Ludwig van Beethoven. 100 Seiten

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Ludwig van Beethoven. 100 Seiten
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Stefan Siegert

Ludwig van Beethoven. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

Meiner Frau Uta Rauser

meiner Lebensretterin Catrin Soetbeer

meinem Freund Anner Bijlsma (1934–2019)

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961542-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020557-0

www.reclam.de

Inhalt

  Weltkind voller Musik

  Vom engen Bonn in geistige Welten

  Erste Schritte, erste Schnitte

  Per aspera ad astra – der Markt schafft eine neue Welt

  Per Krise ad Utopie

  Fürsten, Bürger, Revolutionäre

  Fermaten in Liebe und Politik

  Das Kreuz der späten Jahre

  Noch einmal Höhenflüge

  Was bleibt?

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zum Autor

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Napoleon. 100 Seiten


Weltkind voller Musik

Ludwig van Beethoven ist neunzehn, ein vielversprechender Geiger, Bratscher, Klavierspieler und Organist in der Hofkapelle des Kurfürsten in Bonn, da bricht in Paris der Sturm los. Die Französische Revolution prägt die Menschen des 19. Jahrhunderts wie die Oktoberrevolution von 1917 die des 20. Jahrhunderts. »Öffentlichkeit«, »Gesellschaft«, »Nation«, das gibt es erst ab 1789. Und »Sonate«, »Sinfonie«, »Scherzo« in der Form, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit Beethoven. Er war ein revolutionärer Komponist in einer vom Epochenwechsel erschütterten Zeit.


Ludwig van Beethoven. Stich nach einer Zeichnung von Louis Letronne, 1815

Der kleine Beethoven saß am Klavier, fast ehe er laufen konnte. Nur ganz am Anfang am Cembalo, dem Tasteninstrument des Barock; danach an einem der vielen, dem Cembalo klangnahen Clavichords, Tangentenflügel, Hammerklaviere. Ihre Saiten wurden von hölzernen Hämmern angeschlagen und nicht mehr mechanisch gezupft. In der rasanten Entwicklung des Klavierbaus war für Beethoven der zweite Großumbruch seiner Zeit greifbar: die industrielle Revolution.

Als er im Dezember 1770 zur Welt kam, lag Bach zwanzig Jahre unter der Erde. In Rom, ein halbes Jahr danach, nahm der pubertierende Mozart vom Papst den Orden eines »Ritter vom Goldenen Sporn« entgegen. Goethe studierte Jura in Straßburg. Der 24-jährige Goya begann sich nach Beendigung seiner Studien als Maler in Madrid zu etablieren. In der Nähe von Birmingham perfektionierte James Watt die Dampfmaschine.

Beethoven komponierte nicht mehr wie Bach über tausend Werke, das war mit den arbeitsaufwändigeren Kompositionen seiner Zeit nicht mehr möglich. Er galt nicht als Wunderkind wie Mozart. Anders als Goethe passte er in keine Hierarchie. Er wurde nicht 82 Jahre alt wie Goya (der mit ihm die Erfahrung der Gehörlosigkeit teilte) und war nicht wie der schottische Erfinder Watt glücklich mit seiner Jugendliebe verheiratet. Er blieb am Ende allein und sehnte sich nach einer Gefährtin. Nur gehörte er wie seine großen Zeitgenossen zur Minderheit schöpferischer Wesen, die – »Produkt und Werkzeug ihrer Zeit« (Thomas Mann) – weltgeschichtliche Veränderungen mit Werken begleiteten, die noch heute immer neue Menschen erreichen und bewegen.

