Liljecronas Heimat

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Liljecronas Heimat
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Selma Lagerlöf

Liljecronas Heimat

Inhaltsverzeichnis

Schneewittchen

I

II

Der Pfarrer von Svartsjö

Der Traumpfannenkuchen

Der Brauttanz

Die Fuchsgrube

Der Speziestaler

Der Finnenpfarrer

Der Schmied von Henriksberg

Der Fähnrich

Am Werktage

Ein Frühlingsabend

Die Anklage

Der Ruhestein

Die Erdgeister auf Lövdala

Die Heimat

Impressum

Die Kleine stand am Fenster und sah hinaus. Vor ihr lag ein weiter Hofplatz mit gebahnten Wegen zwischen hohen Schneewällen. Ringsum standen große Gebäude, und die Kleine versuchte sie nach der Beschreibung, die ihre Mutter davon gemacht hatte, zu erkennen. Das lange niedere Haus, dem Hauptgebäude gerade gegenüber, war wohl das Wirtschaftsgebäude, auf der Ostseite lagen die Ställe und das Waschhaus mit der Braukammer auf der Westseite. Die Häuser standen nicht alle dicht beieinander; aber es lief ein Zaun dazwischen hin, so daß man nicht anders in den Hof hineinkommen konnte als durch enge Gattertüren, die jetzt im Winter offen standen. Östlich von den Ställen konnte die Kleine die Dächer und Giebel von einer ganzen Anzahl von Gebäuden sehen, die um einen noch größeren Hofplatz her standen. Dort waren die Schweine- und Schafställe, das Vorratshaus und das Magazin; die Kornspeicher, Scheunen und Tennen und Holzschuppen sowie das Gesindehaus für die Knechte und die Geschirrkammer. Mehrere von den Gebäuden standen auf Pfosten, andre hatten Treppen, die sich außen an der Giebelwand hinaufschlängelten und zu niedrigen Bodenräumen führten. Wohin das Mädchen sah, waren Anbaue und Verbindungsgänge, Bodenkammern mit kleinen dunklen Fenstern und langen ringsherumlaufenden Altanen. Die meisten dieser Gebäude hatten dicke Stroh- oder Rasendächer, die aber jetzt hoch mit Schnee bedeckt waren. Über dem Ganzen lag ein stiller Friede, als lägen die alten Häuser im Winterschlafe.

Eine der Mägde war erst vor kurzem eingetreten, und sie war überdies aus einem andern Kirchspiel. Diese hätte nun wohl gerne die ruhige Stunde benützt, um etwas über die Herrschaft zu erfahren. Sie hatte eine Frage um die andere über die Pfarrerstochter und die Pfarrfrau und über den Pfarrer laut werden lassen, aber immer keine Antwort erhalten. Alle andern nähten mit fest geschlossenen Lippen und taten, als wüßten sie gar nichts.

Schließlich mußte die neue Magd doch gemerkt haben, daß sie nichts aus ihnen herausbringen konnte, und so begann sie nach anderem zu fragen.

Warum denn das Kirchspiel Svartsjö heiße. Sie könne gar nicht begreifen, wonach es so genannt worden sei. Svartsjö komme doch von einem See her, und sie habe gehört, es gebe außer dem Lövsee noch drei Seen in diesem Sprengel, aber keiner von ihnen heiße Svartsee, soviel wisse sie.

Na, diese Frage wäre nicht gefährlich zu beantworten gewesen, aber zum Unstern hatte keine von den Mägden je gehört, woher das Dorf seinen Namen hatte, und es sah aus, als sollte die neue Magd auch hier nicht mehr erfahren als bei ihren andern Fragen.

Doch nun legte die alte Haushälterin ihre Arbeit nieder und nahm die Brille von der Nase.

»Es ist gar nicht so sonderbar, wenn das Kirchspiel Svartsjö heiße,« sagte sie, »denn es hat seinen Namen wirklich von einem See, der in früheren Zeiten hier gewesen, jetzt aber ausgetrocknet ist.«

Die neue Magd war gewiß außerordentlich froh, daß sie endlich eine Antwort erhalten hatte. Und so fragte sie rasch, wo in dem Sprengel denn der See gelegen habe.

»Nun, gerade dort in der Talmulde vor Lövdala«, antwortete die Haushälterin, und dabei wendete sie sich gegen das nach Süden gehende Fenster und deutete hinaus. Sie meinte auch, das Wasser sei bis zu dem Hügel unterhalb des Waschhauses gegangen. Dort sei wenigstens so feiner Sandboden, wie man ihn sonst nur an Seeufern finde.

