kennen. In den Nachrichten kamen ständig Berichte über Morde und Schießereien, auch wenn Jack noch nie welche miterlebt hatte. In seinen Augen sah Nuevo Laredo aus wie immer und fühlte sich an wie immer, obwohl er wusste, dass es sich verändert hatte. Die Menschen, denen er begegnete, waren freundlich, in den Geschäften wurde sein Geld gerne genommen. Vielleicht hatte er einfach Glück gehabt, oder vielleicht war alles nicht so schlimm, wie behauptet wurde.
11
Sie fuhren mitten durch die Innenstadt und hielten dann auf die Peripherie zu, wo die Gebäude weniger dicht standen, die Straßen nicht ganz so eng waren, und Vorhöfe und Rasenflächen die Häuser säumten. Jack kurvte um Risse und tiefe Löcher im Asphalt herum, die die Räder des Trucks glatt verschluckt hätten. Vor einem Haus, dessen winziger Vorhof voller Wäsche hing, sah er ein auf Ziegelsteinen aufgebocktes, räderloses Auto.
Vor dem Haus von Bernardo Sigala wuchs kein Gras, es war hinter einer fast zwei Meter hohen Mauer versteckt. Durch ein Eisentor gelangte man auf einen kleinen Parkplatz, dort stand ein Toyota. Eine Tür im Tor ließ sich für Fußgänger öffnen, sie war mit zwei Schlössern gesichert.
Jack parkte am Straßenrand und stieg aus. Lidia lief zum Tor und zog an der Klingelkette. Glocken ertönten, die nach einer tanzenden Kuhherde klangen.
Bernardo trat auf den schattigen Parkplatz heraus. Er trug ein hellgelbes Hemd mit Kragen und eine akkurat gebügelte Hose. Auch er und seine Familie machten sich besuchsfein. »¡Hola a todos! ¡Bienvenidos!«
Er schloss das Tor mit zwei unterschiedlichen Schlüsseln auf und hielt es offen, damit Lidia und Marina eintreten konnten. Jack folgte als Letzter. Sie gaben sich die Hand. »Bernardo«, sagte Jack. »Sind wir zu spät?«
»Spät? Nein, überhaupt nicht! Ich schaue gerade fútbol. Reina ist in der Küche. Die Kinder sind im Haus. Kommt rein.«
Im Haus war es kühler. Ein Deckenventilator rührte die Luft um, alle Fenster standen offen. Aus der Küche duftete es nach Essen. Im Wohnzimmer saß Bernardino in einem Bravos-T-Shirt auf der zerknautschten Couch vor dem Fernseher. Die Bravos de Nuevo Laredo kickten ohne große Aufstiegschancen in der zweiten Liga, aber der Junge war ein Fan. Jack schaute zum Fernseher. Er hatte keine Ahnung, wer da spielte.
»Marina, Lidia«, sagte Bernardo, »die Mädchen sind in ihren Zimmern, glaube ich. Du siehst heute sehr hübsch aus, Lidia.«
»Danke, tío.«
»Jack, willst du ein Bier? Setz dich, mach’s dir bequem. Bernardino, mach Platz für Jack. Setz dich da vorne hin.«
Bernardino verließ widerwillig die Couch und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand. Er war ein schweigsamer Junge und beobachtete Jack mit misstrauischem Blick. Bei ihrer ersten Begegnung war er noch ein Baby gewesen. Jetzt war er sieben. Sie würden sich nie nahe stehen.
Bernardo verschwand in der Küche und kam mit einer Flasche Corona mit einer Limettenscheibe im Hals zurück. »Hier«, sagte er. »Komm, setz dich. Du siehst aus, als könntest du Ruhe gebrauchen, Jack.«
»Es war eine interessante Woche«, sagte Jack. Er setzte sich auf den Platz, den Bernardino geräumt hatte.
»Was immer los war, ich wette, ich kann es toppen«, sagte Bernardo.