Ich muss so ungefähr zehn gewesen sein, da nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit ins Konzert. Man spielte Beethovens Siebte. Die Violinkonzerte von Bruch und Mendelssohn hörten wir bei uns zu Haus vielleicht nur deshalb auch noch, weil sie auf die Rückseiten der Platten mit Beethoven- und Mozart-Konzerten gepresst waren. Ich war längst an der Uni, als ich zum ersten Mal die »Eroica« und die Fünfte hörte. Die heiteren Naturszenen der »Pastorale«, besonders die Rufe des Kuckuck, bereiteten mir Vergnügen. Schließlich kamen »Mondscheinsonate« und »Pathétique« hinzu. Mein Beethoven-Set bestand ausnahmslos aus Werken der frühen Wiener Jahre Beethovens, viele nennen sie ihrer in der Tendenz monumentalen Dynamik wegen die »heroische« Periode. Klassische Musik war bei uns vor allem Stimmungssache. Sie gehörte zu den Dingen, die dem Leben die Aura von Kultur verschafften. Beethoven, das war wie Goethe, Dürer oder Luther eine der fast erdrückenden Ikonen dieser Kultur. Wirklich zugehört habe ich erst, seitdem Beethoven für mich Teil der Geschichte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurde. In seiner Musik hörte ich plötzlich den Elan des zu politischem Selbstbewusstsein erwachenden Bürgertums. Im langsamen Satz des 4. Klavierkonzerts erlebte ich, wie ein Einzelner sich mit seiner Vorstellung davon, was richtig ist, gegen die Vielen durchsetzt, ein früher Beitrag zum Thema Individuum und Gesellschaft. Ich bemerkte erst jetzt: Beethoven hat auch herrliche Violinsonaten komponiert, etwa jene, die an den Frühling erinnert oder an den französischen Geigenvirtuosen Rodolphe Kreutzer; auch neuartige Kammermusik wie das »Erzherzog-Trio«, gewidmet dem Kaiserbruder und Beethovenschüler Rudolph von Österreich. Seit 1799 brachte er, beginnend mit den sechs Quartetten aus Opus 18, der musikalischen Zukunft bis an sein Lebensende immer radikaler zugewandte Streichquartette zur Welt. Und der letzte Satz der 9. Sinfonie – er war mir immer zu laut, zu schrill und zu durcheinander – erschloss sich mir nun in dem Maß, als ich darin nicht nur Schillers heute kaum noch verständliches Pathos wiederfand, sondern auch den Elan der Musik französischer Revolutionsarmeen. Die resümierend wehmütige, insistierend gelassene Welt der letzten drei Klaviersonaten erreichte mich zuletzt. Und mit Beethovens einziger Oper Fidelio habe ich bis heute meine Probleme. Der Missa solemnis aber, Beethovens vermutlich am wenigsten erschlossenem, zu selten und noch seltener sinnvoll interpretiertem Werk – er hielt es selbst für sein größtes – werde ich staunend für den Rest meines Lebens auf der Spur bleiben.


Vom engen Bonn in geistige Welten
Kein Sonntagskind am Rhein

Beethoven lebt nicht mehr in Bonn, er ist seit fast zehn Jahren in Wien und längst berühmt, da lässt er sich aus seiner Heimatstadt ein nicht sehr großes, im Lauf der Zeit immer dunkler gewordenes Ölgemälde kommen. Es hängt von da bis an sein Lebensende an der Wand aller seiner Arbeitszimmer: der Großvater Louis van Beethoven. Der trägt denselben Vornamen wie sein Enkel, ist nach dessen Geburt der Taufpate und hat einen der zentralen Plätze in Ludwigs Seele.

Geboren in einer flämischen Bauern- und Handwerkerfamilie, hat er sich zum Solobassisten und Chorleiter in Löwen und Lüttich hochgearbeitet. Er ist einundzwanzig, da wird der Kölner Kurfürst und Erzbischof Clemens August auf ihn aufmerksam. Dessen Hof – die Bürger Kölns sind ihm allzu selbstbewusst – residiert in Bonn. Louis van Beethoven tritt als Solist in die kurfürstliche Kapelle ein. Er heiratet Maria Josepha Ball, lebt mit ihr in der Rheingasse 934.