Die neue Magd wendete den Kopf nun auch dem Fenster zu. Das Wohnhaus lag auf einem so hohen Hügel, daß die andern Gebäude nicht alle Aussicht verdeckten. Über das Scheunendach weg konnte man ein Tal sehen, das sich meilenweit eben und flach hinzog.

Aber sie wollte nicht glauben, was die Haushälterin gesagt hatte. Dieser ebene Boden sollte ein ausgetrockneter Seegrund sein? Wie sonderbar! Sie habe doch immer gedacht, wo einmal ein See gewesen sei, da müsse es steil und tief hinuntergehen.

Die Haushälterin widersprach ihr nicht. Es war ihr einerlei, was das Waschmädchen glaubte, und sie hatte ja nur gesagt, was sie wußte.

Darauf setzte sich die Haushälterin die Brille wieder auf die Nase und machte sich aufs neue an ihre Arbeit.

Die neue Magd lächelte verächtlich. Es war doch merkwürdig, daß alte Leute keinen Widerspruch vertragen konnten. Was ihnen gerade zu sagen einfiel, das sollte man ihnen aufs Wort glauben.

Keines von den andern Mädchen sagte ein Wort, um der Haushälterin beizustehen, und es war jetzt ganz still in der Küche. Die Kleine jedoch hatte die größte Lust zu erzählen, was sie von diesem Svartsee wußte; aber sie war nicht sicher, ob es passend wäre, wenn sie sich in das Gespräch mischte.

Da ging die Türe der Küchenkammer auf, und Mamsell Maja Lisa trat in die Küche.

Zuerst sagte sie nichts, sondern betrachtete still die fleißigen Mägde. Dann ging sie zu der Kleinen hin, die die ganze Zeit am Fenster stehengeblieben war.

»Du, Nora,« begann sie, indem sie sich zugleich auf den hölzernen Stuhl am Fenster niederließ und die Hand der Kleinen zwischen ihre beiden nahm, »sag’ einmal, bist du weit herumgekommen, und hast du außer dem Lövsee auch noch andere Seen gesehen?«

Die Kleine wurde blutrot, weil die Pfarrerstochter sie anredete, und sie vermochte nur gerade so laut zu sprechen, daß man es in der Küche vernehmen konnte, als sie antwortete: O ja, sie habe schon sehr viele Seen gesehen, mehr als sie überhaupt zählen könne.

»Dann könntest du mir den Gefallen tun und an einen von ihnen denken«, sagte die Pfarrerstochter. »Du darfst denken, an welchen du willst, nur muß er lang und schmal sein und zwischen zwei langen bewaldeten Bergrücken liegen.«

Die Kleine drückte das Kinn auf die Brust und starrte auf den Boden. Aber bald sah sie wieder auf; jetzt hatte sie sich einen gedacht.

Die Pfarrerstochter warf ihr einen schelmischen Blick zu, aber ihre Stimme klang noch immer ungeheuer ernst.

»Siehst du ihn auch richtig vor dir?« fragte sie. »Siehst du, wie ein kleiner glänzender Bach von Norden herkommt und sich in den See hineinstürzt, und wie sich dieser weit drunten nach Süden verengert, bis schließlich nicht mehr davon übrigbleibt als ein anderer kleiner Fluß?«

Ja, ja, die Kleine sah es.

»Nun, wenn du so viel siehst, dann siehst du wohl auch, wie sich die Ufer mit großen Buchten und Einschnitten hinziehen«, fuhr die Pfarrerstochter fort. »Da und dort springen schmale, schöne Landzungen vor, wo Hängebirken stehen, die sich über das Wasser neigen. Und draußen im Wasser liegen kleine steinige Holme, die ganz mit Faulkirschenbäumen und Ebereschen bewachsen sind, die im Frühjahr immer über und über im herrlichsten Blütenschmuck stehen, daß sie aussehen wie junge Bräute im Festgewand.«

Ja, ja, die Kleine sah alles, was die Pfarrerstochter von ihr verlangte.

Mamsell Maja Lisa warf einen Blick zum Fenster hinaus und über das lange Tal hin. Dann wendete sie sich wieder dem kleinen Mädchen zu und lächelte; aber ihre Stimme hatte einen besonderen Nachdruck, als sie wieder sprach, wie wenn die Kleine auf das, was sie jetzt sagte, ganz besonders aufpassen sollte.

