Rassismus. 100 Seiten

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Rassismus. 100 Seiten
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Stephanie Lavorano

Rassismus. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: zero-media.net

Coverabbildung: FinePic®

Infografiken: Infographics Group GmbH

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961427-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020534-1

www.reclam.de

Inhalt

  Vorwort

  Wann beginnt Rassismus?

  Was ist Rassismus?

  Wie denkt Rassismus?

  Ist Europa rassistisch?

  Und nun?

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zur Autorin

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Menschenrechte. 100 Seiten


Vorwort

Als ich im Frühjahr 2016 die Universität Berkeley in Kalifornien besuchte und mein Forschungsprojekt zu gegenwärtigen Formen des Rassismus in Deutschland vorstellte, sagte mir ein Kollege: »Das, was gegenwärtig in Deutschland passiert, sollte man nicht Rassismus nennen.« Er wollte darauf hinaus, dass der Begriff »Rassismus« zu groß, zu gesättigt von der deutschen nationalsozialistischen Geschichte sei, um zu aktuellen Formen der Diskriminierungen zu passen. Würde man heutige Ablehnungen und Ausgrenzungen, Hassrede (hate speech) oder soziale Benachteiligung, von der Menschen in Deutschland betroffen sind, Rassismus nennen, dann komme das einer Verharmlosung des Nationalsozialismus gleich. Mein Kollege fand, die gegenwärtige Lebensrealität von People of Color – die Gesamtheit der Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind – in Deutschland sei schließlich nicht mit den Verbrechen der Nationalsozialisten vergleichbar. Das ist sicherlich richtig. Dennoch wird man der gegenwärtigen Lage genauso wenig gerecht, wenn man den Begriff Rassismus vermeidet. Eines ist jedenfalls sicher: Über Rassismus in Deutschland zu sprechen ist nicht leicht.

Und dabei kommt in Deutschland vieles zusammen. Ein Sprechen über Rassismus ist also zwingend notwendig: Die jüngere Geschichte des Landes ist geprägt vom radikalsten Rassismus und Antisemitismus, nämlich der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945). Aber auch die kurze deutsche Kolonialgeschichte umfasst beispiellose Gewaltakte, insbesondere den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia (1904–1908). Gegenwärtig erleben wir einen ungekannten Aufschwung von Rechtsaußen-Parteien nicht nur in Deutschland, sondern in diversen europäischen Ländern, Menschen lassen ihr Leben auf dem Mittelmeer, während europäische Regierungen ihre Rettung verhindern, Neonazis skandieren 2018 faschistische Parolen offen auf deutschen Straßen und Thilo Sarrazin hat mit seinem jüngsten Buch erneut die Bestsellerlisten erobert. Daneben existieren aber auch weniger offensichtliche Formen der Ausschließung und Ablehnung im Alltag, welche die #MeTwo-Debatte in den sozialen Medien offengelegt hat. Den Überblick zu bewahren und das Thema Rassismus einzugrenzen, fällt angesichts der Vielzahl an Phänomenen schwer.

In Deutschland war der Begriff »Rassismus« im Gegensatz zum angloamerikanischen Sprachraum – umso überraschter war ich vom Einwand meines Kollegen – bis in die 2000er Jahre hinein reserviert für rechtsradikale Gewalt und Ideologien, die sich ausdrücklich auf die biologische Vermessung des Menschen beziehen. Diese krassen Ausprägungen des Rassismus haben im Jahr 2018 auf Demonstrationen eine neue und bedrohliche Sichtbarkeit erlangt. Doch es gibt auch viele andere Formen der Diskriminierung. Schließlich lehnen die allermeisten Menschen solche radikalen Rassismen zwar ab, postulieren aber die Unvereinbarkeit von Kulturen, sprechen bestimmten Gruppen die ›Integrationsfähigkeit‹ ab oder äußern ihre Ressentiments in scheinbar beiläufigen Mikroaggressionen.