Von den drei Kindern, die dem Paar geboren werden, überlebt das Kindesalter nur eines, Johann, der spätere Vater Beethovens. Großmutter Maria Josepha hat den Tod zweier ihrer Kinder offenbar nicht verwunden, sie ergibt sich dem Alkohol; der Großvater lässt sie irgendwann Mitte des Jahrhunderts in einem zu einer Aufbewahrungsanstalt umgewandelten Kölner Kloster verschwinden. Er ist knapp fünfzig, lebt alleinerziehend mit dem Sohn Johann, da befördert ihn 1761 der neue Kurfürst Maximilian Friedrich vom Gesangsolisten zum Hofkapellmeister. Von seiner Wohnung in der Rheingasse zieht er in die Bonngasse 386. Sohn Johann Beethoven zieht 1768, nachdem er gegen den Willen des verärgerten Vaters geheiratet hat, mit seiner Familie einige Häuser weiter ins Haus Bonngasse 515; heute trägt das Gebäude die Nummer 20 und beherbergt das Beethoven-Haus (das Bild des Großvaters hängt heute dort). In ihm wird Ludwig geboren.

 

Wie in der Musik wiederholen sich die Motive, unverändert oder in abgewandelter Form, auch in Familienromanen. So taucht die Trunksucht der Großmutter Beethovens in der nächsten Generation wieder auf. Ihr Sohn Johann wird den Erwartungen seines in Bonn so erfolgreichen Vaters nicht gerecht, auch er entwickelt im Lauf seines Lebens eine immer stärker werdende Neigung zum Alkohol. Er bringt es immerhin zum Tenoristen der Bonner Hofkapelle, ist in seinen besseren Zeiten ein angesehener Musiklehrer und versucht erfolglos, dem übergroßen Schatten des Vaters durch die eigenmächtige Heirat mit Maria Magdalena, der Tochter des kurfürstlich-trierschen Oberhofkochs Keverich aus Ehrenbreitstein, zu entkommen. Beethovens Großvater und Vater, ein weiteres Lebensmotiv dieser Familie, sind in ihren Ehen unglücklich. Beethoven selbst wird die Partnerwahl gänzlich misslingen. Auch er wird in abgewandelter Form einen Hang zum alleinigen Erziehen eines männlichen Familienmitglieds entwickeln. Er wird nie trunksüchtig sein, aber auch sein Verhältnis zum Alkohol wird ein nicht unerhebliches Restrisiko bergen.

Großvater Louis stirbt Weihnachten 1773. Sein ihn lebenslang verehrender Enkel kennt den Alten eher aus Erzählungen der Nachwelt. Irgendwann vor Ludwigs sechstem Geburtstag ziehen seine Eltern mit ihm und den beiden inzwischen zur Welt gekommenen Brüdern aus der Bonngasse, mit einer kurzen Zwischenstation im Dreieck 7, ins selbe Haus in der Rheingasse, in dem schon der Großvater wohnte. In den Räumen unter ihnen leben seit langem die Vermieter, der Bäcker Theodor Fischer und seine Familie. Bäckersohn Gottfried Fischer und seine Schwester Cäcilia haben sechzig Jahre später aus der Erinnerung viel zu erzählen, als die musikliebende Welt in den 1830er Jahren nach Bonn strömt, um über die frisch verstorbene Bonner Weltberühmtheit Ludwig van Beethoven alles zu erfahren. »Er lag eines Morgens im Fenster seines Schlafzimmers nach dem Hof zu«, heißt es da etwa über die Wesensart des kleinen Ludwig, »hatte den Kopf in beide Hände gelegt und sah ganz ernsthaft aus. Cäcilia Fischer kam über den Hof und rief: Wie siehts aus, Ludwig? Keine Antwort. Später fragte sie ihn, was das zu bedeuten gehabt hätte, keine Antwort sei ja auch eine Antwort. O nein, sagte er, entschuldige, ich war da in einen so tiefen schönen Gedanken versunken, dass ich mich gar nicht stören lassen konnte.«