»Wenn du das alles siehst, dann siehst du wohl auch, daß auf der einen Seite ein sandiges Ufer ist, wo sich viele Kinder tummeln, die den ganzen Sommer lang dort baden, und daß an einer andern Stelle eine hohe Felsenwand aufragt, auf der große dunkle Tannen wachsen mit mächtigen dicken Wurzeln, die wie Schlangen umeinander geschlungen sind. Und wieder an einer andern Stelle siehst du wohl auch ein Sumpfland, wo dichtes Erlengebüsch steht, durch das man kaum hindurchkommen kann, und wieder hinter diesem liegen die schönen ebenen Wiesen, wo das Vieh weidet.«

Und die Kleine war nicht ungeschickt, sie sah alles miteinander.

»Wenn du so viel siehst,« fuhr die Pfarrerstochter weiter fort, »dann siehst du wohl auch die großen Klippen am Uferrand, wo die Leute sich an den Sonntagen aufstellen und ihre Angeln auswerfen, um Barsche zu fangen. Und ebenso wirst du die kleinen Einbäume sehen, die am Ufer angebunden liegen, und die kleinen Fischerhäuschen, die alt und grau und windschief draußen auf den Landspitzen stehen.«

 

»Ja, ja«, sagte die Kleine eifrig; sie sah alles und noch mehr dazu.

»Nun, wenn du so viel siehst, dann siehst du wohl auch, daß rings um den See her gleichsam ein ganzer Ring von Bauernhöfen mit Äckern und Wiesen liegt; aber sie liegen nicht so nahe am See wie die Fischerhütten, sondern ein gutes Stück weiter im Land drinnen. Und oberhalb der Bauernhöfe liegen Birkengehölze und abgeschwendetes Land; aber dann setzen Tannenwälder ein, und diese klettern an den Bergen hinauf bis zu den höchsten Gipfeln.«

Jawohl, auch das sah die Kleine.

Jetzt wurde die Pfarrerstochter auf einmal nachdenklich; dann aber fuhr sie fort:

»Nun kommt das Schwierigste. Siehst du, wenn nun eines Tages dieser See, an den du gedacht hast, austrocknen würde, daß sich auch nicht ein Tropfen klares Wasser mehr darin fände, wie würde es dann da aussehen, wo der See vorher war? Sag’, wie denkst du dir das?«

Darauf aber konnte die Kleine keine Antwort geben; sie sah nur die Pfarrerstochter starr an.

»Ja, ich weiß es selbst auch nicht so genau«, sagte diese. »Aber ich denke mir’s so: Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, wuchs allmählich Gras auf dem Seegrund, und dann nahmen die Menschen sich seiner an; sie bebauten und verteilten ihn, und er wurde von Zäunen und Wegen durchkreuzt wie anderes Land auch. Im übrigen aber blieb das meiste so ziemlich, wie es war.«

Die Kleine starrte gerade vor sich hin; sie sah gewiß ganz abwesend aus.

»Du bist gewiß schon in der guten Stube auf Helgesäter gewesen und hast dort den großen goldenen Spiegel gesehen, der zwischen den Fenstern hängt? Das Glas ist vor einigen Jahren in Stücke gegangen, und da der Hauptmann kein Geld hatte, ein neues Spiegelglas einsetzen zu lassen, hat er den Holzboden mit grünem Tuch überzogen, der goldene Rahmen aber blieb wie vorher. Der einzige Unterschied ist, daß jetzt kein Spiegel mehr darin ist.«

Die Kleine warf einen hastigen Blick auf die Pfarrerstochter; sie fing an zu verstehen.

»So war es wohl auch mit dem See, von dem wir gesprochen haben«, fuhr die Pfarrerstochter fort. »Alles, was am Strand war, blieb ja da, obgleich der Wasserspiegel, der in der Mitte lag, verschwunden war. Die Hängebirken blieben auf den Landzungen, obgleich nichts mehr da war, worin sie sich hätten spiegeln können, das sandige Ufer blieb liegen, wo es lag, obgleich niemand mehr hinkam, um in den Sommertagen da zu baden; und die Steinblöcke, auf denen die Angler ihre Plätze hatten, sind wohl auch noch da, obgleich niemand mehr darauf steht und Fische herauszieht. Die kleinen Ebereschenholme blieben auch, wo sie sind, obgleich umgepflügte Äcker um sie her liegen, und alle Höfe rings um den See herum stehen auch noch auf dem alten Platz, obgleich die Jugend, die darin wohnt, an den schönen Sommerabenden nicht mehr aufs Wasser hinausrudern kann.«

Ja, auch darin konnte ihr die Kleine folgen.

