Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille

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Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille
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TOBIE SCHMACK


COMEDY

ROMAN

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für DMC

INHALT

Cover

Titel

Impressum

KNOCK OUT

CHICKEN OR BASTA

BLANKGEZOGEN

GROUND ZERO

RING, RING

»MUSSTE DEFINIEREN«

KASTRIERT IM SUPERMARKT

KAHLSCHLAG

DER PFERDEBISS-COCKTAIL

BEZIEHUNG WIDER WILLEN

ABGESTÜRZT IN DEN OLYMP

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH

WIR WAREN WIR

AN DER LEINE

IT’S ALL ABOUT BUSINESS

AUSERKOREN & ABGEFROREN

OHRWURM

FEMME FATALE

BACK ON STAGE

KOMPROMISSLOS VERFAHREN

AFFENZIRKUS

TISCHLEIN DECK MICH

JACKPOT

GANZ ENTSPANNT

KNOCK OUT

BANG! Fünf Fleischfinger geballt zu einer Faust! WOOOM! Fünf Griffel eingelegt in einen Schmierfilm aus Kippe und altbackenen Fritten. DENG! Meine Nase knirscht. TRONK! Mit dem Kinn schlage ich hart auf dem gewienerten Bartresen auf, wobei mein spärlicher Zickenbart kaum etwas abfedern kann. Noch im Flug fangen meine Augen ein mannshohes Hähnchenkostüm vom Nebentisch ein und nehmen das Bild im Zwischenspeicher meiner dröhnenden Hirnrinde mit nach unten. Der Gockel genießt das Spektakel, das um mich herum geschieht, dankbar und prostet mir zu, lenkt es wohl doch von der Peinlichkeit ab, dass er sich gerade von seinen Kumpels mit rohen Eiern beschmeißen lässt. Kein Thema! Ich helf doch gern! RUMMMS!

»OOOaaaahhhrrrrr!«

Als ich meinen Kopf hebe, spüre ich, wie der rote Saft aus meiner Lippe tropft. Der Boden unter mir, der eben noch so streifenfrei glänzte, ist rötlich verschmiert mit einer Suppe aus Blut und Schleim. Während ich versuche herauszufinden, warum, wieso und weshalb ich nicht mehr gemütlich da oben an der Bar sitze und das perfekt gekühlte Krefelder vor mir habe, bauen sich zwei schwere Stiefel vor mir auf. BAMM! BAMM! BAMM! Schlammstiefel! Okay, wir sind ja auch auf dem Dorf. Mehr kann ich im Moment nicht erkennen, will ich auch nicht. Und der Kerl über mir hat sicherlich ganz anderes im Sinn als Glückwünsche zu seinem Kauf äußerst bequem erscheinender Schuhe. Mann! Welcher blöde Arsch hat mir da gerade seine mächtige Pranke auf die Schulter gepackt? Ein Bier, ich wollte doch nur mal feiern … Scheiße!

»Ey, sag mal, meine Nase! Ey, ist die gebrochen? Du Vollarsch, die ist gebrochen.«