Dennoch spricht vieles dafür, trotz der Vielzahl und Verschiedenheit der Phänomene beim Begriff des Rassismus zu bleiben. Denn Rassismus, und sei er noch so subtil, findet nicht in einem geschichtsfreien Raum statt. Viele der tiefsitzenden Vorurteile haben historische Vorläufer, wir haben es also mit alten rassistischen Ideen in neuen Gewändern zu tun. Und auch wenn Rassismus heute glücklicherweise nicht die Radikalität vergangener Zeiten besitzt, so ist die Wirkung, die von ihm ausgeht, dennoch gewaltsam. Rassismus durch einen anderen Begriff zu ersetzen, hieße, die von ihm ausgehende Gewalt und Existenzbedrohung zu bagatellisieren.

Die Anekdote aus Berkeley verdeutlicht aber auch, dass die Frage »Was ist Rassismus?« ebenso diskutiert werden muss wie die, welche Mittel gegen ihn ergriffen werden sollten. Das ist nämlich selbst dann nicht unstrittig, wenn man sich über die Existenz rassistischer Diskriminierung einig ist und ebenso darüber, dass diese keine Daseinsberechtigung hat. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Politik und Forschung wird über solche Schwierigkeiten debattiert. Und tatsächlich stehen wir heute vor der Herausforderung, dass viele unterschiedliche Facetten des Rassismus zur selben Zeit nebeneinander existieren und unterschiedliche Zugänge erfordern. Ja, es sind turbulente Zeiten.

Im Grunde ist es aber nicht zentral, genau zu definieren, ab wann man von Rassismus sprechen sollte. Über die Jahrzehnte der rassismuskritischen Forschung hinweg sind so viele und so unterschiedliche Definitionen entstanden, dass eine Diskussion kein Ende fände. Und so funktioniert Rassismus auch nicht – oder besser: heute nicht mehr. Wesentlicher als die Frage, ob die in den Begriffen wie ›Integration‹ und ›Migrationshintergrund‹ enthaltenen Kategorien und Trennungen bereits zum Rassismus gehören oder dieser erst danach beginnt, ist es für mich, die Zusammenhänge zu verstehen. Mich interessiert, wie solche begrifflichen Sondierungen Vorurteile, soziale Ausschließung und Gewalt vorbereiten. Ohne derartige Grenzziehungen könnte der rassistische Diskurs gar nicht existieren.

Abwertende Darstellungen von Migrant_innen und Migration als gefährlich, kriminell oder kulturell ›andersartig‹ bereiten den Nährboden für eine gesellschaftliche Radikalisierung, und Begriffe wie »Flüchtlingswelle« und in die Sozialsysteme einwandernde »Wirtschaftsflüchtlinge« fördern die Akzeptanz für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn immer, wenn wir auf eine solche Weise anfangen, über Menschen zu sprechen, steht das Menschliche selbst bereits auf dem Spiel. Man kann Rassismus nur entgegentreten, wenn man bereit ist, sich ein unabschließbares Unterfangen vorzunehmen: Wenn man bereit ist, seine Komplexität kennenzulernen und dabei zu akzeptieren, dass man nicht auf abschließende Antworten treffen wird. Dieses Buch ist eine Einladung, sich dem Thema zu nähern und Rassismus entgegenzutreten.

Kleine Begriffskunde

Rassismus, rassistische Diskriminierung: In seiner politischen und rechtlichen Bedeutung meint Rassismus jedwede Ausschließung, Ablehnung oder Ungleichheit eines Menschen aufgrund von ethnischer Herkunft, race, Hautfarbe, Abstammung, Religion oder des nationalen Ursprungs. Jenseits dessen beschreibt der Begriff aber auch Ideologien über die Höher- und Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen. Die Verbreitung eines solchen Denkens ebenso wie Beleidigungen bezeichnet man als hate speech.