Aber jetzt wendete sich die Pfarrerstochter rasch dem Fenster zu.

»Sieh nun hinaus, Nora, und ihr andern auch«, sagte sie, indem sie auf das Tal hinaus deutete. »Was meint ihr wohl, daß das sei, was ihr da unten seht?«

Und siehe! als die Kleine jetzt hinausschaute, sah sie mit einem Blick alles, was die Pfarrerstochter beschrieben hatte. Da lag der ebene Seegrund und rings um ihn herum der alte Uferrand, der sich in langen Buchten und Einschnitten hinein- und herauszog. Da waren die Landzungen mit ihren Birken sowie die kleinen Gehölze, die in früheren Jahren Holme gewesen waren, mitten zwischen den Äckern, und da ragte auf der einen Seite der steile Berg mit dem Tannenwalde auf und auf der andern die dichten Erlengebüsche. Auf halber Höhe des Berges sah die Kleine den ganzen Kreis der Bauernhäuser und den bewaldeten Bergrücken und die abgeschwendeten Plätze – kurz alles war da, nichts fehlte.

Die Mägde standen hinter der Kleinen und schauten auch hinaus, und auch sie sahen alles genau ebenso.

Wie sonderbar, daß sie vorher gar nicht acht darauf gegeben hatten!

Es war doch wohl wahr, daß der Svartsee da gelegen hatte. Das war der alte Seegrund, es war ganz deutlich.

»Jawohl, das ist in der Tat der alte Seegrund«, schloß die Pfarrerstochter. »Dies ist der Spiegel, der einstens hier unterhalb Lövdala lag, und der sein Glas verloren hat. Viele, viele denken, es sei sehr schade, daß das Glas nicht mehr da ist, und daß der Spiegel kein Spiegel mehr ist.«

Aber jetzt brannte die Kleine vor Begierde, erzählen zu dürfen, was sie von dem See wußte; sie konnte es nicht länger zurückhalten.

»Mutter sprach auch oft von dem See, der hier unterhalb Lövdala gelegen haben soll«, sagte sie.

»Ach so«, sagte die Pfarrerstochter. »Ja, du hast wohl von deiner Mutter viel von Lövdala gehört.«

»Mutter sagte,« fuhr die Kleine fort, und sie sprach sehr schnell, »drei Dinge habe der See damals, als er eintrocknete, zurückgelassen. Das eine sei der kalte Zugwind, der da immer im Tal spiele, das zweite sei der kalte Nebel, der im Herbst aufsteige, und das dritte sei –«

Aber was das dritte war, durfte die Kleine nicht sagen, denn die Pfarrerstochter unterbrach sie rasch.

»Ach, wenn es weiter nichts ist,« sagte sie, »das wissen wir schon vorher.«

*******************************

Schneewittchen
I

In der Küchenkammer zu Lövdala wurde so gekichert und geplaudert, daß die Kleine kein Auge schließen und unmöglich einschlafen konnte, obgleich sie in dieser Nacht in einem richtigen kleinen Bett schlief, das ihretwegen hereingestellt worden war.

Anna Brogren, Mamsell Maja Lisas Pflegeschwester, die den Propst Lövstedt in Ransäter geheiratet hatte, war auf Besuch gekommen und wollte über Nacht dableiben. Sie sollte eigentlich droben im Giebelzimmer schlafen; aber kaum waren der Pfarrer und die Pfarrfrau zur Ruhe gegangen, als sie auch schon in die Küchenkammer heruntergeschlichen kam.

Sie hatte wohl allein mit Mamsell Maja Lisa plaudern wollen und war höchst bestürzt, als sie die Kleine in der Küchenkammer in ihrem Bett liegen sah.

Einmal ums andere kam sie herbei, um zu sehen, ob sie schlafe. Schließlich schloß die Kleine die Augen und lag mäuschenstill, denn es war ihr sehr zuwider, daß sie den andern ein Hindernis sein sollte.

»Jetzt schläft sie ganz bestimmt«, sagte die Pröpstin, indem sie wieder das Licht ergriff und damit abermals an Noras Bett trat.