Oh, Mann! Und wo ist Tacko? Alles ist verschwommen. Wer ist dieser Typ in der Tarnfleckhose? Moment! Tarnfleck? Plötzlich schwant mir was. Mit respekterfüllter Vorahnung schaue ich langsam nach oben, wissend, dass mit jedem zu sehenden Zentimeter seines Körpers meine aufkeimende Angst mehr und mehr begründet ist. Auch aus dieser Erdkrötenperspektive gibt es keinen Zweifel. Für ihn übrigens da oben auch nicht, was er gern unterstreicht. Schwungvoll klatschen seine feuchten Fleischerfinger an meine zarte Ohrmuschel, die sichtlich bemüht ist, den Schwung abzufangen. Wo ein Körper ist, kann ein anderer nicht sein, schießt es mir neben der Druckluft durch den Gehörgang des rechten Lauschers. Plötzlich ist es wahnsinnig still. Ich schüttele mich kurz und fühle mich, als wäre es schon halb zwölf und meine Bilanz bereits bei einer gekillten Palette Southern Comfort Ginger Ale. Alles dreht sich. Selbst die Beine um mich herum tanzen. Da kann ich mich schütteln, wie ich will. Besser wird’s nicht. Nee, wirklich nicht! Obwohl ich hier unten nun wirklich einiges zu tun hätte, um meine Situation zu stabilisieren, kotze ich meinem möglichen Endgegner des Abends direkt auf die Schnürsenkel. Unschön! Ja, das ist jetzt wirklich unschön. Deeskalation ist nicht unbedingt meine Schlüsselqualifikation. Während ich angewidert mein Eigenblut betrachte, wird mir klar, dass Einknicken jetzt gar nichts bringt. Die frisch bebrochenen Lederschuhe würden aber ohne Frage einen herrlichen Opener für einen fulminanten Bühnengag abgeben. Mein mühsamer Versuch aufzustehen scheitert. Als ich versuche, mich mit der linken Hand aufzustützen, rutscht mir die auf der Bierlache weg. ZACK! Ich schlage leicht mit der rechten Schläfe auf. Verdammt, kann mir denn mal einer helfen! Plötzlich packt mich jemand und stellt mich so schwungvoll wieder auf, dass mit einem Mal mein vor Stunden frisch erstandenes Checkerhemd um einige Blutsprenkel reicher ist. Okay, jetzt hab ich ein Unikat, aber noch immer keinen erlösend scharfen Blick für meinen Angreifer. Zwei wütend strahlende Augen durchstoßen meine Ahnungslosigkeit und drücken die Erkenntnis eiskalt zutage. Ja, in die Performance, die hier gerade mit mir abgeht, hatte ich mich durch eine erfolgreich platzierte Nummer selbst geplaudert. Direkt vor mir überlegt niemand Geringeres als der 3D-Troll himself, der Depp vom Dienst aus Deppelsdorf, wie er sich für die kostenlose Publicity im Lokalkanal eindrucksvoll revanchieren könnte. Und trotzdem, das kann doch einfach alles nicht wahr sein. Sowas passiert hier nicht. Da wird einer wie ich nicht hinterrücks zusammengelegt und endet in der Sammeltonne in einer schmuddeligen Seitenstraße. Nein, solche Geschichten passieren in L.A., von mir aus in einem neudeutschen Blockbuster in Berlin-Mitte, aber ums Verrecken nicht hier, mitten in dieser popeligen Provinzstadt, deren markanteste Eigenheiten ein gefühltes Einwohner-Durchschnittsalter von achtundachtzig, eine Schwemme an Kosmetikstudios und die Wiederentdeckung des persönliches Freiraums der humanoiden Restposten nach erfolgtem Abriss des in Zonenzeiten kredenzten Stadtbildes sind. In dieser Oase hinterwäldlerischer Eintönigkeit wollte ich nichts mehr, als nur mal ein Bierchen mit Tacko ziehen, mich im Rennen Richtung Firmenspitze bei COMICALL selbst feiern und, wer weiß, vielleicht als Sahnehäubchen noch die Kleine hinterm Zapfhahn klarmachen. Heute, heute sollte mir alles gelingen. Egal, dass mir das Landei sicher gleich die vor lauter Karrierestolz geschwellte Brust zerlegen würde. Mach doch! Da sind Heerscharen an Brusthaaren, die mir vor gefühlten fünf Sekunden in einer Suppe aus Stolz spontan im Office gewachsen waren, als ich meine Antrittsrede in die erstaunten Gesichter meines Teams geschleudert hatte. Keine Frage, da war ich der King im Ring. Ja, das war ich … nein, ich bin’s, ganz plötzlich auf der Gewinnerstraße und sowas von bereit, auf der Überholspur über »LOS« zu donnern. Dummerweise hatte ich das Spiel nicht im silbernen Rennwagen, sondern im nicht sonderlich attraktiven Wanderschuh begonnen. Und so bin ich noch immer unbeweibt. Das Dilemma leuchtet in strahlenden Lettern deutlich auf der Stirn und wird hilfreich verstärkend von tiefen Sorgenfalten unterstrichen. Ich brauche so dringend ein Date. Verdammte Hacke! Ich kann doch da unmöglich allein auftauchen. Nicht nur wegen Dörte, wegen allen.

»Nun glotz doch nicht so blöde«, schreie ich den Nerd am Dartkasten an, der mich die ganze Zeit über runterfilmt und allem Anschein nach damit Karriere bei YouTube machen will.

Aber dieser dickliche Zwerg ist nun wirklich nicht mein schwerstes Problem. Nein, gegen den Hieb, der gleich auf meiner Brust einschlagen würde, ist das Kinderfernsehen. Warum laufen solche Impacts immer in Zeitlupe ab? Ich denke: »Nee, nicht?!« und weiß: »Scheiße! Doch!« Mann, warum gucke ich bloß Freak-TV! Eine Folge von diesem Weiberaustausch und etwas gelebte Verzweiflung weniger, und das alles hier würde jetzt gar nicht passieren.