»Höchstwahrscheinlich. Was war denn?«
Bernardo setzte sich ans andere Ende der Couch. Er hatte ein fröhliches rundes Gesicht mit Schnurrbart, doch jetzt war seine Stirn gerunzelt. »Viele Schießereien diese Woche. Sehr schlimm. Eine nur zwei Blocks von hier.«
»Sind alle okay?«
»Ja, uns geht’s allen gut. Meistens bringen narcos andere narcos um, aber manchmal steht jemand im Weg, und dann …« Bernardo formte aus Daumen und Zeigefinger eine Pistole.
»Aber ihr seid vorsichtig«, sagte Jack.
»Immer.«
Das Bier war kalt und klar, die Limette spritzig. Jack sah wieder zum Fernseher, es stand jetzt zwei zu eins. Er wusste immer noch nicht, wer spielte. »Als wir rübergekommen sind, schien alles ruhig.«
»Es heißt, das bald noch mehr Soldaten kommen«, sagte Bernardo.
»Wie viele sind denn schon da?«
»Keine Ahnung. Tausend? Sie sind sowieso schon überall. Aber Los Zetas und die Golfos machen trotzdem ihr Ding.«
Jack runzelte die Stirn. Bernardo und Reina hatten drei Kinder. Bernardino war das mittlere, Patricia neunzehn, Leandra erst vier. Beide Eltern arbeiteten, die Kleinen kamen alleine aus der Schule nach Hause, Patricia passte dann auf sie auf. Sie kamen klar.
Bernardo schlug Jack aufs Knie und bemühte sich, jovial zu klingen. »Ich freue mich, dass ihr heute gekommen seid. Es ist immer schön, dich und die Mädchen zu sehen.«
»Wir kommen gerne. Ich wünschte bloß, es würde besser für euch laufen.«
»Wir sind alle gesund und munter. Wir haben die Familie. Alles ist gut. Erzähl mal von dir.«
»Da gibt’s nicht viel zu sagen. Ich habe genug Arbeit, die Mädchen werden groß. Ich kann kaum glauben, dass Marina fast erwachsen ist. In einem Jahr wird sie sich nach einer eigenen Wohnung umsehen.«
Bernardo nickte. »Vielleicht will sie gar nicht so schnell weg. Du bist ihr Vater, wie früher Arturo. Solche Bindungen halten.«
»Vielleicht hast du recht. Redet Patricia noch vom Ausziehen?«
»Jede Woche kommt was Neues. Sie hat jetzt einen Job, spart aber überhaupt nicht. Anstatt alles sofort auszugeben, sollte sie lieber an die Zukunft denken. Ihre Mutter ist nicht damit einverstanden, dass sie abends lange ausgeht, aber sie ist erwachsen. Sie braucht ihren Freiraum. Ich kann sie nicht einsperren.«
»Genau davor habe ich Angst«, sagte Jack.
»Wozu? Das machen alle jungen Menschen durch. Weißt du noch, als wir so alt waren? Niemand durfte uns was vorschreiben.«
»Ich will nur, dass sie auf dem richtigen Weg bleibt.«
»Ganz bestimmt, mein Freund. Weil du ihn ihr vorlebst. Das weiß ich.«
Jack trank den letzten Schluck Corona. »Na, wenn du da so sicher bist.«
»Mach dir keine Sorgen. Jetzt bleib hier sitzen und schau ein bisschen fern. Ich sehe mal nach, ob Reina Hilfe braucht. Es gibt heute ein Festmahl. Du wirst essen, bis du platzt!«
Bernardo verließ das Zimmer, Jack hörte aus der Küche spanische Satzfetzen. Er drehte sich zu Bernardino um, der immer noch auf dem Stuhl saß und gebannt dem Spiel folgte. Wortlos sahen sie sich an.
»Willst du hier bei mir sitzen?«, fragte Jack.
Bernardino nickte.
»Dann komm her. Vielleicht kannst du mir mal sagen, wer da überhaupt spielt.«