Der Vater erteilt ihm früh schon Unterricht am Klavier, auf Geige und Bratsche. Das erscheint umso dringlicher, als der Kleine beim Lehrer Huppert in der Elementarschule und später in der Münsterschule nur das Notwendigste lernt, am besten wohl noch Lesen. Das Schreiben fällt ihm zeitlebens schwer; »ich schreibe lieber 10 000 Noten als einen Buchstaben«, heißt es in einem seiner Briefe. Und im Rechnen scheitert er, der später in vielen Meisterwerken eine Unzahl verschiedener Stimmen nach hochkomplizierten Regeln ganz neuartig koordiniert, an der einfachsten Multiplikation. Cäcilia Fischer will den Kleinen auf einem Bänkchen am Klavier stehen gesehen haben, Tränen in den Augen. War der Vater ungeduldig, war er streng oder gar gewalttätig? Immerhin erkannte er, dass die Begabung seines Sohnes bedeutender war, als die eigenen pädagogischen Fähigkeiten. Er zog Musikerkollegen wie den Hofsänger Tobias Pfeiffer hinzu. »Oft, wenn Pfeiffer mit Vater Beethoven spät aus dem Weinhause kam«, heißt es, »wurde der Knabe aus dem Bett geholt und bis zum Morgen am Clavier festgehalten, ein Verfahren, welches für seine Fortschritte in der Schule nicht eben vorteilhaft war.« Wirkliche Fortschritte macht der kleine Ludwig, als der Organist, Komponist und Dirigent Christian Gottlob Neefe ins Bonner Hoforchester eintritt und sein Lehrer wird. Neefe, 1748 in Chemnitz geboren, hat als Musikstudent die »Leipziger Schule« durchlaufen; er macht seinen Schüler mit der damals selbst bei Berufsmusikern in Vergessenheit geratenen Musik Johann Sebastian Bachs (1685–1750) und seines, zu der Zeit berühmteren und eine damals aufregend moderne Musik komponierenden Sohnes Carl Philipp Emanuel (1714–1788) bekannt. Die Begabung des gerade ins Teenie-Alter hineinwachsenden Musikerkinds Beethoven erscheint Neefe so vielversprechend, dass er ihn in einer seiner Korrespondenzen in Cramer’s Magazin vorstellt. Mozart (1756–1791), den er dabei als Maß aller Dinge erwähnt, hat im fernen Wien 1782 gerade seine Entführung aus dem Serail herausgebracht:

Ludwig van Beethoven […] ein Knabe von elf Jahren und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Klavier, liest gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtenteils das wohltemperierte Klavier von Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das Nonplusultra nennen könnte), wird wissen, was das bedeutet. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrigen Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbass gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition. […] Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zweiter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.

Seltsam die Altersangabe. Die Notiz erscheint im März 1783, da ist Beethoven dreizehn und nicht elf. Er hat sich, bis heute rätselhaft, noch spät im Leben und sogar gegen den Nachweis des ihm vorgelegten Taufschein-Originals zwei Jahre jünger gemacht. Aber selbst mit dreizehn ist er für die damalige Zeit ein ungewöhnlich junger Hofmusiker. Ab 1784 arbeitet er als Neefes Assistent an der Orgel und wird dafür mit 150 Gulden entlohnt. Er ist als Bratscher Teil der Hofkapelle. Wenn Neefe den Kapellmeister Lucchesi vertritt, ersetzt ihn Beethoven am Cembalo auch als musikalischer Leiter des Hoftheaters und legt durch permanentes Spiel aus der Partitur die Grundlage für seine später allseits bewunderte Fähigkeit, die schwierigsten Werke vom Blatt zu spielen.