 

»Pass ma’ auf, du Spacko«, schlägt es mir mit einem groben Spuckeflatschen ins Gesicht, »das ist für die Grütze in der Glotze. Und das für die Mäusekacke in der Zeitung!«

BANG! Wie ein Abonnent sieht er nun wirklich nicht aus, geschweige denn wie ein regionaler Literaturkritiker. Irgendeiner muss es ihm also gesteckt haben. Aber was kann ich dafür, dass der für dreifünfzig in einer Dokusoap seine Ehre verhökert, nur um mal in jener trashigen Eigenproduktion mitzumischen. Nein, ich hab nicht angefangen. Den ersten Schritt ins vernichtende Scheinwerferlicht hat der Hüne über mir gänzlich freiwillig gemacht, was mir für eine Hundertstel etwas Dialogfleisch entlockt, das ich dem Dorfköter zugleich in die gefletschte Fresse werfe.

»Haste jemanden gefunden, der lesen kann?«

Die Frage hätte ich sein lassen sollen, aber auch wenn meine Schlachtbanklage jetzt nicht danach aussieht, ich muss das sofort wissen. Die Nummer gefällt dem Fleischberg überhaupt gar nicht. Nein, dafür muss ich nicht erst auf den Schlag in die Rippen warten. Wenn die Faustmassage einen anhaltenden Fitnesseffekt hätte und meine nicht zu leugnenden Speckröllchen zertrümmern könnte, ich wäre vielleicht sogar mittelfristig sowas wie dankbar. In der Hoffnung, dass Rippenknochen grundsätzlich nicht so leicht brechen, setze ich nach.

»Scheiße gelaufen, was! Konntest ja nicht ahnen, dass du deine Frau zurückkriegst, ’ne! Sag mal, wer war eigentlich der Fetti in der Kittelschürze? Der mit den drei Zahnpfosten!«

Er stutzt kurz, gibt sich aber bedröppelt kooperativ in meinem kleinen Frage-Antwort-Spiel.

»Hä? Des is meene Olle!«

Wow, schießt es mir durch den Kopf und ich versuche krampfhaft, nicht lachend loszubrüllen, nicht zuletzt, weil das überall am Körper schon äußerst wehtut.

»Deine Alte? Ich dachte, das wäre dein Bruder. Ich mein, Hängetitten hat bei euch ja jeder. Seht euch ganz schön ähnlich. – Na ja, bleibt ja in der Familie, was!«, füge ich kurz hinzu und lege meine Hände vorsichtshalber schützend auf den Brustkorb, als ich im schönsten Slogan-Sprech abrundend ergänze: »Unwucht wegen Unzucht, ne!«

Jemand neben mir findet das irre komisch, fängt sich dafür aber eine ein, die ihn krachend vom Barhocker fegt. Gut, der Druck ist also schon mal raus, der Prügelakku wohl aber noch nicht hinreichend entladen. Während ich den Unbekannten am Boden kurz mustere, kann ich es doch nicht sein lassen, noch einen draufzupacken.

»Tschuldigung für den Gag. Ich kann ja nicht riechen, dass bei euch in der Hauptschule ganze vier Buchtstaben auf dem Plan stehen. Ich dachte, euer ABC endet da auch.«