Fremdenfurcht (Xenophobie): Rassismus basiert weder auf Furcht noch äußert er sich gegenüber Fremden. Zwar kann das Erzeugen von Angst Rassismus radikaler machen, ihm zugrunde liegen jedoch vor allem Machtstrukturen. Auch wird Rassismus zumeist gegenüber Personen geäußert, die Teil der Gesellschaft und somit keine Fremden sind, so wie etwa im Falle des Antisemitismus oder des deutschen Rassismus gegen ›Menschen mit Migrationshintergrund‹. Der Begriff erklärt sie also erst zu ›Fremden‹ und schließt sie so aus. Der Begriff ›Fremdenfurcht‹ zeichnet so gesehen nicht nur ein falsches Bild von Rassismus, sondern verharmlost ihn auch noch. Denn die Angst vor etwas Fremdem ist eine zutiefst natürliche Reaktion; Rassismus hingegen nicht.

Ausländerfeindlichkeit: Ähnlich wie Fremdenfurcht suggeriert ›Ausländerfeindlichkeit‹, dass sich Rassismus nur gegen eine spezifische Gruppe richtet, ja dass es diese Gruppe überhaupt gibt. Der Begriff Ausländerfeindlichkeit hatte seine Hochphase in den 1990er Jahren während der Anschläge und Progrome gegen Geflüchtetenunterkünfte. Schon damals gab es vonseiten linker Aktivist_innen heftige Kritik am Begriff »Ausländerfeindlichkeit«, der die radikale Gewalt verharmlose.

 

Race: Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung hat der englische Begriff race durch die intensive Auseinandersetzung mit Rassismus seine Bedeutung verändert. Race bezieht sich nicht allein auf die Ideologie biologischer Unterschiede, sondern trägt das Bewusstsein in sich, dass race als soziale Konstruktion gleichermaßen körperliche, kulturelle oder fiktive Differenzen umfasst. Daher wird auch in deutschen Texten häufig der Begriff race anstelle seines deutschen Pendants verwendet.

Rassifizierung/racialisation: Noch stärker als race macht der Begriff der Rassifizierung darauf aufmerksam, dass erst soziale Prozesse den ›Anderen‹ im rassistischen Diskurs hervorbringen. Auch mit der Erfahrung, zu einer stigmatisierten Gruppe zu gehören, wird niemand geboren, sondern sie wird erst im Laufe des Lebens erworben. Rassifizierung ist von seiner Semantik her der treffendste Begriff, um zu beschreiben, wie Rassismus wirkt.

Person/People of Color: Unabhängig von der Hautfarbe bezeichnet dieser Begriff alle Personen, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind oder sein könnten. Der Begriff etablierte sich in den 1970er Jahren im angloamerikanischen Raum im Kontext der Bürgerrechtsbewegung.

Black/Schwarz: Ebenso wie bei People of Color handelt es sich bei Black bzw. Schwarz im Deutschen um gewählte Selbstbezeichnungen. Um zu verdeutlichen, dass es sich bei Black/Schwarz nicht um die Hautfarbe, sondern um eine soziale Kategorie handelt, werden beide Begriffe großgeschrieben. Im Sprechen über Rassismus sollte immer auf Selbstbezeichnungen der Communities zurückgegriffen werden, da die meisten anderen Bezeichnungen selbst Produkte rassistischer Diskurse sind und daher rassistische Vorstellungen vielmehr reproduzieren, als gegen sie einzutreten.


Wann beginnt Rassismus?

Wo fängt Rassismus an, wann wird er spürbar? Dass es schwer fällt, diese Frage spontan zu beantworten, liegt daran, dass es sich eigentlich um eine Fangfrage handelt. Denn erstens besitzt Rassismus in einem zeitlichen Sinne keinen Anfang; vielmehr ist er als Phänomen zeitlos. Als ein Meister der Wandlung hat er seine Gestalt durch die Jahrzehnte hindurch dennoch verändert; Ideologien der biologischen Differenz sind der vermeintlichen Unvereinbarkeit von unterschiedlichen Kulturen und Religionen gewichen. Manifester Rassismus in Gesetzestexten und Staatlichkeit ist nahezu verschwunden, heute verbirgt er sich in häufig unausgesprochenen Meinungen, Einstellungen und Emotionen. Diese subtilen Ausprägungen des Rassismus, die laut der UN eine der größten Herausforderungen im Kampf gegen gegenwärtigen Rassismus darstellen, sind besonders unauffällig. Sie geben sich nicht selbst zu erkennen, machen ihre Intention nicht explizit und häufig bedürfen sie auch keiner Begründung. Vielmehr erschaffen sie Bilder des ›Anderen‹ und organisieren Emotionen oder Assoziationen um sie herum. Der heutige Rassismus erschafft moderne Mythen des ›Anderen‹.