Er ist sechzehn, da schickt man ihn, vielleicht Neefes Anregung folgend, zur Ausbildung bei Mozart nach Wien. Ob er dem in seiner Wohnung in der Großen Schulerstraße hinterm Stephansdom gerade den Don Giovanni vorbereitenden Maestro tatsächlich begegnet, ist unklar. Seinen Wienbesuch muss er schon nach zwei Wochen abbrechen, die Mutter in Bonn liegt mit Schwindsucht im Sterben. Ihr Tod wirft den offenbar ohnehin nicht sehr willensstarken Vater, der nun auch noch sein Instrument, die Stimme, zu verlieren beginnt, mehr und mehr aus der Bahn. Der Sohn, keine achtzehn Jahre alt, übernimmt als Oberhaupt und Ernährer die Verantwortung für die mutterlose Familie. Der Kurfürst, das ist seit 1784 der Habsburger Maximilian Franz, entspricht schließlich Ludwigs Bitte, seinem Vater nur noch die Hälfte des Gehalts auszuzahlen, die andere Hälfte dem künftig für seine beiden Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann und den Vater verantwortlichen Sohn.

Komm ins Offene, Freund!

Die kleine Residenzstadt Bonn hat zu Beethovens Zeit etwa 9600 Einwohner. Sie ist einer der unzähligen kleinen Landesflicken im großen Teppich dessen, was seit dem Spätmittelalter »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« heißt. Beethoven hat als Kind und Heranwachsender die Agonie der letzten Tage dieses Gebildes miterlebt.

Er wird in die Endzeit dessen hineingeboren, was wir »Barock« nennen. Die drei »Kurfürstensonaten« des Dreizehnjährigen sind angeregt von der Klaviermusik des in London lebenden Bachsohns Johann Christian, von der Mannheimer Schule und Wolfgang Mozart, sie lösen sich alle auf je eigene Art in dieser Zeit aus dem vorherrschenden Regelwerk. Beethoven widmet die Sonaten dem Kurfürsten Maximilian Friedrich (1708–1784), einem Barockherrscher, der sich den in Europa immer stärker verbreitenden Gedanken der Aufklärung öffnet. Er richtet in Bonn eine »Armenkommission« ein, sorgt für ein »Medizinalkollegium«, ein botanischer Garten wird eröffnet, die Schlossbibliothek bekommt ein öffentliches Lesezimmer, das Hoftheater steht den Gebildeten für einige Zeit kostenlos offen. Finanziell ermöglicht werden diese Maßnahmen nicht zuletzt durch die mit Auflösung des Jesuitenordens 1773 frei werdenden Mittel. In bewusster Abgrenzung zur fundamentalistisch-katholischen Kölner Universität sorgt der Premierminister des Kurfürstentums, Caspar Anton von Belderbusch, 1777 für eine Bonner Akademie. Maximilian Franz, der Nachfolger Max Friedrichs macht sie 1786 zur Universität. Beethoven besucht Vorlesungen wie die des Literaturprofessors Eulogius Schneider. In dessen Gedichten, 1790 gedruckt, Beethoven ist einer der Subskribenten, finden sich Verse, radikal wie der Epochenbruch, den der Sturm der Bevölkerung auf die Bastille, das Pariser Stadtgefängnis, am 14. Juli 1789 auslöst.

Gefallen ist des Despotismus Kette,

Beglücktes Volk von deiner Hand!

Der Fürsten Thron wird dir zur Freiheitsstätte,

das Königreich zum Vaterland.

»Vaterland«, das ist für den jungen Beethoven und die wachsende Zahl seiner Bonner Freunde und Kollegen angesichts des dahinsiechenden, ethnisch und geografisch zerstückelten und nie zum Staat gewordenen »deutsch-römischen« Großreichs, in dem sie leben, eine politische Vision. Die Eliten der Zeit sprechen französisch, in der Oper wird italienisch gesungen, das Deutsche ist Medium und Vehikel für die ersehnte staatliche Einheit, im deutschen Sprachraum auch das Idiom der Aufklärung. Maximilian Franz fördert nach dem Vorbild seines Bruders, des aufgeklärt despotischen Wiener Kaisers Josef II., in diesem Sinn mit der Gründung eines Nationaltheaters 1788 auch in Bonn die deutsche Bühnenkunst. Seit Lessing, Herder, Schiller, Goethe und für Musikfreunde besonders seit Mozarts »deutschem Singspiel« von der Entführung aus dem Serail (in Bonn schon 1783 erstmals gegeben) hat sich das Deutsche in dieser Zeit intensiv entwickelt. In Beethovens einziger Oper Fidelio wird zwanzig Jahre später deutsch gesungen, sie beginnt als Singspiel.