Mit einem kräftigen Schub sause ich jetzt gegen die getäfelte Wand hinter mir. Die daran aufgereihten Partybilder weichen mit etwas Widerstand und gehen klirrend zu Boden. Nach kultivierter Konversation sieht das für die Umstehenden sicher nicht aus. Unterhaltsam scheint es aber allemal zu sein, wenn ich die zufriedenen Gesichter und die auf mich gerichteten Handys richtig deute. Als ich bemerke, dass ich mit meiner Jeans mitten in einem Teppich aus Glasscherben bade, wünsche ich mir, ich könnte spontan die Stellung wechseln und mit dem Aufreißer-Würstchen am Snookertisch tauschen. Der hat den ganzen Abend schon so blöd gegrinst, dem würde etwas Gesichtskorrektur definitiv nicht schaden. Der Hammermann, der mich momentan gern weiter bearbeiten möchte, hat andere Pläne, grunzt konsequent die zwei wasserstoffgezeichneten Tussis zur Seite und legt mich im hohen Bogen auf dem Billardtisch ab. Fertigmachen zur OP! Meine Hoffnung, dass meine gratis Intensivbehandlung damit ein knappes Ende gefunden haben könnte, zerschellt, als ich sehe, dass sich der Hulk an den sauber an der Wand drapierten Queues bedient. Seine Auswahl ist dabei eher spontan, ganz intuitiv, und nicht auf Qualität in Verarbeitung und Führung ausgelegt. Das Leben ist, wie Omma es unermüdlich bei jeder großen Woche in den Hauseingang sabbelte, manchmal hart, aber so hart wie Billardholz mag ich es dann doch nicht. WUSCH! Der glänzend polierte, filigrane Stab streicht wie ein Laserschwert unerbittlich elegant durch die versiffte Luft des Clubs. ZOOM-ZOOM. Um das garantiert gleich hochschnellende Brennen nicht auch noch sehenden Auges zu greifen, sondern es schlicht zu erahnen, kneife ich meine leicht ängstlich zitternden Lider so fest wie möglich zusammen, dass mir Millionen kleinster Glasbausteine in allen erdenklichen Farben erscheinen, und bete mir innerlich einen ab. Keine Ahnung, ob das Vaterunser der Prüfung durch einen Geistlichen standhalten würde, aber ich nehme jetzt wirklich jeden Strohhalm, nur eben keinen erbarmungslosen Billardqueue. Ich wäre ja durchaus bereit gewesen wegzurennen, aber die behaarte Tatze ist flinker als gedacht, sodass er mich eindrucksvoll auf dem Grün fixiert und mir – leider etwas unverständlich zum Mitschreiben – was in die Nasenhöhle sabbert. Ja, Geben ist seliger denn Nehmen. Amen! Es gibt Momente, die gehen zack vorbei. Dieser dauert ewig. Und dauert. Und dauert! Für eine Millisekunde fühle ich mich fast schon gelangweilt, aber die Urangst vor dem Schmerz ist, zugegeben, weitaus größer, und so zieht sich an mir zusammen, was sich zusammenziehen kann.

Eigentlich stehe ich nicht auf Billardclubs. Aber es gibt garantiert unwirtlichere Orte, an denen man abends herumlungern kann. Der Kaffee war hier schon immer umsonst und die örtlichen Bushaltestellen nicht wirklich sonderlich einladend für einen gepflegten Männerplausch. Und wann immer hier drinnen eine bis dahin für den Großteil der Publikums unterhaltsame Schlägerei zu eskalieren drohte, gab es Manni, der sich darum kümmerte, jene Balance wieder einzurichten, die, zumindest bis die Wetten platziert waren, für ihn eine Chance auf einen guten Schnitt sicherten. Wir sind alle ein Teil eines großen Ganzen. Bei Manni hatte das irgendwann jeder kapiert. Immerhin ist das seine Hütte. Es ist kein Geheimnis, dass Redseligkeit bereits drei Generationen vor ihm familiär als Ladenhüter gegolten haben muss. So ist das Respekt einflößende Muskelkleid wohl durchaus im Bausteingewirr seiner ganz persönlichen DNA manifestiert. Daher war kein Dauergast jemals so leichtsinnig, mit Mannis Fäusten ins Zwiegespräch zu eilen. Das hätte auch der hochgewachsene Stoppelbartfettsack wissen sollen, dessen geführter Holzstab immer noch in der Luft hängt und gleich meine von mir so sorgsam gehüteten Hodensäcke zerlegen wird, scheibenweise – nett angerichtet. Ja, gleich ist das Buffet eröffnet. Wenn es einen Moment gibt, an dem ich freiwillig nach der bereits seit geraumer Zeit abgelegten Mutterbrust schreien dürfte, ja sollte, dann jetzt.