Wenn wir nun den Blickwinkel von einer historischen auf eine persönliche Perspektive verschieben und danach fragen, wann wir mit diesen neuartigen, latenten Formen des Rassismus in unserer Erfahrung und Biografie in Berührung gekommen sind, dann stoßen wir auf eine wesentliche Problematik: Eben weil der heutige Rassismus häufig subtil ist, bleibt er vielen gänzlich verborgen, während andere die Konfrontation mit dieser Form rassistischer Diskriminierung als Bestandteil ihres alltäglichen Lebens beschreiben. Das Wissen über alltäglichen Rassismus ist also recht ungleich verteilt – jene, die Rassismus erleben, wissen über ihn Bescheid, doch die Mehrheitsgesellschaft bleibt häufig ahnungslos oder bestreitet seine Existenz sogar. Wenn wir also dem Phänomen des Alltagsrassismus nachgehen wollen, setzt das vor allem voraus, dass wir bereit sind, den Expert_innen für Alltagsrassismus zuzuhören und von jenen, die unfreiwillig ein umfängliches Wissen über ihn erlangt haben, zu lernen.

Die Twitter-Debatte #MeTwo war ein solcher Vorstoß, um den Fokus der Öffentlichkeit auf Alltagsrassismus zu richten und über dessen Existenz in Deutschland aufzuklären. In Anschluss an die Sexismusdebatte #MeToo rief der Aktivist Ali Can den Hashtag #MeTwo im Sommer 2018 ins Leben. Zuvor hatte der mit dem Integrationsbambi ausgezeichnete Nationalspieler Mesut Özil aufgrund von Rassismuserfahrungen die deutsche Nationalmannschaft verlassen. In einem Internetvideo sagte Ali Can, es brauche »eine #MeToo-Debatte für Menschen mit Migrationshintergrund«.

Sein Appell hatte Erfolg. Innerhalb von einer Woche wurde mehr als 50 000 mal, zeitweise im Sekundentakt, unter #MeTwo über Alltagsrassismus getwittert. Die überwältigende Zahl der Wortmeldungen zeigt, wie notwendig eine Debatte um Alltagsrassismus in Deutschland ist. Die Tweets erzählen von persönlichen Erlebnissen und sind kurze Lektionen darüber, welche Formen gegenwärtiger Rassismus annimmt, in welchen Sätzen und Handlungen er steckt. Es sind Szenen aus dem Alltag, Geschichten vom Sport, von der Arbeit, vom Einkaufen und – ein überwältigender Teil – aus der Schulzeit. Die Tweets machen deutlich, dass Rassismus sich nicht immer in offener Gewalt äußern muss, sondern sich auch in tief verwurzelten Denkmustern, Einstellungen und Vorurteilen verbirgt, die sich in den beschriebenen Szenen ausdrücken.

Die folgenden Originaltweets der #MeTwo-Debatte machen deutlich, dass sich Alltagsrassismus auf unterschiedlichste Weise gegen verschiedene Personen richten kann. Die in ihnen geschilderten Situationen haben auf den ersten Blick kaum etwas gemeinsam – gerade deswegen eignen sie sich dazu, etwas über die verschiedenen Aspekte des Alltagsrassismus zu lernen. Hören wir also zu!

»Du siehst ja nicht so schwarz aus, zumindest checkt bestimmt niemand, dass du »halb« aus Afrika kommst«

Wo fange ich da nur an?

*Afrika ist ein Kontinent.