»Nein, das tut sie nicht«, versetzte die Pfarrerstochter. »Wie kannst du dir einbilden, sie habe einschlafen können, während wir immerfort geschwatzt haben?«

»Es wäre vielleicht am besten, wir verhielten uns eine Weile ganz still«, schlug Anna Brogren vor.

Nachdem sie dann kaum ein paar Minuten geschwiegen hatten, war Anna Brogren ihrer Sache sicher. Sie behauptete, das Mädchen jetzt ganz deutlich schlafen zu hören.

»Und das ist gut,« fuhr sie fort, »denn ich reise nicht eher von Lövdala weg, bis ich erfahren habe, wie hier alles steht und geht, und sollte ich auch die ganze Nacht wach bleiben müssen.«

»Sie schläft nicht, dessen bin ich ganz sicher«, sagte Mamsell Maja Lisa. »Aber wir können es auf andere Weise machen. Während wir warten, erzähle ich dir ein Märchen. Du wirst dich wohl noch an viele von den Märchen erinnern, die ich dir in früheren Zeiten erzählt habe.«

»Ich fürchte nur, daß sie dann erst recht wach wird«, erwiderte Anna Brogren; »aber mach’ es nur, wie du willst. Was für ein Märchen soll es denn sein?«

»Ich glaube, ich will dir das Märchen vom Schneewittchen erzählen.«

»Ach ja, erzähle mir das!« rief die Pröpstin, und sie sah durchaus nicht unbefriedigt aus. »Es ist lange, lange her, seit ich es zum letztenmal gehört habe.«

»Du weißt, es war einmal eine Pfarrfrau,« begann die Pfarrerstochter, »die war tiefbetrübt, weil sie keine Kinder hatte.«

»Nein, da täuschst du dich sicher«, warf die Pröpstin ein. »Es war ja eine Königin.«

»Ich habe immer gehört, es sei eine Pfarrfrau gewesen, und ich kann das Märchen nicht anders erzählen, als es lautet«, beteuerte Mamsell Maja Lisa.

Und dann erzählte sie weiter von der Pfarrfrau, die sich sosehr ein Töchterchen gewünscht hatte, das rot wie Blut und weiß wie Schnee sein sollte, die aber dann starb, sobald ihr großer Herzenswunsch in Erfüllung gegangen war.

»Ich meine aber doch, wir könnten von etwas Fröhlicherem sprechen«, sagte die Pflegeschwester.

»Ich nehme an, daß dir das Märchen wohl noch im Gedächtnis ist, deshalb spreche ich nicht weiter davon, wie es Schneewittchen in ihrer Kindheit gegangen ist. Du weißt ja, daß es ihr an nichts gebrach und sie keine Not litt, obgleich ihre Mutter tot war, denn sie hatte eine gute Muhme, die das Haus versorgte, und eine liebe Pflegeschwester und einen guten Bruder, obgleich dieser zu der Zeit meist auswärts war und studierte, und überdies auch eine liebe alte Großmutter. Wer aber am allergütigsten gegen sie war, war ihr Herr Vater. Er war Schneewittchens zärtlichster Spielkamerad, und ihm vertraute sie alle ihre Sorgen an. Er erlaubte nicht, daß sie wie andere Kinder unter strenger Aufsicht stand, sondern sie durfte tun, was ihr beliebte. Die Leute meinten natürlich, er verwöhne das Kind, aber davon wollte er nichts hören.«

»Schneewittchen war vielleicht ein besonders artiges Kind, das gar nicht verwöhnt werden konnte«, sagte die Pröpstin, und ihre Stimme klang jetzt auf einmal außerordentlich ernst.

»Auf der ganzen Welt war niemand glücklicher als Schneewittchen«, fuhr die Pfarrerstochter fort. »Ganz besonders befriedigt fühlte sie sich, als sie, nachdem die Muhme weggezogen war, ganz allein die Wirtschaft führen und für ihren geliebten Vater sorgen durfte. Ich glaube, sie hatte mehrere Jahre lang keinen anderen Kummer als die Trennung von ihrer Pflegeschwester, die sich verheiratete und in ein anderes Kirchspiel zog. Und wenn ihr damals jemand gesagt hätte, ihr Vater würde einmal sein Herz von ihr wenden, hätte sie hell hinausgelacht. Wie hätten sie sich entzweien sollen, sie und der geliebte Vater? Nicht einmal im Schlaf wäre ihr ein so unsinniger Gedanke gekommen.«

»Und überdies hätte auch niemand anders geglaubt, daß es je so ginge«, versicherte Anna Brogren mit derselben ernsten Stimme wie zuvor.