»MAAAAAAAMAAAAAA!«

Aber dann! ROMMP! Alles geht plötzlich verdammt schnell. Manni springt in meinen Angreifer hinein und fängt sich dabei einen der Billardstäbe am Oberarm ein. In einem Western würde das Holz nun vollkommen zersplittern und der Rest der Glotzerbande schlagkräftig ins Geschehen eingreifen. In Mannis Bude lässt man ihm aber seine Ein-Mann-Show. Ist einfach besser, gerade für die eigenen Zähne. So billig kommt man mit Zurückhaltung davon. Die Wand entledigt sich weiterer Fotorahmen, als das Duo dagegenkracht. Mannis Vorteil ist ganz klar das Überraschungsmoment. Und so endet das gefeierte Gerangel, kaum dass es begonnen hat. Wie bei einem über Monate gehypten Mega-Box-Event fällt die Anspannung nach nur zwei Minuten glanzlos in Schockstarre zu Boden und hinterlässt ein enttäuschtes Publikum, das wie ein verzweifelter Penis nach stundenlangem Hoch-und-Runter nach einem phänomenalen Höhepunkt schreit und daher nach einem saftigen Nachschlag verlangt und völlig verständlich »Zugabe« skandiert. Ein Wunsch, der mir in den schlottrigen Knien abstirbt. Überaus erleichtert rolle ich mich seitlich vom Tisch. Während Manni den Fremdkörper unter Verwendung diverser reich ausgeschmückter Nettigkeiten über dessen Muttertier aus dem Laden jagt, suche ich mir einen mich stabilisierenden Barhocker als neuen Kurzzeit-Kumpel und sacke, an die bilderlose Wand gelehnt, nach und nach zusammen.

Irgendwie scheint die Musik wieder lauter zu sein. »Summer of ’69«! Der Bass aus den Lautsprechern über mir füllt mich bestens aus. Neunundsechzig!?! Ja, ’ne Neunundsechzig, das wär jetzt was, grinse ich still in mich hinein und erblicke mich selbst in einem der noch an der Wand baumelnden Spiegelsplitter.

»Mann, Henry …«, reiße ich mich wieder zurück. »Neunundsechzig! Dieses ganze Kopfgeficke! Du willst doch nur …«

Egal! Aber ehrlich, eigentlich habe ich von diesem ganzen Mist genug. Ich will mal endlich runterkommen, aber ich kann nicht. Mir bleibt einfach nicht genug Zeit.

»Auf dich, du alte Scheiße!«, proste ich erschöpft dem herzerweichend blassen Henry im Spiegelbild zu.

Was trinke ich da eigentlich, beginne ich mich zu fragen, als ich an meinem zerrissenen Hemdärmel herunterblicke und das gut gekühlte Glas in meiner Rechten sehe, an dem ein einsamer Tropfen Kondenswasser abwärts schlurft. Sieht nach Caipirinha aus, schmeckt aber nach Seife. Bestens, das Glas war also vorher sauber. Ich nippe zufrieden und kümmere mich nicht weiter darum, wer den Drink spendiert hat. Und ehe ich das teuer bezahlte Zeugs verkommen lasse!

Ich starre in die Leuchte über dem Billardtisch und verliere mich kurz im grellen Licht der Energiesparlampe. Plötzlich muss ich an sie denken. Delia. Ja, Delia. Weißer Strand. Alles ist so fern und doch so unvergessen. Ihr Lächeln, ihre Anwesenheit, sie war immer da, aber nie hier bei mir. Sie würde allein bei der bloßen Idee schon Panik-Herpes bekommen. Eine schmerzhaft verkrustete Patzlawwe von der nässenden Unterlippe bis zum Zehennagel des großen Onkels, und das nur, weil ja hinter jeder Ecke ein präzise organisiertes Mordkommando wartet, das mittels herrenloser Cocktails ahnungslose Provinzloser auslöscht. Qualvoll langsam, mit einer perversen Faszination am menschlichen Verfall. Ich bin nicht der Kopf einer ukrainischen Revolution und der russische Geheimdienst schleicht sicher momentan um spannendere Krisenherde herum. Ach Delia! Du kannst mir sowieso mal gepflegt am … was auch immer. Ich habe keine Lust, an sie auch nur einen weiteren Gedankensplitter zu verschwenden. Vom leichten Windzug der Lüftung angetrieben schwingt die Leuchte über dem Billardtisch hin und her. Während ich mit der Zunge um meine sich aufbäumend angeschwollene Unterlippe fahre, um kurz auszuschließen, dass die Herpeswelle nicht doch im Anmarsch ist, schaue ich erwartungsvoll zum Eingang herüber. Tacko ist noch immer nicht da und ich bin mir langsam nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch auftauchen wird. Tacko! Bester Freund, mein Mentor, das Tor zur Hölle, das Chaos als Widerspruch in sich selbst, ein Kerl, den es geben muss, weil es gut so ist, oder schlicht mein Coach. Ja, Coach würde gut passen, denke ich und schütte mir noch etwas unübersehbar schäumende Soap-Pirinha in den kratzig-trockenen Schlund. Unnachgiebig wummert der Bass auf meiner Brust. »Summer of ’69« aus der Konserve ist schon Geschichte und jetzt schreit sich der Typ von Kings of Leon seine Lyrics aus dem Hals. Billardkugeln schlagen an dem verblassten Tischteppich aneinander. Klack, klack-klack.