*Ich komme nirgends »halb« her, sondern aus Koblenz

*Wieso soll ich froh sein, nicht »so schwarz« zu sein!? #MeTwo

– Giorgina Kazungu-Haß @KazunguHass 26. Juli 2018

Dieses erste Beispiel deckt auf, dass der Eurozentrismus immer noch ein verbreitetes Denkmuster ist. Dass Afrika als Ganzes und nicht als ein Kontinent aus 53 sehr unterschiedlichen Staaten wahrgenommen wird, ist etwas, das wir allzu häufig im Alltag wie in den Medien antreffen. Obwohl der afrikanische Kontinent flächenmäßig ganz Europa, die USA und China aufnehmen könnte, wissen viele Europäer über Afrika in Kontrast zu etwa Nordamerika sehr wenig. Diese Asymmetrie in der Wahrnehmung von ›westlichen‹ und ›nicht-westlichen‹ Staaten ist dabei keinesfalls zufällig.

Der Soziologe und Rassismusforscher Stuart Hall (1932–2014) hat mit dem Stichwort »The West and the Rest« die historische Entwicklung eines eurozentristischen Weltbildes nachgezeichnet, in dem der sogenannte ›Westen‹ als Nabel der Welt gilt. Seit der Zeit des Kolonialismus hat sich Europa nicht nur als ökonomisches und politisches, sondern auch als kulturelles und zivilisatorisches Zentrum imaginiert. Der ›Rest‹ wurde dabei zu einem Randgebiet, das einerseits gewaltsam ausgebeutet und andererseits lediglich im Rahmen vom Westen geschaffener Stereotype anerkannt wurde. Diese Klischees reichen vom ›Exotischen‹ bis hin zur Rede von einer zivilisatorisch, ökonomisch und kulturell rückständigen ›Dritten Welt‹. Zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Rest‹ gibt es keine natürliche Grenze, sondern die Unterscheidung wurde erst in den kolonialen Diskursen gesetzt und hat sich bis heute häufig verschoben. Die während der Kolonialherrschaft geschaffenen Bilder und Machtasymmetrien sind bis heute in Wissenspolitiken und alltäglichen Bildern deutlich spürbar.

Zum Eurozentrismus gehört auch die ablehnende Wahrnehmung der afrikanischen Bevölkerung als Gegensatz der westlichen Zivilisation und des Fortschritts, sie gilt oft als ›rückständig‹ oder ›wild‹. Wie sehr diese Stereotype in unser Denken vorgedrungen sind, zeigt die Symbolik der Nichtfarben Schwarz und Weiß, die in unseren Sprachgebrauch und damit in unsere Wahrnehmung eingegangen ist. Begriffe wie Schwarzfahren, schwarze Magie, schwarzer Tod und weiße Weste, Weißes Haus zeigen, dass Schwarz unweigerlich mit Abwertung verknüpft wird. Die Symbolik von Schwarz und Weiß besitzt eine ins christliche Mittelalter zurückreichende Geschichte, die von den rassistischen Lehren im 18. und 19. Jahrhundert aufgegriffen wurde. Diese latente Vorstellung einer Höherwertigkeit des ›weißen‹ Westens wird in Alltagsrassismen gegen Afrodeutsche spürbar.

In ihr steckt auch die Idee, dass Schwarze Menschen, obwohl sie seit dem 18. Jahrhundert Teil der deutschen Bevölkerung sind, nicht als Deutsche gelten können. Afrodeutsche berichten davon, dass sie häufig mit Fragen nach ihrer Herkunft konfrontiert werden oder ihnen auf Englisch geantwortet wird, selbst wenn sie Deutsch sprechen.