»Und niemals dachte Schneewittchen weniger daran, daß ihr ein so großes Unglück widerfahren könnte, als an einem schönen Sommermorgen im vorigen Jahre, wo sie mit ihrem Herrn Vater zu den Mähern hinausging.«

»War das im vorigen Sommer?« fiel Anna Brogren rasch ein. »Ich glaubte, Schneewittchen habe vor tausend Jahren gelebt.«

»Ich aber habe nie anders gehört, als daß Schneewittchen heute noch lebt,« erwiderte die Pfarrerstochter, »und an jenem Tag, wo sie mit ihrem Vater zur Heuernte hinausging, war sie eben neunzehn geworden; ihr Vater aber war fünfzig Jahre alt, obgleich man ihm das kaum ansehen konnte. Er trug eine Perücke, ging aber ohne Hut, hatte eine weiße Hemdenbrust mit einer Busenkrause und große Schnallen auf den Schuhen. Schneewittchen dachte in ihrem Herzen, er sehe außerordentlich vornehm aus. Sie selbst trug ein altes Kattunkleid und einen großen Schutenhut. Neben ihrem Vater sah sie gar nichts gleich.«

»Ich habe jedoch immer gehört, Schneewittchen sei schöner gewesen als alle andern im ganzen Land«, warf die Pröpstin ein.

Aber die Pfarrerstochter erzählte weiter, ohne sich um die Unterbrechung zu kümmern.

»Der Schutenhut war jedenfalls recht am Platz, denn er verdeckte das Gesicht. Sonst hätte der Vater gesehen, daß sie mißvergnügt aussah. Ach, ach! Schneewittchen hatte wohl Grund, mißvergnügt zu sein, weil sie um diese Zeit mit ihrem Vater spazierengehen sollte; wo sie doch viel lieber an ihrem Webstuhl sitzengeblieben wäre, um ihre Leinwand fertig zu weben. Aber da ihr Vater selbst von außen ans Küchenkammerfenster getreten war, geklopft und ihr gerufen hatte, war es ihr nicht möglich gewesen, nein zu sagen.«

»Ich glaube, sie konnte ihrem Vater niemals etwas abschlagen«, sagte die Pflegeschwester.

»Sie gingen an den Ställen und an der Viehweide vorüber, denn sie wollten nach dem südlichen Anger, wo der lange Bengt und die beiden Vettersbuben beim Mähen waren. Es war gerade kein weiter Weg, aber es kostete doch immer viel Zeit, wenn Schneewittchen mit ihrem Vater ausging.

Er blieb stehen und sah sich das Getreide an, und er blieb stehen und unterhielt sich mit der Stallmagd. Als sie den Hügel mit dem Birkengehölz erreicht hatten, hielt er wieder an, schaute zurück, um das neue Wohnhaus zu betrachten, das er selbst hatte bauen lassen. Und noch weiterhin gab es wieder einen neuen Aufenthalt, weil er eine junge Tanne aufrichten mußte, die umgestürzt am Wege lag.

 

Aber jetzt muß ich etwas einfügen; Schneewittchen konnte in Gesellschaft ihres Vaters nie lange verdrießlich sein, denn wenn sich ihr so seine ganze Art und Weise offenbarte, wurde ihr Herz immer von Bewunderung für ihn erfüllt.

Und ich meine auch, Schneewittchen habe ganz und gar nicht unrecht gehabt, es schön und rührend zu finden, daß ihr guter Vater sein Leben lang als Hilfsgeistlicher in einer kleinen armen Gemeinde weit droben im Värmland geblieben war. Er, der so hochgelehrt und von unwiderstehlicher Beredsamkeit war und überdies so stattlich und liebenswürdig, wäre gewiß Dompropst oder Bischof geworden, wenn er nur gewollt hätte. Glaubst du das nicht auch?«

»Für mich ist es nicht leicht, etwas über Schneewittchens Vater zu sagen«, antwortete die Pröpstin; »aber ich bin überzeugt, er hätte alles erreichen können, was er nur gewollt hätte.«