»Mann, der Club ist immer noch irgendwie … so voll Dorf!«, lästert nüchtern die Stimme eines übermäßig mit Haargel gelackten Motoradjackenträgers, der sich gerade neben mir aufgebaut hat.

»Mann, Tacko! Da bist du ja endlich«, entgegne ich erleichtert und doch zugleich sichtlich angepisst.

»Gehst du hier immer so her?«, fragt er mich grienend und zottelt an meinem zerrissenen Checker-Hemd herum. »Also, so kriegste die Chicks nicht. Und mit ’ner nassen Hose wird das sowieso nix mit den Mädels. Oder ist Messie-Look angesagt? Übrigens, Blutspende ist erst morgen, hier im Gemeindesaal, steht draußen dran, aber du kannst ja den Fetzen bei denen in den Briefkasten stopfen«, drückt er sich genüsslich zwischen den Beißerchen durch, begleitet von diesem unnachahmlich widerlichen und selbstüberschätzten Gewinnerlächeln. Mein Anblick des fleischgewordenen Jammers muss einfach zu verlockend sein.

»Danke, Tacko, mir geht’s blendend, wenn man mal davon absieht …«, mein Ton wird spürbar eindringlicher, »... dass ich hier grade voll auf die Fresse gekriegt habe. Und alles nur wegen deiner Scheißidee.«

 

Am Nebentisch lässt die Junggesellenabschiedsfeier den Broiler noch immer nicht aus der Mangel. Nein, jetzt gibt’s für alle im Club Wolle Petri, wie immer extended und gebrüllt. Wahnsinn! Sicher! Wahnsinn im Kochtopf. Und das zukünftige Ehe-Opfer im noch immer stilsicher sitzenden Hähnchenkostüm schwimmt mittendrin. Überall Farbflecken. Paintball! Sieht ganz schön bunt aus.

»Auf dich, Matze!«, feiert die Gerstensaft gesteuerte Testosteronhorde den bald Verheiraten, zur Treue Verdammten und damit offiziell zum Abschuss Freigegebenen am Nebentisch und stimmt dann mit ihm zusammen rülpsend ein.

»AUF JEDEN!«

Mein Lippenkostüm ist in dem aktuellen Schlauchbootformat noch immer preisverdächtig voluminös, was sich einfach völlig behindert anfühlt. »Blitz-Botox durch Fausteinschlag«. Schöne Schlagzeile! Wenn ich mich nicht gerade so anstrengen müsste, Fassung zu bewahren, ich würde auf der Stelle den Stift zücken und mich selbst zum nächsten Gaghöhenfeuerwerk ausweiden. Auf solche Stories hat die Bühne doch gewartet. Statt mich in der schriftstellerischen Produktionshalle vors Fließband zu schnallen, übt sich mein Gegner in unerreichter Motivation.

»Deine Deckung ist einfach miserabel, Henry!«, stochert Tacko in meinem Bottich aus definitiv verletztem Männerstolz herum und stupst meinen Oberarm mit seiner Bierflasche an. »Prost, du alte Hütte!«

Flasche gegen Flasche!

»Du mich auch!«, grinse ich so gut es geht zurück.