Politikunterricht 9. Klasse Lehrer zieht über Erdogan her Ich, so ziemlich einziger Kanacke in der Klasse »Oh Maryem bei dir müssen wir ja darauf achten, was wir so über Erdogan erzählen« … Herr Schmitz ich stamme aus Pakistan »Ja trotzdem« #MeTwo

May @mary005111 – 26. Juli 2018

Rassismus ist auch ein Meister der Simplifizierung. Der Schülerin wird nicht nur abgesprochen, Teil der deutschen Gesellschaft zu sein, ihre Herkunft wird auch gleich in einen anderen Teil der Welt verlagert, woraus in einem dritten Schritt auf ihre politische Einstellung geschlossen wird. Fälschlicherweise wird von Rassismus oft behauptet, er drücke Angst oder Ressentiments gegenüber dem Fremden aus – so legt es der Begriff der ›Fremdenfeindlichkeit‹ zum Beispiel nahe. Dieses Beispiel zeigt hingegen: Es geht nicht darum, dass die Schülerin fremd ist; im Gegenteil scheint der Lehrer sie ganz genau zu kennen. Sein Rassismus wurzelt lediglich in der Tatsache, dass er seine Schülerin als ›Migrantin‹ wahrnimmt. Nahezu automatisch wird ein Stereotyp des ›Migranten‹ projiziert. Dass Menschen, die als Migrant_innen wahrgenommen werden, nicht mehr als ein Individuum gelten, das über die eigene Identität, Einstellung und Eigenschaften selbst verfügen darf, sondern dass ihre Identität verallgemeinert wird, ist einer der häufigsten Mechanismen des Alltagsrassismus. Wie feststehend diese Stereotype sind, zeigt sich an dem Umstand, dass berechtigte Widersprüche nicht akzeptiert werden.

Lange Schlange an der Kasse. Ich sag zum älteren Mann hinter mir: »Sie können ruhig vor.« – »Nein danke, ich habe dich lieber im Blick.« #MeTwo

Abdelkarim @AbdelkarimsLP – 26. Juli 2018

Offenbar ist der »ältere Mann« um seine Sicherheit besorgt und nimmt seinen Vordermann an der Kasse als bedrohlich wahr. Die Vorstellung, dass von (vermeintlichen) Zuwanderern eine Gefahr für die Gesellschaft ausgehe, dass die innere Sicherheit womöglich auf dem Spiel stehe, ist nicht nur ein vielbeschworenes Bild in den Migrationsdebatten, insbesondere wie sie seit dem Zuzug von Geflüchteten im Sommer 2015 geführt werden. Es handelt sich auch um ein Bild, das in der Geschichte des Rassismus tief verwurzelt ist. Das Element der Kriminalisierung hat beispielsweise die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) ins Zentrum ihrer Analysen des Nationalsozialismus gestellt. Die Kriminalisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen sei eine zentrale Strategie bei der Errichtung der ersten Konzentrationslager gewesen, die noch nicht der Vernichtung, sondern ›nur‹ der Internierung dienten. Wurden unter »Schutzhaft« zu Beginn noch lediglich tatsächliche Kriminelle gestellt, weitete sich in der Propaganda die Bedrohung auf mehr und mehr Bevölkerungsgruppen aus: Plötzlich waren auch politische Gegner, Sinti und Roma sowie Deutsche jüdischen Glaubens eine Gefahr. »[M]an behaupt[et], es mit jemandem zu tun zu haben, der ein Verbrecher ist, unabhängig davon, was er tut oder läßt«, schreibt Arendt. Die inszenierte Bedrohung legitimierte das außerordentliche Handeln ungeachtet des geltenden Rechts und rechtfertigte somit die Errichtung der Lager.

Sicherlich sind wir weit davon entfernt, ganze Bevölkerungsgruppen zu kriminalisieren. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Begriffe kursieren, die eine Verschränkung von Herkunft oder Zuwanderung und Kriminalität nahelegen: So ist etwa seit der Kölner Silvesternacht 2015 der von Polizisten verwendete Begriff des »Nordafrikanischen Intensivtäters« (»Nafri«) im Umlauf, ausschließlich für islamistische mutmaßliche Terroristen ist der Begriff »Gefährder« eingeführt worden und die AfD spricht im Jahr 2018 von »Messermigration«. Der sich in solchen Vokabeln verbergende rassistische Diskurs ist besonders wirkmächtig, da er nicht nur Angst schürt, sondern auch Täter- und Opferrolle vertauscht.