 3 Klaviersonaten Es, f, D »Kurfürstensonaten« WoO 47 (1783)

 3 Klavierquartette Es, D, C WoO 36 (1785)

 Trio für Klavier, Flöte, Fagott G WoO 37 (1786)

Auf Initiative Belderbuschs, er ist auch Intendant des Theaters, kommen in Bonn schon 1782 Schillers Räuber auf die Bühne, 1783 die Uraufführung des Fiesco, für damalige Verhältnisse rebellische, ja revolutionäre Stücke. Der zwölfjährige Ludwig wird sie kaum gesehen, aber die Aufregung mitbekommen haben, die sie im Geistesleben der kleinen Residenzstadt am Rhein auslösten. Die aufregenden Gedanken, denen der seine bescheidene Grundschulbildung von nun an ganz im Sinn der Aufklärung ständig ergänzende und ausbauende Jüngling in Bonn erstmals begegnet, lassen ihn nicht mehr los; er entwickelt einen lebenslangen Bildungsbärenhunger.

Die Französische Revolution, deren Zeitgenosse der 19-jährige Beethoven ist, ist kein Regime-, sondern ein Systemwechsel. Sie ersetzt die Herrschaft einer überlebten Klasse durch die einer aufstrebenden, mit der ungeheuren Dynamik einer neuartigen Ökonomie verbundenen Klasse. Ihre seit langem in der Luft Europas liegenden Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ihre politischen Vorstellungen von einer zentralstaatlichen Nation, von Republik und aus der Antike auferstandener Demokratie entflammen die Köpfe auch in Bonn. Aufklärung, das heißt, zu fragen, statt hinzunehmen, heißt, dem Gegebenen seine selbstbehauptete Alternativlosigkeit zu nehmen, die Welt zu erforschen, auf den Begriff zu bringen und selbst in die Hand zu nehmen. Nach Kants berühmten Worten ist Aufklärung »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. »Sapere aude!«, lautet die Parole: Habe den Mut, dich ohne Einflüsterungen von außen deines Verstandes zu bedienen. In den Worten des Dichters Friedrich Hölderlin, im selben Jahr geboren wie Beethoven: »Komm ins Offene, Freund!«


Ludwig van Beethoven. Miniatur von Christian Hornemann, 1803

Was immer der mit einem Minimum an Bildung ins geistige Leben gestartete Beethoven von Kant, dem Philosophen der Aufklärung, gelesen und verstanden hat: Radikal wie wenige seiner Zeitgenossen beginnt er, dessen Kerngedanken zu leben: Der Mensch ist kein ›Geschöpf‹ mehr, sondern Prometheus’ Kind, der kritisch sich selbst bewusste und reflektierende ›Schöpfer‹ seines Lebens. »Der bestirnte Himmel über uns«, schreibt der ältere Beethoven in eines seiner Konversationshefte, »und das Sittengesetz in uns, Kant!!!« An der Seite der Berechnungen des Franzosen Pierre-Simon Laplace gilt Kants Theorie von der Entstehung der Planeten und des All in der Astronomie bis heute; Beethoven hat die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) wohl als einzige von Kants Schriften definitiv gelesen und sich in seinem Tagebuch Stellen herausgeschrieben. Kant entzaubert den Himmel, die katholische Kirche setzt ihn auf den Index, der Adel verachtet ihn. Der Musikschriftsteller Guiseppe Carpani nennt Beethoven in seiner Haydn-Biografie von 1823 den »Kant der Musik« (Franz Michael Maier).

 

Tor, wer die Augen blinzelnd dorthin richtet,

Sich über Wolken seinesgleichen dichtet;

Er stehe fest und sehe hier sich um;

Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.

Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!

Was er erkennt, lässt sich ergreifen.