»Ich kann es nicht so genau ausdrücken, wie Schneewittchen es fühlte. Aber ich glaube, sie sagte in ihrem Herzen: ‘Du, Schneewittchen, du bist nichts und kannst nichts und hast nichts erlebt, schämst du dich nicht, schlechter Laune zu sein? Denk an deinen guten Vater, der nie klagt und sich nie etwas wünscht, und der der Welt immer ein freundliches Gesicht zeigt!’ – Vor sich selbst entschuldigte sich Schneewittchen indes damit, daß sie eben gar zu gern die Leinwand am Webstuhl fertiggebracht hätte, ehe sie von Hause wegreiste; denn sie sollte mit der Großmutter diesen Sommer nach Loko ins Bad gehen, das war fest ausgemacht. Großmutter hatte im letzten Winter schrecklich an Gicht gelitten, diese hatte ihr die Hände zum Erbarmen zugerichtet. Nun hatte sie das ganze Frühjahr hindurch versprochen, diese Reise zu machen; aber Schneewittchen wußte wohl, daß die Großmutter nicht fort kam, wenn sie nicht mitging.

Jetzt dachte sie daran, den Vater zu bitten, den Tag der Abreise zu bestimmen. Aber wie merkwürdig, sie hatte gar nicht das Herz dazu! Fühlte sie, wie schwer es ihrem Vater würde, sein Kind sechs Wochen lang entbehren zu müssen, und wollte er es deshalb soweit wie möglich hinausschieben? Während sie nun so dahinwanderte, beschloß sie in ihrem Herzen: Wenn das Gras auf dem südlichen Anger so prächtig stand, daß Vater recht befriedigt war, dann wollte sie sich ein Herz fassen und von der Reise anfangen.

Und wirklich, es sah nicht danach aus, als sollte sie nicht bald auf die Reise dürfen, denn als sie den südlichen Anger erreichten, gab es da eine ganz außerordentlich gute Heuernte. Schneewittchen merkte bald, wie hochbefriedigt ihr Vater war, denn er neckte den langen Bengt, der der größte Mann im ganzen Kirchspiel war, und sagte, er müsse noch ein wenig wachsen, er sei gar nicht groß, das Gras schlage ihm ja über dem Kopf zusammen.

Der lange Bengt war nicht faul zu antworten. Er sagte, wenn der Herr Pfarrer seine Länder noch weiter so gut bebaue, so werde er bald niemand mehr bekommen, der ihm sein Heu mähe. Es sei eine wahre Not, bis man sich durch solch einen Wall hindurchgeschafft habe. Und die beiden Vettersbuben hielten es natürlich mit Bengt und versicherten auch, lieber wollten sie es auf dem Brobyer Markt mit allen Westgöten aufnehmen als in einem andern Jahr wieder solches Gras mähen.

Darauf mußte Vater natürlich eine ebenso höfliche Antwort geben; alle standen schweigend um ihn her und warteten darauf. Ach! ich glaube, Schneewittchen wird immer an ihren Vater denken, gerade wie er jetzt so vergnügt und freundlich mitten unter seinen Leuten stand und tat, als sinniere er über die Antwort nach, damit sie, wenn sie erfolgte, einen um so größeren Eindruck mache.

Aber wie es gehen kann! Diese Antwort bekamen sie niemals zu hören, denn jetzt geschah etwas Unerwartetes, das aller Gedanken nach einer andern Seite hinlenkte.

Wer war denn das, der da durch das hohe Gras auf sie zukam? Wer konnte es sein, der nicht ging, sondern taumelte, und der nicht einen Augenblick schwieg, sondern die ganze Zeit schrie und laut vor sich hin redete?

Ich muß gestehen, Schneewittchen war nie Zeuge von etwas so Aufregendem gewesen. Wie schrecklich, ein Frauenzimmer so furchtbar zugerichtet zu sehen! Die Kleider hingen ihr naß und lehmig um den Körper. Das Haar hatte sich vom Kamm gelöst und fiel ihr in Strähnen den Rücken hinab. Aber am schrecklichsten war doch, daß ihr Gesicht und ihre Hände ganz blutrünstig waren.

Der lange Bengt und die Knechte wendeten sich ab und spuckten dreimal aus, als sähen sie eine Hexe, und es fehlte wohl nicht viel, so hätte der Herr Vater dasselbe getan.

Aber plötzlich glaubte Schneewittchen zu erkennen, wer es war; sie eilte zum Vater hin und flüsterte ihm ins Ohr, es müsse die Jungfer sein, die der Gräfin auf Borg die Wirtschaft führte.