 

Aus der #MeTwo-Debatte haben wir gelernt, dass Rassismus keine Ausnahme, kein Fehler in einem an sich gut funktionierenden System ist. Er ist vielmehr fester Bestandteil einer gesellschaftlichen Normalität in Deutschland. Lediglich aufgrund der Hautfarbe, der Sprache oder des Namens erfahren bestimmte Menschen Ablehnung und Ausgrenzung oder werden mit Vorurteilen konfrontiert. Feindbilder, die etwa in Politik und Medien hervorgebracht werden, finden sich allzu häufig auch in alltäglichen Diskriminierungen wieder. Nicht immer werden solche Mechanismen bewusst angewendet, im Gegenteil liegt es in der Natur des Rassismus, dass er dort am vehementesten wirken kann, wo wir ihn am wenigsten vermuten. Das ist etwa der Fall, wenn er beispielsweise Teil unserer unhinterfragten Vorstellung von uns selbst und ›den Anderen‹ geworden ist, sich in das Wertesystem einer Gesellschaft eingeschlichen hat oder sich sogar in Diskursen der Toleranz verbirgt.

Dabei kursieren im Alltag verschiedenste Motive der Ablehnung, die häufig Produkte der langen Geschichte des Rassismus sind oder zumindest auf diese verweisen. Mal werden Bilder eines unterentwickelten Afrika, wie sie auch in Deutschland durch die Kolonialzeit geprägt wurden, mobilisiert, mal die vielfältigen Narrative des antimuslimischen Rassismus beschworen, oder es wird einfach nur die imaginierte kulturelle Homogenität des Deutschen gefordert. Auch das gehört zum heutigen Rassismus, dass er nicht gleichförmig ist, sich nicht immer gegen eine bestimmte Gruppe äußert, sondern höchst unterschiedliche Gesichter haben kann. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch, dass sie aussagen: Du gehörst nicht dazu!

»Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.«

Albert Memmi – Rassismus

Greifen wir die Frage »Wo fängt Rassismus an?« noch einmal in einem strukturellen Sinne auf, dann sehen wir, dass dieses »Du gehörst nicht dazu!« die Grundaussage rassistischer Diskurse darstellt. Wie Albert Memmi es formuliert, stellt der Rassismus Unterschiede fest. Dies können tatsächliche Merkmale wie Hautfarbe, der Name oder die Sprache oder eben auch fiktive Merkmale sein, die erfunden werden, um das ›Andere‹ zu markieren. Wesentlich ist, dass diese Unterschiede in einer verabsolutierenden Weise interpretiert werden. Dass kein Mensch dem Anderen gleicht, dass manche besonders viele Haare, andere große Füße haben, dass manche Frühaufsteher sind und die einen Klassik, die anderen Death Metal hören, ist eine banale Erkenntnis, aus der wir keine Konsequenzen ableiten würden. Genau solche Schlüsse zieht aber der Rassismus. Er ordnet Menschen in gegensätzliche Kategorien ein und weist ihnen ebenso gegenläufige Eigenschaften zu. »Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft auszeichnet«, schreibt Stuart Hall zu diesem Prozess. Im Rassismus werden somit nicht nur Aussagen, Bilder und Urteile über die ausgeschlossene Gruppe geschaffen, sondern diese Aussagen knüpfen an die Imagination dessen an, welche Eigenschaften die Gemeinschaft besitzt, von der diese Unterscheidung erst ausgeht. Die Abwertung des ›Anderen‹ ist somit zugleich die Aufwertung der ›eigenen‹ Identität. Aus diesem Grund sind rassistische Vorstellungen so tragfähig und schwer zu bekämpfen. Denn Einspruch gegen sie zu erheben, heißt, die Identität der Mehrheitsgesellschaft zu destabilisieren und ihre positiven Eigenschaften anzuzweifeln.