In diesem Moment bin ich dankbar, dass Clubs dieser Sorte nicht standardisiert mit Tageslichtlampen ausgestattet sind. Kaum jemand nimmt mehr Notiz von mir. Und der von mir eben noch als Behandlungsunterlage belegte Billardtisch wird von drei blutigen Anfängern mit Flaumbart beackert. Die sind vermutlich gerade mal fünfzehn und halten sich mit ihren Smartphones für schweinegeil. Dass die Dinger beim Spielen stören, ignorieren die gänzlich. Die suchen sicher eine App für die Spielregeln. Was’n Stress! Ich hatte in deren Alter lediglich einen gratis Flächenbrand an Pubertätspickeln – ein verdrängtes, unfreiwilliges Upgrade. Aber an jene Abende an der Sechs-Loch-Arena kann ich mich bestens erinnern. Da ist noch immer ein Gefühl, zwar schwach und leicht traurig, weil nur wir beide es sind, die noch nicht in die strahlende Zukunft jenseits der als touristisch idyllisch vermarkteten Landmasse an Mulde und Elbe geflohen sind. Während ich melancholisch ersaufe, begatten zwei der Irokesen den Tisch. Würde ich das nicht selbst mit meinen eigenen Augen sehen, ich würde es für vollkommen abwegig halten, dass so eine Aktion auch nur ansatzweise den Weg in ein Hirn findet. Der Dritte im Bund gibt mit seinem Smartphone den Starfotografen und lädt das soeben geschossene Billardtisch-Kamasutra hoch ins Netz. Dass beim Upload das Niveau so tief fallen kann! Das tut einfach weh! Prost!

Ein merkwürdig flaues Ziehen wandert plötzlich durch meinen Oberschenkel, versickert knapp unter meinen Schultern und hält gerade direkt über dem Halswirbel in meine Schädeldecke Einzug. Jetzt ist sie wieder ganz wach, die Kälte nach dem verräucherten Nachtsuff, dem Notlager auf Tackos Parkettboden und meinem Gang in Tackos Fitnesscenter am nächsten Tag. Mir blieben gerade mal jämmerliche sieben Tage und noch immer stiert mich der wichtigste Anstrich meiner inneren To-do-Liste eiskalt an: Freundin (wahlweise auch heißes Date; von mir aus auch Passantin von der Straße oder gar handgeschriebene Bleistift-Offerte vom Biete-Suche-Brett meiner Stammkaufhalle; Hauptsache: nicht allein!).

»Mann, Alter!«, reißt mich Tacko aus der Expedition ins Teenie-Reich von den Halbstarken in die muffige Kneipenaura am Tresen zurück. »Da biste einmal in der Muckibude weggekracht und machst jetzt ewig auf Memme.«

In seiner unnachahmlich unsensiblen Art steht mir Tacko bei.

»Keine Ahnung, was die dir da in den Shake gehauen haben, aber für so ’nen Trip muss ich in der Disse ordentlich was abdrücken.«

Mein »Ey, ich hatte ’nen Kreislaufkollaps, ich hätte abkacken können!« weckt kein Interesse mehr bei ihm. Gut, das hat er nun schon oft genug gehört. Und Klagelieder in Schiss-Moll werden durch Wiederholung einfach nicht chartverdächtiger. Leider sieht das mancher Radiosender mit den besten Hits der Achtziger, Neunziger und der bassverseuchten Discojaule heute anders. Aber was soll mein Gute-Laune-Kumpel auch anderes denken. Einer, der seit Jahren den höllischen Kern von Delia ausgemacht haben will und nun im Triumph seiner Prophezeiung noch der Exklusiv-Zeuge der Henry-Thomas-Home-alone-Story ist, einer Geschichte, nach der weder er und noch nicht mal ich gefragt hatte. Aber ich, Henry, bin nun mal die schillernde Hauptfigur. Ja, es ist meine Geschichte … ohne Besetzungscouch, in die ich völlig blind hineingeschlittert war. Eine Fußnote im Treiben meiner kleinen Welt, die rein gar nicht so gedacht war und irgendwie mit dem Rückflug aus Punta Cana ihren eisgekühlten Kamikazekurs genommen hat, um mich bis hierher auf den Erdboden zu schleudern. Es gibt Leute, bei denen passiert über Jahrzehnte rein gar nichts, die vegetieren einfach so nasebohrend und Bier vernichtend vor sich hin, bis mal das Schicksal freudig anklopft, worauf selbiges aber nur ein dumpfes »Wir koofen nüschts« kassiert. Ich dagegen habe wohl vor knappen zwei Wochen im Delia-Delirium mal zu heftig »Hier!« geschrien und werde seitdem von einem mittleren Fiasko zum nächsten Magentritt gescheucht. Und ich ahne, dass es das sicher noch nicht gewesen ist. Zwei Wochen, die ich hätte einfach versiffen sollen, die ich hätte gemütlich in Selbstmitleid ertrinken können, in meiner Altbaukammer – gut, ohne Möbel, aber das … oh, Mann, was hab ich mir hier nur eingefangen? Ach Kacke! Das fing alles schon so exzellent scheiße an, so scheiße wie der unbekannte Drink in meiner Hand.

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