Der Vater gab ihr recht in dieser Annahme. Er trat zu der Jungfer und fragte sie, was ihr denn geschehen sei, daß sie sich so früh am Morgen nach seinem Haus auf den Weg gemacht habe. Aber sie war ganz verwirrt und erkannte den Pfarrer gar nicht. Sie rief nur, sie könne es bei der Gräfin nicht mehr aushalten und sei auf dem Wege nach der Pfarrei, damit man ihr helfe.

Da nahmen sie der Pfarrer und Schneewittchen mit nach Hause, und nach einiger Zeit war sie wieder so weit vernünftig, daß sie erzählen konnte, was ihr geschehen war. Sie war von der Gräfin gehetzt und geplagt worden, bis sie es nicht mehr aushalten konnte, und so war sie nachts um zwei Uhr von Borg auf und davon gegangen. Sie war ganz verwirrt gewesen und hatte noch gar nicht überlegen können, wohin sie sich wenden wollte, als sie auch schon auf der Landstraße stand.

Da hatte sie gedacht, sie wolle nach der Pfarrei gehen, weil sie gehört hatte, wie barmherzig die Familie dort sei. Aber die Ärmste hatte den Feldweg durch die Wiesen eingeschlagen und konnte nicht über den Steg wegkommen, sondern stürzte in den Bach, stieß mit dem Kopf an einen Stein und zerriß und beschmutzte sich ihre Kleider. Danach war sie wie nicht recht bei sich gewesen, hatte den Weg nicht mehr finden können und war dann den ganzen Morgen auf den Getreideäckern und auf den Wiesen umhergeirrt.

Nun bat sie flehentlich, man solle sie doch im Pfarrhaus behalten, bis das Blut gestillt und ihre Kleider trocken seien und sie ein wenig überlegt habe, wohin sie sich wenden wollte.

Natürlich hieß es, sie solle nur dableiben. Ach, wer hätte wohl das Herz gehabt, eine so notleidende Person hinauszuweisen!

Aber wie empört waren auch Schneewittchen und ihr Vater über die Gräfin! Sie war so schön und heiter, und nun sollte sie so grausam gegen ihre Untergebenen sein! Nicht zum ersten Male hörten sie so etwas über sie. Was soll ich sagen? Ja, es war gut für die Gräfin, daß sie an diesem Tage nicht mit Schneewittchen zusammenkam. Diese hätte sie gestellt und kein Blatt vor den Mund genommen. Diese Jungfer – ja, wie soll ich sie nun nennen?«

»Du kannst sie ja Vabitz nennen«, schlug die Pröpstin vor.

»Gut, also diese Jungfer Vabitz war eine überaus wohlbeleumdete, ausgezeichnete Person, und die Gräfin hätte wohl etwas Besseres tun können, als sie zu plagen, bis sie den Verstand verlor.

Aber siehe! Noch am selben Tage kam Schneewittchen auf einen Gedanken, der sie ganz beglückte. Sie wollte Jungfer Vabitz bitten, im Pfarrhaus zu bleiben und für den Vater zu sorgen, während sie selbst mit der Großmutter im Bad war. Wenn sich das einrichten ließ, konnte sie ruhig fort sein, dann ging alles in schönster Ordnung und ebensogut, wie wenn sie selbst zu Hause wäre.«

»Ach du lieber Gott!« rief die Pflegeschwester. »Bist du es gewesen, die – – das heißt, ich meine, ob es Schneewittchen selbst gewesen?«

»Ja, ja, die selbst war’s, niemand anders; und sie war überaus glücklich über diesen Einfall. Sie fragte gleich die Jungfer, ob sie bei ihnen bleiben wolle. Die Jungfer zierte sich auch keinen Augenblick, sondern sagte, jawohl, sie tue ihr gerne den Gefallen. Aber das wolle sie gleich feststellen, wenn sie indessen eine Stelle bei einer Herrschaft finde, dann reise sie sofort ab. Sie sei eine arme Person, die in erster Linie an sich selbst denken müsse.

Wer aber nur schwer zu überreden war, das war Schneewittchens Vater. Sollte er die Jungfer volle sechs Wochen lang da haben und überdies gezwungen sein, die Mahlzeiten mit ihr einzunehmen?

Du kannst dir nicht denken, wie schwer es war, bis Schneewittchen und die Großmutter endlich fort kamen. Mit dem Vater und Jungfer Vabitz wollte es absolut nicht gehen. Der Vater scherzte und neckte sich mit allen Menschen; die Jungfer aber war streng und ernst und nur immer darauf bedacht, ihre Würde aufrechtzuerhalten.

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