Das Spektrum der Stereotype reicht dabei von belanglosen Eigenschaften wie der ›deutschen Pünktlichkeit‹ und dem ›anderen Zeitgefühl der Migranten‹ über die ›mangelnde Disziplin‹ und ›Heißblütigkeit der Südländer‹ bis dahin, dass man bestimmten Gruppen Kompetenzen unterstellt oder abspricht. Immer schließen die so gebildeten Klischees ihr Gegenteil aus und kennen keine Ausnahme. Rassismus erschafft dadurch einfachste Urteile in einer komplexen Welt. Auch deswegen eignet sich die im rassistischen Diskurs ausgeschlossene Gruppe hervorragend für Projektionen von sozialen Problemen: Für den Mangel an Arbeitsplätzen, Kriminalität oder auch Frauenfeindlichkeit werden einfach die ›Anderen‹ verantwortlich gemacht, obwohl dies im Kern traditionelle Probleme der Mehrheitsgesellschaft sind.

Rassismus kommt also einem Bedürfnis nach, sich der eigenen Identität zu vergewissern, und verklärt diese sogar. Man könnte an dieser Stelle anmerken, dass so ein Bedürfnis nicht weiter schlimm, ja, vielleicht sogar menschlich sei. Selbst die Abgrenzung gegen einen selbst geschaffenen ›Anderen‹ könnte man vielleicht noch legitim finden. Die Problematik ist jedoch, dass hinter dem erdachten ›Anderen‹ immer Menschen stehen und sich an die imaginierte Ausschließung auch eine tatsächliche Ausgrenzung anschließt. Auch davon hat die #MeTwo-Diskussion Zeugnis abgelegt. Rassismus und ebenso die durch ihn definierten In- bzw. Out-Groups sind soziale Konstruktionen, nichts entspricht ihnen in der Realität.

Das heißt aber nicht, dass von diesen (Vor-)urteilen keine reale Wirkung ausgehen würde. So wie sich Vorurteile, die in den Medien hervorgebracht werden, in Mikroaggressionen im Alltag ausdrücken, bereiten die erfundenen rassistischen Stereotype und Narrative eine tatsächliche soziale Ausschließung vor. Will man also gegen Rassismus tätig werden, dann muss man sich diesen Denkmustern widmen. Hat man aufgedeckt, wo in unserem Wertesystem und Kategorien, auf die wir uns tagtäglich beziehen, sich der Rassismus verbirgt, kann man dessen Mechanismen aufbrechen.

Der Philosoph Etienne Balibar (*1942) hat in seinen Analysen zum Neorassismus gezeigt, dass sich der heutige Rassismus vordergründig gegen »Immigranten« selbst richtet, jene Personen also, die neudeutsch als »Menschen mit Migrationshintergrund« bezeichnet werden. Der Begriff ist uns allen geläufig, und wir nehmen an, dass wir seine Bedeutung genau kennen. Dem ist aber nicht so. Vielmehr lässt sich anhand dieser Kategorie illustrieren, wie das Erzeugen des Anderen, das Othering, sich vollzieht und wie sich an die Etablierung einer fiktiven Grenze Bilder des ›Eigenen‹ und ›Anderen‹ anknüpfen:

Das Heilbronner Lokalblatt titelte 2013: »Kaum eine Stadt ist bunter«. Fast jeder zweite Heilbronner habe eine Zuwanderungsgeschichte; im Bevölkerungsquerschnitt seien es genau 46,1 Prozent. Will man eine Prognose für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre wagen, dann ergibt sich ein überraschendes Bild: Denn je jünger die Heilbronner sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Migrationshintergrund besitzen. Bei den Sechs- bis Zehnjährigen haben schon 70 Prozent »eine ausländische Herkunft« und bei den unter Dreijährigen sind es sogar 73 Prozent. Heilbronn sieht sich mit einer Integrationsaufgabe konfrontiert; die Integrationsbeauftragte wirbt angesichts solcher Zahlen für Deutschkurse für die Allerjüngsten, denn von der Sprache hänge »ein Gelingen von Integration« ab.

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