So Goethes Faust, die Epoche machenden Gedanken in Poesie verwandelnd. Gott wird vom geistigen Körperteil zur mehr oder minder frei gewählten Weltanschauung, vom Dogma zur offenen Frage. Beethoven, wie alle Geistesmenschen dieser Zeit, befasst sich intensiv mit orientalischer, fernöstlicher Dichtung. Die Welt, so ein Eintrag in seinem Tagebuch, ist entstanden durch den »Zusammenlaut der Atome des Akkords«. Worte wie »unwandelbarer Ursprung« kritzelt er in sein Büchlein. Es fällt schwer, hinter der von der Wissenschaft täglich überzeugender beschriebenen, unfassbar harmonischen Einrichtung des – leider nicht unberührbaren – Akkords der Natur keine wie immer geartete höhere Vernunft zu vermuten. Felix Mendelssohns Vater, sechs Jahre jünger als Beethoven, bringt es in einem Brief an seine Tochter Fanny auf den Punkt:

Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Teil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Teil vergangen, fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiß ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiß, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen gibt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiß es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion.

Die Aufklärung wird in der französischen Revolution zur materiellen Gewalt. Die tausendjährige Lufthoheit der Religion über die Köpfe und Herzen Europas erodiert. »Man war vielleicht bisher gewohnt, unter Köln sich ein Land der Finsternis zu denken, in dem die Aufklärung noch keinen Fuß gefasst«, schreibt ein Zeitgenosse nach einem Besuch. »Köln«, das ist das Kurfürstentum mit seiner Residenz Bonn. »Man wird aber ganz anderer Meinung, wenn man an den Hof des Kurfürsten kommt. Besonders an den Kapellisten fand ich ganz aufgeklärte, gesund denkende Männer.« Die Mitglieder der offensichtlich exzellenten Bonner Hofkapelle, unter ihnen so namhafte Musiker wie der Flötist Antonin Reicha, der Hornist und nachmalige Verleger Nikolaus Simrock und der Geiger Franz Anton Ries, sind die Ersten, die das berufliche Selbstbewusstsein ihres ehrgeizigen jungen Orchesterkollegen stärken. Sie bewundern ihn für sein virtuos phantasievolles Klavierspiel; es wird von Zeitgenossen als kraftvoll, brillant und besonders ausdrucksstark, von auf den eher geschmeidig süßen Zeitgeschmack orientierten Anderen als »grob« und »rauh« beschrieben.

In Gesellschaft wappnet er sich mit oft schroffem Selbstbewusstsein. Aber tief innen ist er timide und allein. Die Kindheit war kein Honigschlecken. Die Schulbildung unvollkommen. Der Vater keine Stütze, eher ein Sorgenkind. Jung und unbeschwert? Sind vielleicht andere. Halt, Trost, Schutz und einen Lebenssinn findet er in der Musik. Da merkt er, dass es lohnt, sich zu schinden und mit sich zu kämpfen für die beste Lösung, Stärke zu entwickeln und eine Überlegenheit, die nichts mit Herrschaft zu tun hat, aber mit Guttun. Er spürt, dass seine Art zu musizieren andere rührt und aufregt, das tut gut. Die anderen tun ihm gut. Und er hat etwas zurückzugeben, die Musik ist gut für ihn, er beherrscht sie. In ihr darf er im schönsten und besten Sinn heftig und ungezügelt sein. Nichts ist da glatt. Auch die Perfektion seiner Werke, ihre Vollkommenheit, wenn er gereift sein wird, wird nicht glatt sein. Das Krude, Ungebärdige erlöst in seiner Musik nur ganz erstaunliche Energien. Und fügt sich zu immer neuen Gestalten von bis dahin ungekannter Schönheit und einer Tiefe und Süße, der die Dunkelheiten und Schmerzen der Kindheit und Jugend kaum anzumerken sind. Ein unfassbar richtiges Maß findet er nur in der Musik. Sein Wesen wird in vielem auf hilflose Art maßlos bleiben – Gott und Weltkind in einem.

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